Basaltbrocken

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Oft, wenn der Frühaufsteher Johannes an warmen Sommermorgen, die eigentlich noch gar nicht richtig hereingebrochen waren, die Kühe einspannte und aufs Kartoffel- oder Runkelrübenfeld fuhr, um die Pflanzen vom Unkraut zu befreien – er meinte immer ihre Freude darüber zu spüren, daß er ihnen so beim Wachsen half – dann vergaß er manchmal für einen kurzen Augenblick all das, was zur Zeit in der Welt vorsichging, genoß es, die frische, vom Tau noch feuchte Luft in die Lungen zu saugen, sah den Rehen zu, die am Waldrand ästen und sich nicht im geringsten an dem in der Ferne vorüberfahrenden Wagen störten, beobachtete manchen Fuchs, wie er nach einem Raubzug in seine Höhle schlich – einmal hatte er sogar einen Dachs beim Mausen gesehen – und ließ, wenn er spürte, daß es ihm trotz dieser Idylle nicht ganz gelingen wollte, die dunklen Wolken zu vertreiben, die momentan Zeit anscheinend sein ganzes Denken fest in ihrem Griff hatten, seine Gedanken einfach in die Vergangenheit schweifen, um sich hier die Zuversicht zu holen, die er heute oft nur vorgab zu besitzen: Er war schon ein ehrgeiziger Junge gewesen, damals, mit seinen vierzehn Jahren, als er begonnen hatte, Geld zu verdienen. Johannes mußte schmunzeln, wenn er daran dachte, wie zuversichtlich er einmal aufgebrochen war, die Welt zu erobern! Nein, er wollte sich niemals unterkriegen lassen, hatte er sich wieder und wieder gesagt, und das, was ein anderer konnte, konnte er schon lange. Und so machte ihm auch später, als er zum Mann gereift war, die schwere Arbeit unter Tage fast gar nichts aus. Wie auch? Johannes besaß schließlich einen stattlichen Körper, wog in seinen besten Zeiten gut zwei Zentner und war überzeugt, daß er es an Körperkraft sicherlich mit einem jungen Ochsen aufnehmen konnte.

In der Grube war das allerdings ein wenig anders, da das Essen hier so gut nicht war und der Körper doch ein wenig in Mitleidenschaft gezogen wurde. Johannes war aber stolz darauf, daß er die harte Arbeit so gut wegstecken konnte. Dabei hatten ihn viele vor dieser Maloche, wie sie es hier nannten, gewarnt. Menschen gingen vor die Hunde, selbst Kinder würden ausgenutzt, und was man ihm nicht noch alles gesagt hatte. Er jedenfalls hatte seinerzeit, als die Nachricht zu ihm gedrungen war, daß die großen Reviere im Ruhrgebiet nach wie vor Leute suchten, nicht gezögert, sich auf den Weg zu machen. Was hatte er auch zu verlieren? Schwester und Mutter waren tot, die eine, seine kleine Katt, wie er sie immer genannt hatte, vor ein paar Jahren fast wie ein Tier krepiert, wobei keiner wußte, ob es nun der Hunger war, der ihrem Leben letztlich ein Ende bereitet hatte, oder die Schwindsucht, gegen die sie ihrer Schwäche wegen kaum mehr anzukämpfen vermocht hatte. Es war nämlich die Zeit, als gerade die Armut bei ihnen eingezogen war und an ihrem Inneren zu nagen begonnen hatte wie ein Geschwür, das sehr wohl weiß, wann seine Zeit gekommen ist, und ganz genau gespürt hatte, daß der Familie, deren Ernährer nach seinen am Ende immer länger gewordenen Reisen schließlich ganz fortgeblieben war, damit sämtliche Grundlagen genommen waren, sich erfolgreich gegen jeglichen Angriff von außen zu wehren. Kein Wunder war es darum auch, daß – gerade mal fünfzig Jahre alt war sie geworden! – schließlich auch Mutter gestorben war: einerseits an ihrem Gram, andererseits an der Verzweiflung darüber, daß wegen der Schande, die ihr Mann über sie gebracht hatte, kaum jemand bereit gewesen war, der verarmten Familie ein wenig unter die Arme zu greifen. Johannes hatte damals am eigenen Leib erfahren, wie sich die Armut anfühlte: wie seine durchlöcherten und verspeckten Kleider, die schon längst auf der Haut juckten wie eine ganze Kompanie Ameisen; und er hatte auch erfahren, wie Armut schmeckte: genau wie das Stück Brot nämlich, das er in der Familie seines besten Freundes Matz gestohlen hatte, um den größten Hunger zu stillen, nachdem er bei den kargen Mahlzeiten zu Hause immer vorgab, schon satt zu sein, damit nur die Mutter und die beiden jüngeren Schwestern halbwegs satt zu essen bekamen. Und als ob das alles nicht schon genug gewesen war, hatte Johannes es dann auch noch selbst gespürt, wie es war, wenn der Tod nach einem verlangte, denn ihm steckte plötzlich der Knochenfraß im Bein. Wie er am Ende dann gesund wurde, wußte er nicht mehr genau, glaubte nur, daß es eigentlich nur seinem eisernen Willen, nicht aber den Ärzten, deren Kunst sie sich in dieser Zeit sowieso kaum einmal hatten leisten können, zuzuschreiben war. Ein Gutes hatte die Krankheit vielleicht sogar gehabt, denn Johannes konnte wegen ihr das letzte Schuljahr nicht besuchen und war darum noch früher in der Lage gewesen, sich voll und ganz auf die Landwirtschaft zu konzentrieren, die die Mutter unmöglich alleine bewältigen konnte.

Er hatte stets geholfen, so gut er eben konnte, doch war er, als der Vater fortging, leider selbst noch ein Kind. Rasch merkte er, daß auch die Arbeit im Steinbruch, die er doch so zuversichtlich angegangen war, mehr an seinen Kräften zehrte, als er dies Mutter gegenüber zugeben konnte, und als junger Mann bereute er manches Mal seinen Ehrgeiz, der ihn nicht einfach nur Kaffeekoch hatte bleiben lassen – eine Mark Lohn am Tag war ihm zu wenig gewesen – sondern ihn angespornt hatte, es so schnell wie möglich bis zum Steinbrecher zu bringen. Außerdem hatte er täglich gut zwei Stunden zur Arbeit und noch längere zwei wieder nach Hause laufen müssen, wobei er diese zusätzliche Anstrengung kaum beachtet hätte, wenn sie nicht mit dem ungehörigen Zeitaufwand verbunden gewesen wäre, der ihm kaum mehr Luft gelassen hatte, sich am Abend um den Hof zu kümmern. Ohne die Unterstützung der Mutter hätte er es damals nie geschafft! Noch heute dachte Johannes nur voller Dankbarkeit an diese Frau zurück: Den ganzen Tag hatte sie geschuftet und sich geplagt, versucht, noch weiteres Land zu pachten, die Pacht mit Buttergeld bezahlt, das Land dann aber doch wieder verkaufen müssen, um die Hausschulden zu bezahlen, denn der Vater hatte niemals auch nur einen Pfennig Unterhalt geschickt! Es war, was selbst Franziska, die ihm noch verbliebene Schwester begriffen hatte, ihr gemeinsamer Ehrgeiz gewesen, das Haus zu halten, das wegen seiner für die damalige Zeit so ungewöhnlichen Größe im Dorf nur das »Schloß« genannt wurde, und sie hatten es am Ende auch geschafft! Daß die Mutter hierfür aber ihre letzten Kraftreserven aufgebraucht hatte und dann, als feststand, daß sie ihr Ziel erreicht hatten, von ihnen gegangen war, hatte Johannes geradezu verzweifeln lassen und die langsam aufgekommene Freude über den Erfolg schon im Keim erstickt.

Er erinnerte sich nur zu genau: am Totenbett der Mutter hatte er sich so gefühlt wie damals als Kind, als er sich im Wald verirrt hatte. Drei oder vier Jahre alt mußte er gewesen sein, war von zu Hause fortgelaufen, weil der Vater mit ihm geschimpft hatte. Niemals mehr würde er wiederkommen, hatte er sich vorgenommen, höchstens wenn sich die Eltern vor Traurigkeit die Augen ausweinten, dann würde er vielleicht mit sich reden lassen. Und dann stand er plötzlich alleine, mitten im Wald, und wußte nicht, wo er war und was er machen sollte. Johannes hatte immer geglaubt, daß man sich nur an Tatsachen, nicht aber an Gefühle erinnern konnte. In dem Moment, als Mutter tot war, begriff er, daß er sich geirrt hatte, denn plötzlich war er wieder der kleine Junge, der gottverlassen auf der Welt war und verzweifelt nach jemandem suchte, der ihn an die Hand nahm und aus dem dichten Wald herausführte. Damals waren es Leute aus dem Nachbarort gewesen, die ihn heimgebracht hatten, nachdem er, worauf er sehr stolz war, sie selbst dazu in die Lage versetzt hatte, denn er hatte ihnen auf die Frage, wem er denn sei, die Auskunft »dem Zimmermanns Alfons« gegeben. Heute würde es dagegen nicht so leicht sein, sich helfen zu lassen, und anders als damals würde seine Traurigkeit auch nicht mit dem Trocknen der Tränen verflogen sein, deren es, schon Franziskas wegen, jetzt erst gar keine geben durfte.

Es war Johannes gleichgültig gewesen, daß mit einemmal plötzlich der ganze Besitz ihm gehört hatte, daß er ab jetzt der Hausherr sein sollte, da er im Gegensatz zu seiner Schwester bereits volljährig war, und schon gar nicht wäre ihm der Gedanke gekommen, aus diesem Umstand irgendwelchen Nutzen zu ziehen: Wie selbstverständlich, so daß es der entsprechenden Bitte der sterbenden Mutter gar nicht bedurft hätte, teilte er schon jetzt den Besitz mit Franziska, schnitt in Gedanken bereits jedes Stück Land, das nach dem Gesetz nun ihm gehörte, gerade einmal in der Mitte durch und verwaltete den Besitz der Schwester lediglich, bis sie das 21. Lebensjahr vollendet hatte.

Vielleicht weil er in den wenigen glücklichen Jahren ebenfalls frühmorgens mit ihm hinausgefahren war, fiel ihm jetzt der Vater ein: ein großer Mann, mindestens zwei Meter, hatte er als Kind geglaubt, mit stolzen Zügen, die nur manchmal streng sein konnten, dann aber sehr streng, wie damals, bei der Sache mit Berta. Und Johannes hatte genau das Gesicht vor Augen, mit dem sein Vater es immer genossen hatte, wenn die Leute mit neidischen Blicken sein großes Haus musterten, das Schloß, in dem er selbst als der Schloßherr residierte.

Einige von ihnen mußten sich bestimmt gefreut haben, als sie von der Familientragödie hörten, die sich wenig später abgespielt hatte: Er war eben ein Bruder Leichtfuß, der Vater, der alles stehenließ für eine andere und selbst das stolze Anwesen, an dem ihm doch so viel gelegen war, einfach dem Lauf der Zeit übergab. So jedenfalls hatte Mutter immer versucht zu erklären, warum alles so kommen mußte, wie es gekommen war, und der Vater heute mit seiner neuen Frau in Holland wohnte.

Einmal noch, kurz nach dem Tod der Mutter, hatte Johannes ihn wiedergesehen. Einesteils, das mußte er ja zugeben, hatte er sich schon auf den in einem Brief umständlich angekündigten Besuch gefreut, andererseits war es, wenn dies überhaupt jemals der Fall sein würde, doch noch lange nicht an der Zeit, das zu vergessen, was der Vater der Familie angetan hatte, und wenn er dann daran dachte, was der eigentliche Grund für sein Kommen war, nämlich die Sterbeurkunde der Mutter zu holen, damit er in Holland erneut heiraten konnte, dann platzte Johannes noch heute fast der Kragen. Und die Begegnung war dann auch entsprechend frostig verlaufen: ein kurzer Händedruck, wenige Belanglosigkeiten, die ausgetauscht wurden, nicht ein einziges Wort des Bedauerns auf der Seite des Vaters, nicht ein einziges Anzeichen für den Wunsch nach Verständigung im versteinerten Gesicht von Johannes und dann endlich die Frage, mit der die innere Kluft geradezu gewaltsam ans Tageslicht gezerrt wurde: »Du Johannes, kann ich vielleicht heute nacht hier schlafen? Du weißt doch, ich habe im Dorf niemand anderen mehr!« Johannes hatte diese Unverfrorenheit fast die Sprache verschlagen, zum Glück aber nur fast, denn wie er sich nach all den Jahren noch sicher war, hatte ihm der Herrgott damals genau die richtigen Worte in den Mund gelegt: »Du kannst hier schlafen, oben, in dem Zimmer, in dem Mutter gestorben ist«, hatte er nur geantwortet und sich überhaupt nicht gewundert, es schon gar nicht bedauert, daß der Vater daraufhin wortlos abgezogen war und sich ein Nachtquartier im nahegelegenen Kloster gesucht hatte. Nach dieser Begegnung waren sich Vater und Sohn nie wieder begegnet.

 

Johannes hatte sich wegen der schlimmen Erfahrungen eines ganz fest vorgenommen, nämlich sein Leben von Anfang an in geordnete Bahnen zu lenken: Schwer arbeiten wollte er, für die Familie dasein und vielleicht irgendwann einmal das wiedergutmachen, was sein Erzeuger – er bemühte sich, in seinen Gedanken nur diese Bezeichnung vorkommen zu lassen – an ihnen allen verbrochen hatte. Und denen im Dorf würde er es sowieso noch zeigen!

Es war gegen sieben Uhr, als Johannes an diesem schönen Sommermorgen vom Feld und seiner Reise in die Vergangenheit nach Hause kam: nachdenklich war er, wortkarg, schlürfte stumm den Kaffee, den seine fleißige Frau schon für sie beide gekocht hatte, obwohl sie noch gar nicht so lange mit dem Melken fertig sein konnte. »Na, hast wohl wieder simuliert, Johannes?« Mit einer Antwort rechnete Agnes offenbar nicht, denn sie schien sehr beschäftigt: tauchte nur wieder ein Stück ihres Brotes in die Untertasse, in die sie, damit er schneller kalt wurde, ein wenig Kaffee gegossen hatte, und wartete geduldig, bis es sich mit der braunen Flüssigkeit vollgesogen hatte. Ja, er hatte wieder simuliert, wie gut sie ihn doch kannte, dachte Johannes, und es war ihm fast so, als hätte er dies laut gesagt. Simulieren tat er auch noch, als er nach dem Frühstück die Kühe fütterte, und es war klar, daß ihn seine Gedanken noch eine ganze Weile gefangen halten würden: so wie ein nächtlicher Traum, der manchmal noch bei Tage ein unsichtbares Netz über einen warf.

Kleeberg war ein Dorf von gerade einmal vierhundert Einwohnern. Hier passierte nicht viel, was vor allem auf die Abge-schiedenheit des Ortes zurückzuführen war. Abgeschieden war er zum einen deshalb, weil er inmitten der Mittelgebirgsland-schaft des Westerwaldes lag und von mehreren für diese Gegend recht stattlichen Erhebungen umgeben war, zum anderen aber auch schon darum, weil die nächste größere Stadt viele Kilometer entfernt war – die Kreisstadt, die man zu Fuß erreichen konnte, durfte in diesem Zusammenhang nicht zählen, denn sie war kaum mehr als ein großes Dorf. Das Jahrhundert, in dem die Industrie ihren Siegeszug angetreten hatte, schien an Kleeberg spurlos vorübergegangen zu sein: seine Einwohner lebten fast ausschließlich von der Landwirtschaft. Wer hier geboren war, den bewegten meist nur ganz besondere Umstände dazu, sein Leben oder auch nur eine gewisse Zeit davon in einer anderen Gegend zu verbringen.

Bei Johannes hatte es diese außergewöhnlichen Verhältnisse gegeben: er war als junger Mann eine ganze Weile gezwungen gewesen, sein geliebtes Kleeberg zu verlassen, da damals gerade die großen Gruben im Ruhrgebiet gute Verdienstmöglichkeiten versprachen. Johannes hatte sich Arbeit in einem Kohlebergwerk in der Nähe von Essen gesucht, und, weil man dort mehr verdiente, später sogar als Eisengießer am Hochofen gearbeitet. Trotzdem, eine gute Zeit war dies für ihn nicht gewesen, zu verbunden war auch Johannes mit seinem Heimatdorf, und er war froh, als er genug Geld beisammen hatte, um dem Ruhrpott endgültig den Rücken kehren zu können. Landwirt – für ihn war das der freieste, unabhängigste und schönste Beruf, den es geben konnte, und den würde er nun bis an sein Lebensende ausüben. Dabei machte es ihm überhaupt nichts aus, wenn er dies lange Zeit wieder nur in den Abendstunden tun konnte, denn, um seine Existenz dauerhaft zu sichern, war er am Tage dazu gezwungen, in den Steinbrüchen, von denen es in Kleebergs Umgebung genügend gab, oder beim Bahnbau sein Geld zu verdienen. Und Schikanen, wie er sich sie in seiner Jugend gelegentlich hatte gefallen lassen müssen, war er heute schon gar nicht mehr ausgesetzt: zu rasch bemerkten alle den Feuereifer, mit dem er seinen großen Körper zu immer größeren Leistungen antrieb, seinen Ehrgeiz, der ihn im Steinbruch schnell vom einfachen Steinbrecher zum besserbezahlten Kipper aufsteigen ließ, der mit wenigen geschickten Hammerschlägen schon wieder einen Pflasterstein fertiggestellt hatte, wenn sein Nachbar noch mitten bei der Arbeit war.

Und so kam es, daß es Johannes und die Zeit langsam schafften, den Makel, der ihm anhing, aus der Erinnerung der Leute zu streichen und er die Vergangenheit vor ihnen schließlich abstreifte wie eine Haut, die keiner mehr brauchte. Daß er selbst das, was damals geschehen war, niemals vergessen würde, brauchte er sich nicht einmal zu schwören, denn er dachte schon, ohne es zu wollen, oft genug an die tote Schwester und die Mutter, die ihr wenig später nachgestorben war. Und immer dann fiel ihm natürlich auch der Vater ein, und er nahm sich wieder und wieder vor, nicht so zu werden wie er, jedenfalls wie er gewesen sein mußte, als er sie im Stich gelassen hatte. »Ein Mann muß immer zu dem stehen können, was er tut!« – das war Johannes´ Lebensregel geworden, denn er führte sich immer, wenn es darauf ankam, vor Augen, wie der Vater damals verlegen zu Boden geschaut hatte, als er vom Sohn aufgefordert worden war, im Sterbezimmer seiner Frau zu übernachten.

Johannes konnte zu dem stehen, was er tat, zu allem, auch damals, 1930, als er sich zum Bürgermeister von Kleeberg wählen ließ. Sicher, er hatte immer davon geträumt, im Dorf eine Rolle zu spielen, doch wäre er deshalb niemals auf den Gedanken gekommen, seinen Vorgänger, den er äußerst schätzte und den er bei der Wahl auch unterstützt hatte, ablösen zu wollen. Erst als er richtig gedrängt worden war, und das sogar von demjenigen, der gerade noch für eine neue Amtszeit kandidiert hatte, jetzt aber wegen der Begünstigung eines Verwandten ins Zwielicht geraten war, da hatte er den Widerstand aufgegeben und die Entscheidung des Rates angenommen. Johannes selbst hatte sich freilich nicht gewählt – dies mochten andere tun, ihm selbst wäre es anrüchig erschienen.

´33 hatten dann bereits die Nazis die Macht übernommen, wovon man aber in Kleeberg – wenigstens am Anfang – zum Glück noch wenig merkte. Hier schnitt die NSDAP bei sämtlichen Wahlen, die sie noch zuließ, nicht besonders gut ab: Johannes prägte sich die Ergebnisse so ein, daß er sie auch Jahre später, als selbst der Krieg längst der Vergangenheit angehörte, noch stolz Besuchern aus der Stadt präsentierten konnte, die meinten, besonders in Gegenden, die ihrer Ansicht nach durch eine dicke Bretterwand von der zivilisierten Welt abgetrennt waren, hätten die Nazis einen ungebremsten Zulauf verzeichnen können. Gerade hier aber verfügte man über eine solche Bremse, und diese sah Johannes darin, daß in katholischen Dörfern, wie auch Kleeberg eines war, die Nazis niemals ein leichtes Spiel hatten, da die Partei der Katholiken nun einmal das Zentrum war: Noch bei der letzten Reichstagswahl vom 5. März 1933 hatte es in Kleeberg mit 62,5 Prozent der Stimmen die absolute Mehrheit erhalten, und wenn das Zentrum bei der Wahl zum Kreistag eine Woche später von der NSDAP um einen Sitz überflügelt wurde, so lag das für Johannes nur an den vielen evangelischen Ortschaften in dieser Region.

Sie hatten jetzt schon eine ganze Weile Ruhe vor den Parteigenossen: eigentlich war die Geschichte mit dem Pfarrer der letzte Angriff der hiesigen Nationalsozialisten gewesen, und Johannes hoffte, daß dies auch so bliebe. Franz war scheinbar verstummt, und Vollmer mußte sich viel zu sehr schämen, um Johannes und seine Agnes ein weiteres Mal herauszufordern. Meinten sie jedenfalls, und langsam glaubten die beiden bereits, das Leben verlaufe wieder normal, so wie damals, bevor alles anders geworden war, wenn dann nicht der Tag gekommen wäre, an dem Johannes aus heiterem Himmel zu Kreisleiter Schulz bestellt wurde. Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was der von ihm wollen konnte, höchstens daß jetzt er statt Vollmer versuchen würde, ihn endlich zum Eintritt in die Partei zu überreden. Bestimmt war es so, redete sich Johannes ein, und er sah sich einmal mehr in der Meinung bestätigt, daß es falsch gewesen war, am Ende doch die Hilfe von Gregors Bruder in Anspruch zu nehmen. Aber sie hatten ihm ja keine Ruhe gelassen, Agnes nicht, die Gesinnungsgenossen aus dem Dorf nicht und auch Gregor nicht, der, als er ihm von den letzten Vorfällen erzählt hatte, geradezu mit Worten auf ihn eingehämmert hatte, er solle das Angebot doch endlich annehmen. »Du weißt ja noch gar nicht, was aus Deutschland geworden ist. Bei uns gibt es Dinge, die kann man sich kaum vorstellen«, war dabei einer der geheimnisvollen Sätze, die er in letzter Zeit so oft von sich gab, und Johannes, der der Meinung war, er könne diese Aussage ohnehin nicht weiter belegen, hatte auch nicht weiter nachgefragt, dann aber, damit nicht noch mehr auf ihn eingeredet wurde, zu Gregor gesagt, er könne jetzt mit seinem Bruder sprechen.

Nach dem, was Gregor immer über ihn erzählte, hatte der dem Kreisleiter dann aber bestimmt nicht die Wahrheit berichtet, sondern wahrscheinlich alles mit Mißverständnissen zu erklären versucht, so daß Johannes jetzt als hundertprozentiger Nazi dastand, der nur niemals als solcher erkannt worden war. Ihm war das Ganze äußerst unangenehm, und es wäre ihm jedenfalls sehr viel besser gegangen, wenn er jetzt schon gewußt hätte, wie gering letztlich der Einfluß von Gregors Bruder war!

Als wenig später dann Schulz im »Braunen Haus«, dem Sitz der Kreisleitung, zu ihm sprach, wußte Johannes nicht, was er von ihm halten sollte, denn der hohe Parteigenosse hielt dermaßen mit seiner Meinung hinter dem Berg, daß nicht einmal zu ahnen war, was er umgekehrt über Johannes dachte. »Der Pg Weber aus Kleeberg war bei mir. Können Sie sich denken, was der von mir wollte?« Nein, Johannes hatte nicht einmal eine Vermutung, zu wenig hatte er sich immer aus Weber gemacht, der, obwohl Mitglied der SA, bisher auch kein Interesse an seiner Person gezeigt hatte. Nun kam es dafür um so geballter: Johannes sollte doch tatsächlich beim Bürgermeister des Dorfes, aus dem Weber stammte, schlecht über den Kreisleiter gesprochen haben! Natürlich, so war das nun einmal bei Gerüchten, konnte ihm Schulz nicht sagen, was der SA-Mann denn nun genau dort erzählt hatte, nur halt eben schlecht sollte es gewesen sein. Offensichtlich aber glaubte der Kreisleiter Webers Lügenmärchen mehr als Johannes´ Beteuerungen, noch niemals mit dem Lorbacher Bürgermeister gesprochen zu haben. Das stimmte übrigens sogar: er kannte den Mann wirklich nicht, denn sein Dorf lag nicht einmal in der unmittelbaren Nachbarschaft von Kleeberg, und was er hier hin und wieder über die Partei und ihre Streiter geäußert hatte, war im Moment schließlich nicht gefragt. Er habe schon mehrere Geschichten über Johannes erhalten, die ihm allesamt nicht gefallen hätten, meinte Schulz nur, aber jetzt wolle er endlich wissen, woran er mit ihm sei. »Weber soll sich seine Äußerungen in Lorbach schriftlich bestätigen lassen, habe ich ihm gesagt. Sollte er damit keinen Erfolg haben, Sie dasselbe aber für ihre Aussage schaffen, dann will ich die Sache auf sich beruhen lassen!« Mit diesem Angebot entließ der Kreisleiter Johannes, und der wußte, daß er wieder einmal auf der Kippe stand. Sollte Weber tatsächlich erreichen, daß der Kollege seine Aussage unterschrieb, dann war es vorbei mit ihm, und die Kleeberger Pgs hatten endlich ihr Ziel erreicht!

Höchste Eile war geboten, denn wenn es auch eher unwahrscheinlich war, so mußte man doch die Chance nutzen, Weber in Lorbach zuvorzukommen. Wer wußte schließlich, mit was für Argumenten der dem dortigen Kollegen einheizte, denn irgendeinen Trumpf mußte er ja doch im Ärmel haben, sonst hätte er schließlich nicht eine so absurde Behauptung aufstellen können. Johannes trat die wenigen Kilometer bis nach Hause in die Pedale, wie er es eigentlich nur damals, kurz vor dem Krieg, getan hatte, als er, nach wochenlangen heimlichen Übungsstunden auf einem Feldweg, im Dorf stolz seine Fahrkünste auf einem der seinerzeit noch seltenen Gefährte gezeigt hatte, die heute nicht mehr wegzudenken und fast schon wieder überholt waren.

 

Nach Lorbach würde es ihm mit dem Fahrrad heute aber zu lange dauern, für diese Strecke mußte er Wilhelm fragen, damit der ihn mit seinem Motorrad chauffierte. Hoffentlich war der gute Nachbar nur zu Hause, denn bei einem so schönen Wetter wäre es nicht verwunderlich gewesen, wenn er auf dem Feld war. Zum Glück war diese Befürchtungen jedoch umsonst – Wilhelm war gerade heimgekommen, und als Johannes ihm von seinem Gespräch mit dem Kreisleiter erzählte, ließ er, wie es sich für einen guten Freund gehörte, sofort alles stehen und liegen und warf seine Maschine an. War er wirklich zu gutgläubig? grübelte Johannes auf der Fahrt. Wilhelm hatte das jedenfalls schon immer behauptet, nicht nur eben wieder. Aber wie konnte er dem Weber auch etwas Böses unterstellen? Außer daß er sich in der Partei hervortat, was ja heute bei vielen, die seit einigen Jahren nicht mehr Herr ihrer Sinne zu sein schienen, der Fall war, hatte Johannes ihn immer für einen rechtschaffenen Mann gehalten!

Und er würde auch weiter so denken, so lange jedenfalls, bis er felsenfest davon überzeugt war, daß Weber ihm tatsächlich am Zeug flicken wollte. Der Kreisleiter konnte ihm viel erzählen, ganz davon abgesehen, daß etwas Zwietracht in dem Dorf, das als einziges in der ganzen Gegend einen parteilosen Bürgermeister hatte, seiner Sache gewiß nicht schaden konnte.

Während ihm der Fahrtwind angenehm erfrischend ins Gesicht blies, mußte Johannes unwillkürlich an einige der Sätze seiner Mutter denken, die sie ihm in ihren letzten Stunden hastig, eben wie jemand, der weiß, daß er keine Zeit mehr hat, mit auf den Weg gegeben hatte: »Du mußt immer an das Gute im Menschen glauben, Johannes, versprich´ mir das! Der liebe Gott hat jeden Menschen gut erschaffen. Wenn er es dann nicht bleibt, dann kann er einem nur leid tun, denn er hat eine große Gabe verschenkt.«

Nein, Johannes nahm sich fest vor, auch weiter nur an das Gute im Menschen zu glauben: bisher war es ihm nicht schwer gefallen, den Rat der Mutter zu beherzigen, warum sollte sich das nun plötzlich ändern? Er war Optimist, und das galt auch für das, was er von den Leuten dachte. Lieber wollte er selbst enttäuscht werden, als auch nur Gefahr laufen, einem anderen von vornherein Unrecht zu tun. Den Schmerz in sich selbst konnte man wieder gutmachen, über den, den man anderen zufügte, hatte man dagegen keinerlei Gewalt mehr. Weisheiten seiner Mutter, die auch heute, nach all den Jahren, nichts von ihrer Gültigkeit verloren hatten.

Der Lorbacher Bürgermeister, ein Herr Jung, wußte von nichts. Weber war also noch nicht bei ihm gewesen. Sicher, er kannte den Mann von früher, ließ zwar, wie das in dieser Zeit nun einmal war, nicht durchblicken, was er über ihn dachte, doch erklärte er sich gleich bereit, seine Unterschrift unter ein rasch aufgesetztes Papier zu setzen, in dem festgehalten war, daß er bis jetzt noch niemals ein Wort mit Johannes gewechselt hatte. Zum Abschied beeilte er sich noch, ihnen zu versichern, daß er in nichts hineingezogen werden wolle, und fügte dabei so auffällig ein »von niemandem« hinzu, daß Johannes sich genötigt sah, ihn zu beruhigen, er brauche sich nicht die geringsten Sorgen zu machen. Schließlich habe er nur einen wahren Sachverhalt bestätigt, mit Gesprächen an »übergeordneter Stelle« müsse er deswegen ganz bestimmt nicht rechnen.

Als er wenig später mit Wilhelm alleine war, atmete Johannes erst einmal tief durch. »Was soll das jetzt gewesen sein? Wollten die mich vielleicht nur auf die Probe stellen?« meinte er unschlüssig, worauf Wilhelm um so fester entgegnete: »Wart´ ab, der Weber kommt schon noch. Er kann ja durch irgendwas aufgehalten worden sein, was weißt denn du?«

»Ach was, jetzt kommt der nicht mehr. Wenn der schon vor mir bei Schulz war, und das kann ja schon gestern oder vorgestern gewesen sein, dann hätte er es auch schaffen müssen, vor mir in Lorbach zu sein!«

»Wart´ ab, Johannes, wart´ ab!« sagte Wilhelm nur wieder sicher. Auf dem Heimweg machten die beiden dann die für Johannes so enttäuschende Feststellung, daß der Nachbar, obwohl ihm dem alten Freund gegenüber zwanzig Jahre an Lebenserfahrung fehlten, mit seiner Einschätzung recht behalten sollte: Kurz nach dem Ortsausgang von Lorbach kam ihnen auf seinem Fahrrad der SA-Mann Weber entgegen: sichtlich angestrengt und schwitzend, sie beide keines Blickes würdigend, stur nur auf den Boden stierend, so daß jetzt auch Johannes begriff, daß er endlich die bittere Pille schlucken mußte, die ihm sein unerschütterlicher Glaube an das Gute im Menschen gerade wieder einmal eingebracht hatte.

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