Ein halb versunkener Hund

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Z serii: Lindemanns #226
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Lude konnte sich nach seinem Erwachen an nichts mehr erinnern, sagte aber, er fühle sich zerschlagen, weil er die ganze Nacht nackt im Wald an einem Lagerfeuer gesessen und gesoffen habe. Ludmilla ahnte, dass da etwas stimmen könnte, sagte: Hüülu! Hüülu! Schlimmer Mann!

Dann ging man daran, das Atelier und den Mann zu renovieren. Das Atelier wurde völlig ausgeräumt, alle noch erhaltenen Malutensilien fortgeschlossen, alles weiß gestrichen, nur Tisch und Stuhl belassen.

Die Renovierung, das heißt die Reinigung des Mannes, gestaltete sich schwieriger.

Er selber tat nichts dazu, ließ niemanden an sich heran und verkrustete immer mehr. Aber Ludmilla fand auch hier einen Weg. Sie war einfach da und wohldosiert um ihn herum, streichelte ihn wie zufällig und flüchtig, sang leise polnische Kinderlieder vor sich hin, brachte ihm Leckereien – Ofenschlupfer mochte er besonders –, lächelte ihn steinerweichend an und löste so langsam des Malers Abwehr und Starre. Als sie ihn dann zum ersten Mal wieder, wie immer nackt, mitten in seinem weiß getünchten leeren Atelier sitzen sah, klatschte sie in die Hände, lachte laut heraus: Scheener bunter Mann in weißem Zimmer! Und tanzte trällernd um ihn herum. Da musste nun endlich auch Lude grinsen, streckte ihr den Arm entgegen und sagte ruhig: Mach den Hülu sauber. Das freilich war eine Sisyphusarbeit. Zuerst mussten die verklebten Haare runter; Kopf, Brust, Achseln, Scham, Beine (wie früher in den Lagern), wobei der robuste Elektroscherer mehrmals versagte. Dann wurde die Haut Zentimeter für Zentimeter mit Seife, heißem Wasser, Öl, Terpentin oder Verdünner gereinigt und zwischendurch mit Kortisoncreme beruhigt. Übrig blieben die sensibelsten Gegenden: die Augenumgebung und das Genitale. Am tollsten sah es unten herum aus. So, als habe der Maler sein Glied geradezu als Pflug benutzt, war die ganze Region blau, schwarz und weiß verklumpt und nun auch eingetrocknet. Anblick und Aufgabe, vor denen mancher verzweifelt wäre. Trällernd und mit zupackender Sanftheit ging Ludmilla zu Werk: Missen wir Schneegläckchen suchen!

An seine Nacktheit und dass seit Tagen an ihm herumgeschrubbt wurde, hatte sich der Maler längst gewöhnt, genoss vielleicht auch, der Einsame, die Berührungen und dass die Spuren seines Höllenrittes – so nannte er schließlich das, wovon er sehr undeutliche und wechselnde Erinnerungsfetzen besaß – von ihm genommen wurden. So stieß Ludmilla auch auf eine Tätowierung an seinem rechten Gesäß, die einen Schwan darstellte. Scheenes Arschvogelchen, sagte sie lachend.

Sie ging schon behutsam vor, musste aber andererseits in alle Falten und Winkel gelangen und auch hier mit Nachdruck wischen und reiben. Kein Wunder, dass nach einiger Zeit Ludes Organ wuchs und sich aufstellte.

Danke scheen, sagte Ludmilla ungerührt, kann man besser putzen.

Lude Frey war offensichtlich überrascht und irritiert, riss die Augen auf, zitterte, quiekte ein wenig und hatte dann mehrere Ejakulationen, die weit ins Zimmer flogen. Dann packte er Ludmillas schwarzen Wuschelkopf und küsste sie auf den Scheitel.

Auch diesen kleinen Zwischenfall, für den es keine Zeugen gab, lachte Ludmilla ohne Weiteres beiseite, wusch und wischte weiter, aber als sie endlich fertig war und der Maler sauber und rosa glänzend in frischen Kleidern steckte, umarmten sie sich und Lude sagte: danke.

Mit dieser Großtat hatte sich Ludmilla Hochachtung bei allen Angestellten von Schloss Fürstenau erworben und galt fortan als Spezialistin in Sachen Lude Frey. Besonders Direktor Ströhle war froh, seinen Maler wieder friedlich und hergestellt zurückzuhaben, denn er hatte seine Pläne mit ihm beileibe nicht aufgegeben. So rannte Ludmilla denn auch offene Türen bei ihm ein, als sie es nicht mehr mit ansehen konnte, dass ihr Hülu immer öfter stumm und traurig auf dem Stuhl inmitten seines weißen, leeren Ateliers saß, weil man es irgendwie nicht wagte, ihn wieder mit Malmaterial zu versorgen. Die Mordssauerei war allen noch gegenwärtig. Listig bat sie Ströhle nur um Blei und Buntstifte, Aquarellfarben und Zeichenpapier – hiermit sei ja wohl kein größeres Unheil anzurichten – und erhielt sie.

Als sie die Sachen vor den Maler auf den Tisch legte und wie zu einem Kind säuselte: Hülu scheene Bilderchen malen, Blimchen, Hindchen, sagte dieser zwar artig „Danke“, schickte aber ein unmissverständliches „Halts Maul“ hinterher.

Es brachen glückliche Zeiten an.

Lude und Ludmilla waren kein Paar. Trotz des Anblicks, den sie boten, wenn sie beide untergehakt um Schloss Fürstenau herum spazieren gingen und die Mütter tuschelten; die haben bestimmt was miteinander!

Ludmilla kümmerte sich wie vorher um den Maler, saß nachmittags, wenn er im Atelier arbeitete, im Nebenzimmer, las, strickte, räumte auf, brachte ihm zu essen und zu trinken und sagte ihm, wenn es Zeit war ins Bett zu gehen. Nur dachte sie jetzt, trotz aller Lacherei, die nicht nur etwas Äußerliches war, sondern sich tief in ihr als eine Art Verweigerung fortsetzte, öfter über den armen Mann nach und blieb auch manches Mal länger neben dem Maler stehen und betrachtete seine Arbeiten, die er ihr jetzt auch manchmal hinhielt und ohne viele Worte auf Einzelheiten zeigte. Das Reinigungsspiel wiederholte sich nicht, auch keine Küsse und – bis auf ihr „Hülu“, zusammengesetzt aus Hyazinth und Ludger – keine Koseworte. Allenfalls Verständigung durch Blicke, kleine, keineswegs zufällig Berührungen, das Unterhaken, das Selbstverständnis des Beisammenseins. Sie waren kein Paar, aber es hatte sich ein feines Band zwischen den beiden gebildet. Das einzige Band übrigens, das den Maler hielt.

Ströhle war begeistert. Denn was sein Maler jetzt zeichnete und aquarellierte, war in seinen Augen genau das Gegenteil von dem, was Lude Frey bisher gemacht hatte. Keine massiven, eruptiven Farborgien, kein kiloweiser Farbauftrag, der Figuren und Gegenstände geradezu reliefartig hervortreten ließ, keine kaum zu bewegenden Riesenformate, sondern kleine, selten einmal DIN A 4 überschreitende Blätter mit ruhig gesetzten Linien und geduldig ausgeführten Formen und mit eindeutigen und auch zarten, unverquirlten Farbflächen, denen ein Eigenleben zugestanden wurde. Plötzlich schien der Farbenberserker auch eine empfindsame Seite zu haben und diese zu zeigen.

Sah man sich aber die Blätter genauer an, so war in kaum abgemilderter Form das ganze bisherige Vokabular des Malers doch wiederzufinden: abstürzende Wiesen, umkippende Automobile, dünne nackte Mädchen, zerfetzte Bäume, großäugige Gnome, fletschende Geisterwesen, Schwänze und Füchse, die durch die Luft gewirbelt wurden oder vor Mösen kauerten wie vor ihren Höhlen. Aber eben alles mit spitzem Pinsel, dünnem Stift, unaufgeregt und fein, aber unerbittlich hingesetzt und nur selten erinnerten eine jäh aus einem Gesicht fahrende Zunge oder ein überlanger Arm, dessen Hand sich in den Bildrand krallte, an den früheren Furor.

Tief durchatmend bemerkte Ströhle, dass sich der ganze Aufwand mit dem Kerl doch gelohnt hatte und sein Maler nun eine andere Stufe seiner Genialität, an der er, Ströhle, schon fast verzweifelt war, erlangt hatte. So verstärkte er seine Bemühungen, den Maler Lude Frey zu Ehren von Schloss Fürstenau und seiner ebenso humanen wie fortschrittlichen Leitung groß herauszubringen. Unter Ludmillas fürsorglicher Aufsicht bekam der Maler alle seine Sachen wieder, beendete vorerst die moderaten Arbeiten auf Papier und kehrte mit sichtbarer Freude, großem Gestus und entsprechender Lautstärke zu seinen Leinwänden zurück. Man kannte das ja jetzt, aber wer mochte wissen, ob nicht das Ganze plötzlich wieder ausufern und überschnappen würde. Und so eilten die Verantwortlichen regelmäßig herbei, wenn der Rumor hinter der Tür massiv anschwoll.

Die Hausmutter, die Flurmutter, die dann immer eine starke Einmalspritze dabei hatte, der Schlossvater und der Vogt. Wenn das Gebrüll, Gegröhl, Gepfeife, das Klatschen, Knistern, Poltern, Krachen und Schlagen überhandnahmen, standen sie dann stumm geduckt, wie sprungbereit vor der Tür. Und nur der Vogt knurrte ungehalten manchmal Sätze wie: Der wird noch seine Farben fressen und sie dann wieder auf die Leinwände ausscheißen!

Wenn er im Haus war, gesellte sich auch Doktor Liebrecht kopfschüttelnd zu ihnen.

Bisher hatten sie nicht eingreifen müssen, denn es war ausgemacht, dass Ludmilla erst aus dem Nebenzimmer herauskommen sollte, wenn sie Hilfe brauchte. Aber sie kam nicht.

So hatte sich in Sorge um den schwierigen Mann ein Quartett gebildet, das sich durch den Doktor und Ludmilla zum Sextett vergrößerte. Zur Förderung seiner Pläne schlug Ströhle vor, dass diese sechs einen Verein zum Schutz des Künstlers gründen sollten. Und so geschah es.

Schlossvater Direktor Hans Ströhle hatte bereits eine Pflegschaft über Ludger Hyazinth von Freyenfeld übernommen. Und zwar Personen und Vermögenspflegschaft.

Der Vater Anton von Freyenfeld, ein Wäschereibesitzer, und die Mutter Antonia, geborene Schielharke, waren heilfroh gewesen, die Verantwortung für ihren wildkranken Buben loszuwerden, als Ströhle ihnen das vorgeschlagen hatte.

Jetzt hatte er ihn endgültig in der Hand.

In der Meinung, Lude Frey würde das in seiner rauschhaften Malwelt alles wohl nicht so recht durchschauen, versuchten sie trotzdem ihm die Lage zu erklären. Der hörte zu, sagte nichts, aber hatte irgendwie das Gefühl, eine Schlinge würde sich langsam um seinen Hals zusammenziehen.

2

Über Herkunft und Geburt anno neunzehnhundertachtundsechzig des Ludger Hyazinth von Freyenfeld, der sich später Hans Freyenfeld nennt.

Sie konnte sich nicht daran erinnern. Aber irgendetwas musste gewesen sein. Als es dann geschah, war sie völlig überrascht, außer sich und angeekelt. Auch der eigene Mann wollte nichts davon gemerkt haben. Wie immer man sich das vorstellen soll.

 

Antonia Schielharke war ein affektiertes, hochnäsiges Mädchen gewesen. Sie hatte unter ihrem Namen gelitten wie ein Hund und wenn sie sich schon einmal irgendwo vorstellen musste, sagte sie entweder mit gespielter Lässigkeit „ich bin die Anton“, oder, wenn es gar nicht anders ging, von oben herab „Antonia Schy mit Üpsilon“. Natürlich kannten alle ihre Mitschüler ihren richtigen Namen und hänselten sie ständig damit. Sie war das einzige Kind ihrer Eltern und wurde von diesen nach Strich und Faden verwöhnt. Doch auf die Idee, etwas an ihrem Namen zu ändern, waren sie nie gekommen. Antonia sah weder besonders hübsch noch besonders hässlich aus, eher etwas nuselig.

Mittelgroß, brünett, flachbusig und flachgesichtig.

Noch vor der Pubertät hatte der Vater sie mehrfach und eindeutig unsittlich angefasst. Davon war ihr etwas geblieben. Ihr erster Freund hieß Schätzle. Das war wenigstens besser als Schielharke. Von ihm ließ sie sich in der irrigen Annahme, der Sechzehnjährige würde die Fünfzehnjährige sofort danach heiraten, lustlos entjungfern.

Mit siebzehn warf sie sich, entzückt von dessen Namen, dem dreizehn Jahre älteren Anton von Freyenfeld an die Brust. Der hatte zwar kein Schloss, sondern nur eine kleine Wäscherei und roch nach Lauge, aber der Name war alles. Der ledige, durchaus honorige, wenn auch etwas einfältige Mann fühlte sich durch das jugendliche Alter seiner Freundin geschmeichelt und stimmte rasch in ihr Liebesgeflüster mit ein. Zwar fühlte er sich weit mehr zu Männern hingezogen, aber fürs Renommee, das Geschäft und als Tarnung wäre eine Frau schon recht. Die Bedenken der Eltern konnten sie durch den Hinweis auf ihre gleichlautenden Vornamen – Anton und Antonia, was sie als Zeichen des Himmels für ihre Zusammengehörigkeit deuteten –, die Beteuerung ihrer inständigen Liebe, die Vorlage der Belege, die ihn als ausreichend wohlhabende Partie auswiesen, und das Geschenk eines Dauerabonnements für die kostenlose Reinigung aller Wäschestücke der künftigen Schwiegereltern, nach einigem Hin und Her zerstreuen.

Nach der Hochzeit fing die eingebildete Göre sogleich an, dem Herrn „von“ auf der Nase herumzutanzen. Sie lehnte es empört ab, ihm in der Wäscherei, diesem „stinkigen Laden“, zu helfen, war sich zu fein für die Hausarbeit, verweigerte sich auch dem kaum fordernden Mann im Bett und verlangte ein eigenes Zimmer.

Sie bekam es, richtete es ein wie eine schrille karnevalistische Räuberhöhle, in der es nach Räucherstäbchen, abgestandenem Zigarettenqualm, kokelndem Heu und Alkohol roch und einige Dutzend bunte Glühbirnen ständig an und ausgingen. Auch sie selbst wurde immer kapriziöser. Sie kleidete sich überkandidelt von elegant bis poppig, trug schließlich vorzugsweise wallende Gewänder, malte sich grellrote Lippen und Schatten um die Augen, färbte sich grüne Strähnen ins Haar und trug neben riesigen Ohrringen einen großen angeklebten Glasdiamanten auf dem linken Nasenflügel. Alles in allem für Ende der sechziger Jahre noch ein sehr ungewöhnlicher Anblick, auf den die Leute empört und kopfschüttelnd, seltener lächelnd reagierten.

Auch die jungen Leute, die sie um sich versammelte und in ihr Reich einlud, sahen alle etwas schräg aus – Künschtler und Fillosofe, wie sie verkündete –, aber sie waren friedlich. Pöbelten nicht, lärmten nicht übermäßig, beugten sich dem arroganten, aber großzügigen Regime ihrer Königin, bekamen immer etwas zu trinken und bedankten sich dafür mit ihren Lebensweisheiten. Hochgestochenes Geschwätz zumeist, aber auch richtig gute Geschichten, die Antonia begierig aufnahm.

Ihr Mann, den sie mit abfällig kieksender Stimme „Dagobert“ nannte, betrachtete das alles mit einem Staunen, das sich langsam in ein gewisses Wohlwollen wandelte. Als sich herausstellte, dass dieser bunte Haufen, der seine Wohnung, sein Geschäft und die Umgebung bevölkerte, offensichtlich harmlos war, quasi nur Farbe in die Gegend brachte und den Kunden etwas zum Reden oder auch Maulzerreißen gab, steigerte das sogar die Attraktivität der Wäscherei. Die Leute kamen um zu gucken, und brachten gleich ihre Wäsche mit. Und da auch dieser Hofstaat seiner Frau seine Klamotten bei ihm reinigen ließ, stieg sein Umsatz.

So konnte er sich bald eine Hilfe leisten, Hugo, einen jungen hübschen Mann, der ihm zur Hand ging und sich auch sonst um ihn kümmerte. Bald liebte er diesen schönen Hugo wirklich und konnte nicht mehr ohne ihn sein.

Es begannen ein paar schöne Monate und Anton von Freyenfeld dachte, dass die Heirat mit diesem verrückten Huhn Antonia ihm alles in allem doch mehr Vor als Nachteile eingebracht hatte. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass man immer wieder einmal einen bleichen, wie leblosen Menschen aus dem Reich seiner Frau herausschaffen musste, der dann fortgefahren wurde und nicht wieder auftauchte. Auch Antonia selbst schien immer mehr abzuheben, sprach mit sich selbst, rezitierte Gedichtzeilen, las einfach gestrickte esoterische Schriften und ebensolche Heiligenlegenden.

Der Schock war beträchtlich, die Idylle wurde brüchig, plötzlich tat sich ein Riss auf, der sich nicht wieder schließen sollte.

Wie man es später auch drehte und wendete, es war nie restlos zu klären. Vom Fremdgehen über massives Verdrängen bis hin zur Parthenogenese wurde alles erwogen. Besonders die Parthenogenese gefiel Antonia lange Zeit. Schon sah sie sich in der Rolle der Jungfrau Maria.

Übrig blieb von alledem nach einigen Rechenübungen mit größerer Wahrscheinlichkeit, dass die Befruchtung schon in der Hochzeitsnacht stattgefunden haben musste und dass die beiderseitige retrograde Amnesie auf die zuvor genossenen Unmengen von Krimsekt, Katzenstriegel-Weißwein und Jägermeister zurückzuführen war. Schleierhaft, warum die junge Frau nichts von der Schwangerschaft gewusst haben will, obgleich solche psychogenen Ausblendungen der Wirklichkeit beschrieben worden sind. Anton von Freyenfeld hatte seine in ihre Kostümierungen gehüllte Frau immer nur flüchtig gesehen und war im Übrigen mit seinem Hugo beschäftigt.

Als er am Morgen des sechsundzwanzigsten März neunzehnhundertachtundsechzig ihre Schreie hörte, dachte er sich zunächst nichts Besonderes. Er war es ja gewohnt, dass es gelegentlich in seiner Wohnung ein wenig krachte, jodelte oder quietschte. Aber als das Geschrei nicht aufhörte, stieg er doch mit mäßiger Eile von seinem Geschäft nach oben.

Je näher er der geschlossenen Badezimmertür kam, desto elender wurden die Schreie dahinter und Anton von Freyenfeld dämmerte es, dass wirklich etwas passiert sein musste. Er riss die Tür auf.

Seine Frau stand breitbeinig gekrümmt, völlig aufgelöst und wie von Sinnen über der Toilettenschüssel. Ihre Haare standen ihr verwühlt vom Kopf, das Gesicht war fahl, schweißgebadet und mit schwarzer Tusche verschmiert, die Augen entsetzt geweitet und der Mund mit den grellroten Lippen aufgerissen. Ihr weißes Nachthemd war durchnässt, von großen Blutflecken bedeckt und halb mit einer Hand bis zum Bauch hochgezogen. In der anderen Hand hielt sie ein langes, dickes, glitschiges Band, das aus ihrem Unterleib zu quellen schien. Auch um das Klo herum war eine Blutlache. Irgendwo wimmerte es.

Ein Verbrechen, dachte Anton von Freyenfeld. Ihm wurde schwindelig und er rutschte die gekachelte Wand herunter. Er war nur Sekunden weg. Dann musste er sich übergeben, was ihn wieder zu sich brachte.

Hilf mir, du Idiot. Ein Baby!, schrie Antonia.

Wie vom Donner gerührt, robbte der Wäschereibesitzer heran, griff auf den Knien liegend irgendwie in die Toilettenschüssel, hob ein weiß verschmiertes Etwas heraus, das mit dem glitschigen Band aus Antonias Bauch verbunden war, und legte es auf die Fliesen mitten hinein in die blutige Lache, wo das Etwas sogleich anfing kräftig zu schreien. Automatisch griff der Mann nach der Nabelschnur, presste sie zusammen und zog daran.

Telefon!, fauchte die Frau, die aus ihrer halb stehenden Haltung zu Boden gerutscht war und mit gespreizten Beinen, zwischen denen das Blut heraussickerte, an der Wand lehnte. Das Telefon war in Reichweite, weil Antonia sich gerne, in der Badewanne sitzend, stundenlang mit ihren Anhängern unterhielt. Der Mann wählte zitternd den Notruf. Und schrie, als seine gestammelten Worte nicht recht verstanden wurden: Verdammt! Ich habe hier eine Nabelschnur in der Hand!

Dann warteten sie hilflos und bewegungsunfähig in dem ganzen Tohuwabohu. Es war kalt. Das Kind schrie auf den Fliesen. Ein Bild, das wahrhaftig eher an Mord und Totschlag denken ließ als an eine Geburt.

Eine Sturzgeburt, Partus praecipitatus, ist eine extrem schnelle Niederkunft, der manchmal nur eine einzige, allerdings übermäßig starke Presswehe vorausgeht. Diese Wehe wird von geistig schwachen oder psychisch gestörten Frauen, die gar nicht wahrhaben wollen, dass sie schwanger sind, oft als heftiger Stuhldrang missdeutet. Das Kind stürzt dann zu Boden oder in die Toilettenschüssel, wo es sich durchaus Hirnverletzungen oder anderes zuziehen kann. Zumal die Mutter in solcher unvorhergesehenen Situation meistens völlig hilflos, ja mitunter wie paralysiert ist. Antonias Baby hätte auch ertrinken können, weil die Wohnung über der Wäscherei schon ein so angeblich fortschrittliches Toilettensystem besaß, bei dem das „G’schäftle“, wie man hier sagt, direkt ins Wasser fällt und nicht erst auf einem Zwischenboden landet, wo es begutachtet werden kann auf ungewöhnliche Beimischungen hin wie Blut, Würmer oder verschluckte Gegenstände. Damit ähnelten diese modernen Toiletten eher den uralten Plumpsklos, in deren finsteren Tiefen auch allerhand Sachen wie Hakenkreuze, Faustfeuerwaffen, Giftampullen oder Föten auf Nimmerwiedersehen verschwinden konnten. Antonias Baby ertrank nicht. Es war ein kräftiger Junge. Sein Kopf steckte zwar schon im Wasser, aber nicht bis zur Nase oder gar dem Mund.

Sie gab ihm den Namen Ludger. Eher zufällig, weil der sechsundzwanzigste März der Namenstag des Heiligen war, wie es im Kalender stand. Sie fand ihn aber auch extravagant und passend zum „von“ – Ludger von Freyenfeld – und war sogar entzückt, als sie las, dass diesem Heiligen ein Schwan gedient haben soll. Möglicherweise war das legendäre Federvieh auch nur eine Gans auf seinem Bauernhof gewesen oder es bezog sich auf die Wildgänse, die der heilige Ludger in seinem Missionsgebiet ausgerottet haben soll.

Später wollte Antonia dem heilig-nüchternen Namen ihres Sohnes doch noch etwas Blumiges hinzufügen und stieß auf „Hyazinth“, nicht wissend, dass sich hinter diesem Namen eine Liebestragödie verbarg. Jedenfalls wurden Schwäne Ludgers Wappentiere. Sie bevölkerten sein Bett, seine Kleidungsstücke, seine Lätzchen. Als junger Mann ließ er sich sogar einen kleinen Schwan auf seine rechte Gesäßbacke tätowieren.

Antonia änderte ihr Leben in keiner Weise, streunte, trank, rauchte, hielt in ihrer kitschigen Märchenhöhle Hof, schleifte den kleinen Ludger, bunt und auffällig gekleidet, gleichsam als Anhängsel oder Fortsetzung ihrer selbst in einem fransigen Umhängetuch mit sich herum. Und wenn das Kind schrie, stopfte sie ihm ein likörgetränktes Mohnsäckchen in den Mund, was den Kleinen vor Wonne sofort verstummen ließ. „Altes Hausmittel“, hatte einer ihrer Klugscheißer gesagt.

Das alles fiel gar nicht besonders auf. Es war viel los in dieser Zeit. Und auf den Straßen tobten die Studenten.

3

Leben und Sterben der Johanna Sidonie Bächler, in der Ludger eine Schwester findet.

Ludger kannte sie. Kannte ihr Leben, ihr Schicksal und ihre Malerei, die ihn magisch angezogen hatten. Aber er kannte sie nicht selbst, denn sie war neunzehnhundertvierzig – achtundzwanzig Jahre vor seiner eigenen Geburt – ermordet worden. Mit Kohlenmonoxid. Zusammengepresst mit anderen Menschen in einem engen, kahlen, länglichen Kellerraum, der ein kleines hoch liegendes, unerreichbares Fenster besaß.

Er hatte sich vorgestellt, wie sie da nackt zwischen nackten Leibern klemmte, genau wusste, was geschah, längst gebrochen war und den Tod ersehnte. Wie sie mit einem verächtlichen Grinsen zu dem matten Lichtschein heraufsah und im Stehen erstickte.

War da Bewegung? Gewimmer, Geschrei, Rufe nach Gott, obszöne Flüche, Umsichschlagen, Panik?

Ludger hatte sich das so oft vorgestellt, bis es in seinen Träumen tatsächlich geschah. Bis er meinte, sich in diese Frau zu verwandeln, nackt eingeklemmt zu sein zwischen nackten Leibern und zwanzig Minuten lang ermordet, zu Tode gefoltert zu werden. Wut und Entsetzen blieben in ihm nach solchen Träumen, wurden zum Grund seines eigenen Malens.

Er war schon früh, vor der Akademie, auf diese Johanna Sidonie Bächler gestoßen, war von der rücksichtslosen Dramatik ihres Malens, rücksichtslos auch gegen sich selbst, und ihrem ätzenden Realismus ergriffen und auf dem eigenen Weg bestärkt worden. Erst später hatte er Näheres von der „Verrückten“ erfahren und von ihrem Ende im Keller der Heil und Pflegeanstalt im sächsischen Glückstein. Von da an nannte er sie seine Schwester und signierte manchmal in Anfällen schwärzester Traurigkeit eigene Bilder mit ihren Initialen: Jott-Ess-Be.

 

Johanna B. wurde pünktlich zu Beginn dieses katastrophalen zwanzigsten Jahrhunderts in der Nähe von Meißen geboren. Der Vater Lehrer, die Mutter Hausfrau. Eine Ehe, die weder Tugenden noch Todsünden kannte, geprägt war von Gleichgültigkeit, Langeweile und der völligen Abwesenheit von Liebe.

Ein unauffälliges Paar, das sich sonntagnachmittags herausputzte und mit der Tochter im Park spazieren ging. Allerdings auf etwas abseits gelegenen Wegen, denn die Tochter war von klein auf eine „wahre Teufelin“, wie sich der Vater nur halb scherzhaft ausdrückte. Sie riss sich los, warf sich hin, fiel irgendwo hinein, was öffentlich mit lächelnder Geduld und hinter der Wohnungstür mit grimmiger Prügelei beantwortet wurde.

Mit siebzehn lief sie von zu Hause fort, kleidete sich männlich, war in Frack und Zylinder, Pfeife rauchend in den Straßen zu sehen und nannte sich John.

Die ist verrückt, sagte der Vater und brach mit ihr.

Dafür bekam sie Kontakt mit der Nachkriegsboheme. Manche von ihnen mit heute berühmten Namen. Sie malte, feierte rauschhaft, wurde mit ihrem wilden Temperament akzeptiert, liebte Dada und ließ sich in Mary-Wigman-Posen fotografieren. Schon entwurzelt, schon auf dem Abflug, ohne es zu wissen. Mit einundzwanzig heiratete sie einen Luftikus, der ihr mühsam als Postkartenmalerin verdientes Geld zum Fenster hinauswarf und sie nach Strich und Faden betrog.

Es folgten Fehlgeburten und Abtreibungen. Eine erste Grenze des Aushaltbaren wurde überschritten.

Aber sie malte verbissen weiter, wurde immer besser, malte furiose Aquarelle von Außenseiterexistenzen und von sich selbst.

Mit neunundzwanzig der erste Zusammenbruch, die erste Einweisung. Mit Fragezeichen die ersten Diagnosen: Schizophrenie, transitorische Psychose einer Instabilen. Die eine vermutlich falsch, die andere vermutlich richtig. Die vermutlich falsche würde ihr Schicksal bestimmen. Nach der Besserung hatte sie als Künstlerin zunehmend Erfolge, wurde sogar gefeiert.

Aber sie war verändert, kroch in sich selbst zurück.

Sie verließ die Freunde, die Freunde verließen sie. Johanna Sidonie B. vereinsamte, hatte zwielichtigen Umgang in Spelunken und im Rotlichtmilieu, wurde schlafend auf Parkbänken und in Wartesälen aufgefunden. Mit zweiunddreißig strandete sie wieder im Elternhaus – verkommen, ratlos, zerrissen. Die grandiosen Selbstbildnisse aus dieser Zeit sind erschreckend, voller Ausweglosigkeit, Entsetzen und schon Resignation.

Ein Jahr später ließ sie der Vater in die geschlossene Abteilung der Heil und Pflegeanstalt Glückstein einweisen. Der Anfang vom Ende im Gaskeller. Die Nationalsozialisten waren eben an der Macht.

Zunächst entstanden dort unter erschwerten Bedingungen

noch staunenswerte perfekte Zeichnungen, viele von ihnen waren Studien von Mitpatientinnen.

Dann die letzten Schläge mit fünfunddreißig: Scheidung, Entmündigung, Zwangssterilisierung. Briefe, flehentliche Hilferufe drangen nach draußen, die einem noch heute, wenn man sie liest, die Tränen in die Augen treiben. Und die sogar den steinharten Vater erweichten, der plötzlich bei Ärzten und Behörden um seine Tochter zu kämpfen begann. Zu spät und vergeblich. Sogar an Adolf Hitler soll er geschrieben haben. Johanna B. durfte nicht mehr leben und konnte es auch nicht mehr. Malte nicht mehr, vegetierte dem Tod entgegen. Fünf Monate vor dem Ende die letzte Postkarte an die Mutter. Sauber gemaltes, konventionelles Blumenbild, die Schrift wie gedruckt – „es wird schon alles wieder gut werden“ –, die Anschrift sicher und schwungvoll.

Neunzehnhundertvierzig, mit vierzig Jahren, wurde sie im Zuge der T4-Aktion zur Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens ermordet.

Der Bruder Attila Bächler hütete die Bilder und Zeichnungen seiner Schwester, die heute ihren festen Platz in der Geschichte der Malerei haben. Als der zwanzigjährige Hans Freyenfeld ihn neunzehnhundertachtundachtzig aufsuchen wollte, war er kurz zuvor gestorben.

Die beiden leitenden Ärzte der Heil und Pflegeanstalt Glückstein wurden neunzehnhundertsiebenundvierzig hingerichtet.

Johanna B.s Eltern erlebten das nicht mehr. Sie waren schon neunzehnhundertsechsundvierzig, fassungslos über ihr Dasein, aus dem Leben geschieden.

4

Im Winter neunzehnhundertvierzig fahren graue Omnibusse nach Schloss Fürstenau.

Achtzehnter Januar neunzehnhundertvierzig. Die ersten Busse kamen.

Gerade begonnen das zweite Jahr des Weltkriegs. Der war hier oben noch fern. Nur die Jungen waren weg. Sehr selten kamen Nachrichten von Gefallenen. Die schlugen dann wie verirrte Granaten durch die Dächer in die Stuben und sengten Löcher in den Glauben an Gottes Willen.

Überall die Skelette der Bäume. Als sei ein Entlaubungsgift auf sie heruntergerieselt. Und hätte sie bis in die letzten Verästelungen hinein überzogen mit einer dünnen, weißen, blitzenden Schicht. Als seien sie zu splitternden Glasgebilden geworden. Ein weißer Kristallwald jenseits von Blüte und Frucht. Oder gemacht wie aus feinst geschliffenem Stacheldraht.

Auch die Hänge, Äcker und Wiesen lagen unter diesem durchsichtigen Weiß. Der Himmel blassblau, die Sonne wie ein Scheinwerfer.

Ein Bild wie aus einer anderen Welt, schön und abgestorben. Ein schöner Tod, könnte man meinen, wenn man nicht hängen würde an all den Auferstehungen, Hoffnungen, Rettungen im letzten Augenblick.

Verwundert sahen die Mütter und Greise den ersten grauen Fahrzeugen nach, die laut und zielstrebig durch die Kleinstädte und Dörfer schnitten. Man hatte sie kaum je zuvor gesehen hier oben, die großen Busse. Und wenn überhaupt, dann waren sie noch rot und von der Reichspost und geradezu fröhlich gewesen. Jetzt hatten sie eine dunkelgraue Tarnfarbe, zogen unaufhaltsam dahin, als wollten sie nicht gesehen werden, möglichst schnell wieder verschwinden, vielleicht in der Erde versinken.

Von da an kamen sie wöchentlich und öfter. Wie bald auch die Todesnachrichten aus dem Feld.

Sie rissen Spalten in die Luft, die sich hinter ihnen nicht sogleich wieder schließen wollten, brachen Schneisen in den Wald, ließen Rehe sich niederwerfen und Füchse erstarren, unfähig zu fliehen. Zermatschten die dünne weiße Schicht auf den einsamen Straßen.

Es war kälter hier oben als sonst im Land und der Wind pfiff ungehindert eisig. Die Leute waren wortkarg und gebeugt von den Mühsalen des Lebens. Viel gaben die steinigen Äcker nicht her. Das war immer so gewesen. Jetzt war manches anders geworden. Zuerst hatte die nationalsozialistische Bewegung Hoffnung auf Besserung in die verstreuten Dörfer und Weiler gebracht. Doch die um sich greifende Bespitzelung, das anschwellende Lärmen auf dem Truppenübungsplatz, die Einberufung der Männer, der Kriegsausbruch, die Gefallenen für Führer, Volk und Vaterland machten alles wieder zunichte und schlimmer. Und die erbärmlichsten Typen unter den Leuten traten jetzt knallig auf und führten das große Wort.

Auch das Schloss, das, auf dem Sockel einer mittelalterlichen Wehranlage stehend, seit Jahrhunderten über den Wald ins Land sah, hatte sich verändert. Es war immer das Herzstück gewesen in dieser dünn besiedelten, mit Wiesen und Waldstücken dahinwellenden Hochlandschaft. Ein Jagdschloss wie vom Himmel gefallen, um das sich Legenden von Herzögen, adligen Damen und rauschenden Festen rankten. Und auf das die Leute der Gegend schon ein wenig stolz waren.

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