Basaltbrocken

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Johannes nahm sich vor, dem Geschehen der letzten Nacht nachzugehen. Nur, was sollte er tun? Wenn er es sich genau über-legte, hatte er die Gestalten im Dickicht nicht einmal richtig gesehen. Allein die Buckel-Anna hatte etwas von Augusts Sohn gefaselt, doch hatte ihr der angeblich noch geholfen, damit sie nicht verdroschen wurde. Noch einmal mit der Buckligen reden, kam nicht in Frage. Sie würde den Vorfall schon jetzt im ganzen Dorf herumtragen. Nein, Johannes beschloß, taktisch vorzugehen und das Ganze nicht an die große Glocke zu hängen. Wer würde ihm auch glauben, daß ein paar verrückte Jungen geplant hatten, den Pfarrer zu überfallen? Der Ortsgruppenleiter etwa, dieser hinterhältige Hund, oder der Kreisleiter? Je mehr er nachdachte, um so mehr war er plötzlich davon überzeugt, daß er überall auf Granit beißen würde! Vielleicht warteten sie nur darauf, daß er zu ihnen kam und sie in den Genuß versetzte, ihn zurückzuweisen. Nein, diese Genugtuung würde er ihnen nicht verschaffen – er hatte es bisher noch immer verstanden, der Partei nicht die kleinste Freude zu bereiten, und das sollte auch gefälligst so bleiben.

2.

Da war er also tatsächlich gefahren. Johannnes hätte dies damals – es sollte noch lange hin sein bis zu der Nacht, in der er den Pfarrer abholte – niemals für möglich gehalten. Agnes dagegen war gleich anderer Meinung gewesen. »Paß auf, der Franz, der ist zu allem fähig, der fährt bis nach Berlin, um dir eins auszuwischen«, hatte sie schon früher einmal gesagt. Und jetzt hatte er es tatsächlich getan. Johannes mußte, wenn er ehrlich war, zugeben, daß er sich in seiner Haut alles andere als wohl fühlte. Er wußte doch nicht, was so ein gestandener Pg in seiner grenzenlosen Verbohrtheit alles gegen ihn vorbringen würde, und, was ihn fast krank machte, war, daß er nicht die geringste Möglichkeit hatte, sich zu wehren. Wie oft würde er noch morgens in den Stall gehen und nach dem Vieh sehen können? Sollte dies nun bald für immer vorbei sein? Immer wieder las man schließlich in der Zeitung von Verhaftungen und Absetzungen: Kommunisten, Sozialdemokraten und manchmal sogar Leute des Zentrums und frühere Bürgermeister von Westerwälder Städten wurden verhaftet, Leute, die wichtige Posten bei Behörden und Sparkassen hatten, mußten gehen, und es war noch gar nicht so lange her, da hatte sogar der Landrat seinen Hut nehmen müssen. Johannes hatte nur immer gedacht – und eigentlich tat er das auch jetzt noch – daß jemand wie er viel zu unbedeutend war, als daß er der Führung ein Dorn im Auge sein konnte: er war weder ein hohes Tier noch hatte er jemals irgendeiner Partei angehört.

Wenn Franz ihn nur offen herausgefordert hätte, dann, ja dann würde er es ihm schon gezeigt haben! So wie damals im Steinbruch, als sie gewettet hatten, wer von ihnen es schneller zum Kipper bringen würde! Natürlich hatte der viel kräftigere Johannes gewonnen, und Franz war dies wohl von Anfang an klar gewesen, denn statt sich mit dem Hammer anzustrengen, hatte er den Kampf mit Worten vorgezogen und den Konkurrenten angeschwärzt, wo er nur konnte. Vergeblich allerdings, es hatte ihm am Ende wenig eingebracht, denn die Vorarbeiter waren sich einig gewesen, daß im Steinbruch der körperliche Einsatz mehr galt als alles geschliffene Reden. Auf große Worte hatte sich Franz jedoch schon immer verstanden, und mittlerweile war wohl leider seine Zeit gekommen: Johannes hatte ein wenig gebraucht, um zu verstehen, daß heute nicht mehr das zählte, was ein Mann in sich hatte, sondern das, was er von sich gab. Nein, sie beide, Franz und er, waren nun wirklich nicht die alten Freunde, zwischen die die Partei einen Keil getrieben hatte: sie hatten sich noch nie gemocht. Dabei hatte sein Widersacher anfangs, als die Nazis gerade das Zepter übernommen hatten, noch versucht, ihn auf die Probe zu stellen, war mehrfach mit Beschwerden bei ihm aufgetaucht, um zu sehen, wie er reagierte. Das letzte Mal war noch gar nicht so lange her. »Johannes, jetzt mußt du aber endlich etwas gegen den Herz unternehmen.« Wichtig und ohne Aufforderung hatte Franz sich gesetzt und sich beschwert, daß der Revierförster Herz die Parteigenossen ganz klar benachteilige: Bei kirchlichen Anlässen, zum Beispiel an Fronleichnam, gebe er frisches Grün und Tannen heraus, die Veranstaltungen der Partei müßten dagegen mit dem Abfall von den Bäumen, fast vermoderten abgebrochenen Zweigen geschmückt werden! Johannes hatte nur in sich hinein gelacht, sich vorgenommen, daß er zum Förster von nun an besonders freundlich sein wollte, und knapp geantwortet, daß sich ein Ortsbürgermeister um wichtigere Dinge zu kümmern hätte als um Tannenzweige. Franz war wieder wütend gegangen, vielleicht, so war es Johannes noch durch den Kopf gegangen, als er die Tür einmal mehr laut ins Schloß fallen hörte, vielleicht tat der andere aber auch nur so aufgeregt, denn allmählich mußte er doch wissen, daß er mit seinen Anschuldigungen hier nicht landen konnte.

»Der Unterdörfer ist nach Berlin zum Führer gefahren, der Franz, du weißt doch«, – wieder war die Buckel-Anna aufgeregt zur Tür hereingekommen, aufgeregt nach Luft schnappend, »du weißt es doch, der will dich ins KZ bringen.« Johannnes hatte dagestanden, als ob ihn der Schlag getroffen hätte. Nur Agnes, seine wunderbare Agnes, behielt die Ruhe: »Da muß er uns erst mal was können«, meinte sie nur, und Johannes fiel gleich auf, daß sie »uns« gesagt hatte. Wieder einmal erinnerte ihn die kleine Frau, die ihm seit so vielen Jahren zur Seite stand, an seine Mutter, die damals, in der schlimmen Zeit, auch nicht die Flinte ins Korn geworfen hatte, und heute, wo er oft genug in der Versuchung war, den Bürgermeisterposten aufzugeben, genauso wie Agnes zu ihm reden würde: »Jetzt gerade nicht. Zu jedem anderen Zeitpunkt, aber jetzt nicht! Du hast schließlich nichts Unrechtes getan!«

Nein, er würde niemals die Flinte ins Korn werfen, freiwillig jedenfalls nicht: Wie immer, wenn er Dampf ablassen mußte, so stürzte sich Johannes auch jetzt in die Landwirtschaft. Nur hier konnte er halbwegs vergessen, und es war ihm, als lasse er die Sorgen, die ihn vor allem der Kinder wegen quälten, einfach in der Stube zurück. Aufs Feld wollte er fahren, mit den beiden Kühen, die er vor den Wagen mit dem gewaltigen Jauchefaß spannen würde. Er liebte diese Arbeit, liebte den Geruch, der seiner Meinung nach nur solche, die von der Landwirtschaft nichts verstanden, zum Rümpfen ihrer vornehmen Nasen bringen konnte, und er liebte es auch, wieder einmal seine neuartige Jaucheanlage bedienen zu können, die schließlich sein ganzer Stolz war.

Wie lange hatte er an dieser Erfindung gebastelt! Hatte sich des Nachts sein Hirn zermartert, nur um den anderen wieder einmal ein kleines Stückchen voraus zu sein. Doch es hatte sich gelohnt – niemand in der ganzen Gegend besaß heute eine vergleichbare Anlage, deren Fortschrittlichkeit im Grunde doch nur auf einer ganz einfachen Idee beruhte: Johannes hatte nämlich Mist- und Jaucheanlage nicht in die ebene Erde gebaut, sondern dazu einen Hang hinter seinem Haus ausgewählt. Ein großer Vorteil war dabei, daß er das natürliche Gefälle ausnutzen konnte, um sein Jauchefaß zu füllen: Während die anderen Bauern, die er kannte, allesamt ihre Fässer mit handbetriebenen Pumpen füllen mußten, brauchte er lediglich einen Ablauf zu öffnen und die wenigen Minuten abzuwarten, bis sein Faß vollgelaufen war. Die Erfindung hatte jedoch noch einen weiteren Pluspunkt, der nach Ansicht des stolzen Erbauers mindestens ebenso hoch einzuschätzen war wie der erste: Statt nämlich wie üblich den Mist oberhalb der Jauchegrube zu lagern, war Johannes umgekehrt vorgegangen und hatte aufgrund der Hanglage beide Gruben in Stufenform errichtet, wobei in diesem Fall die für die Jauche etwas höher zu liegen kam. Das hatte den enormen Vorteil, daß die Flüssigkeit, die den Höchstpegel überstieg, durch einen Überlauf auf den Mist abfließen und ihn dadurch besonders deftig machen konnte. Durch die versetzte Lage der beiden Gruben war aber trotzdem für freien Zugriff auf eine jede von ihnen gesorgt.

Wie sehr erfüllte ihn diese Erfindung mit Stolz, und wie gerne zeigte er sie jedem, der nur halbwegs sein Interesse an einer Besichtigung bekundete! Nein, ihm, Johannes, konnte man wirklich nicht vorwerfen, daß er sich den Aufgaben der Zukunft verschloß, er war schon immer für den Fortschritt gewesen – nur seinem Einsatz hatte es Kleeberg zu verdanken, daß es weit und breit die einzige Sähmaschine besaß und seine Bauern mittlerweile bereits auf zwei Ringelwalzen zurückgreifen konnten, die den Boden besonders kleinkrumig machten und damit beste Voraussetzungen für eine gute Ernte schafften!

Als Johannes heute jedoch an seinem Jauchefaß lehnte, ließ selbst das sonst so beruhigende Geräusch der plätschernden Jauche nur wenige solcher angenehmen Gedanken aufkommen: dann rieben, als sicheres Zeichen, daß er alles andere als ruhig war, plötzlich sogar die Finger seiner linken Hand aneinander, und mit einemmal war da wieder, wie ein Busch, der die ganze Zeit über lediglich vom Frühnebel verdeckt worden war, Franz in seinem Kopf, klar und deutlich war da Franz und immer wieder Franz, der vielleicht gerade in diesem Moment mit den großmäuligen Brüdern in Berlin redete.

Auch seinem Widersacher aus dem Steinbruch hatte er vor einiger Zeit die neue Anlage gezeigt, und hier, so mußte er sich im nachhinein eingestehen, war es eigentlich nur darum gegangen, ihn zu ärgern und neidisch zu machen. Er konnte sich das leisten, hatte er immer gedacht, was sollte der kleine untersetzte Mann mit dem verbissenen Gesichtsausdruck und dem für die kurzen Beine viel zu großen Schritt ihm auch schon anhaben können? Johannes hatte sich gründlich getäuscht. Seit die Nazis an der Macht waren, hatte offenbar ein jeder die Möglichkeit, sich wichtig zu tun, wenn nur sein Mundwerk groß genug war. Und daß Franz gerade diese Voraussetzung erfüllte, das hätte Johannes eigentlich wissen müssen. Aber er hatte es nicht wahrhaben wollen, hatte nicht glauben können, daß ein Mensch ihn so sehr haßte! Nur Agnes, die kluge Agnes, hatte ihn immer wieder vor Franz gewarnt: »Paß auf Johannes«, hatte sie zu ihm gesagt, »der Franz, der führt nichts Gutes im Schilde, der wird die Gunst der Stunde jetzt nutzen!« Und so war es auch Agnes gewesen, die seinerzeit, als Johannes der Gemeinde angeblich mehrere Holzpfähle gestohlen haben sollte, gleich seinen alten Gegner dahinter vermutete. Denn Franz war in Kleeberg binnen kürzester Zeit zum Sprachrohr des Ortsgruppenleiters Vollmer geworden, der es Johannes niemals verzeihen würde, daß er nicht gleich wie die anderen Bürgermeister in die Partei eingetreten war. Johannes war ein weißer Fleck auf der braunen Weste von Vollmer, und diesen wegzuwaschen, war dem ehrgeizigen Pg darum jeder Anlaß recht. So auch die Geschichte mit den Holzstangen, die ihm, wie sich später herausstellte, tatsächlich Franz zugetragen hatte. Verschwiegen hatte der gute Mann dabei nur, daß Johannes, bevor er die Pfähle schlug, der Gemeinde die gleiche Anzahl von Holzstangen aus seinem eigenen Bestand geliehen hatte, was er sich nun vom Förster schriftlich bestätigen ließ. Ein andermal sollte Johannes einem der beiden Gastwirte im Ort genehmigt haben, während der nationalsozialistischen Kundgebung am 1. Mai einen Tanz zu organisieren. Sicher, wenn er ihn nur gefragt hätte, Johannes wäre wahrscheinlich der letzte gewesen, der sein Anliegen abgelehnt hätte: allmählich begann ihm nämlich das immer gleiche Spiel bereits Spaß zu machen, doch hatte der Mann leider niemals bei ihm vorgesprochen. Trotzdem aber hatten sie den Ortsgruppenleiter gemeinsam davon zu überzeugen, daß alles nur Lug und Trug war, wobei der die Wahrheit wahrscheinlich von Anfang an kannte.

 

Und gerade weil er ihm immer wieder zeigte, daß er ihn im Visier hatte, mußte Vollmer eigentlich auch wissen, daß Johannes niemals ein Blankopapier unterschreiben würde, so wie diese Lebensbescheinigung, mit der er angeblich einer lieben Nachbarin einen Gefallen hatte tun wollen. Wieder einmal steckte Franz hinter der Intrige, der, dieses Mal, um jemanden ins Feld zu führen, dem man mehr glauben würde als ihm selbst, behauptet hatte, der ehemalige Bürgermeister Schuster habe die Angelegenheit aufgedeckt. Falsch eingeschätzt hatte er dabei nur das Verhältnis zwischen Johannes und seinem Vorgänger: Schuster wie auch die Nachbarin bescheinigten gerne, daß alles erstunken und erlogen war – auf Wunsch von Johannes natürlich wieder in höchst offizieller und schriftlicher Form, denn seiner Ansicht nach zählten mündliche Worte wenig in einer Zeit, in der schon hergelaufene österreichische Handwerksburschen etwas zu sagen hatten. Franz hatte also schon wieder eine empfindliche Schlappe erlitten, und Johannes verstand zu wenig von Psychologie, um wie Agnes gleich zu begreifen, daß die Gefahr, die von seinem Erzfeind ausging, dadurch nicht kleiner geworden war. »Wie steht er nun da vor den anderen Pgs, vor Vollmer?« machte sie aus ihrer Sorge keinen Hehl, »Franz wird die Scharte, die du ihm beigebracht hast, irgendwie auszuwetzen versuchen!« Und Agnes war klar gewesen, daß er dies nur tun konnte mit einer Aktion, die sämtliche Niederlagen mit einem Schlag wegwischen würde. Daß er allerdings gleich nach Berlin fahren würde, daran hatte auch sie nicht gedacht, und Johannes, der wußte, daß er sich bei der Arbeit auf dem Feld heute mächtig ins Zeug zu legen hatte, um die immer größer werdende Besorgnis vielleicht doch noch zu verdrängen, durfte ihr deshalb keinen Vorwurf machen.

Zwei Tage später war Franz wieder da. Erzählte solchen, von denen er wußte, daß sie es Johannes wiedererzählen würden, er wäre zwar nicht beim Führer, dafür aber bei Göring gewesen. Johannes´ Zeit wäre jetzt abgelaufen, dafür hätte er endlich gesorgt. Schon bald käme er da hin, wo sie alle hinsteckten, die das Maul zu weit aufrissen. Als Johannes von dem Gerede erfuhr, mußte er tatsächlich ein wenig schmunzeln: »So, dann komme ich also weg! Dann bestellt dem Franz doch mal, er kann mir das ruhig selber sagen. Jetzt, wo er gewonnen hat!« Da atmete auch Agnes erleichtert durch. Sicher, daran hätte sie gleich denken sollen: ein Mensch wie Franz würde es sich niemals nehmen lassen, seinen Erfolg Johannes persönlich ins Gesicht zu sagen. Es war ausgestanden, Franz hatte schon wieder – diesmal hoffentlich endgültig – verloren. Und in diesem Moment war es ihr völlig egal, ob er nun versuchte, diese Schlappe in einen Sieg umzumünzen.

Der Tag, der wie die letzten mit dunklen Wolken über den Gemütern begonnen hatte, er endete in einem kleinen Fest: am Abend gab es Eierkäse und Weißbrot, und wenngleich Agnes dazu schon ihren herrlichen Pfefferminztee gekocht hatte, der nur zu ganz besonderen Anlässen auf den Tisch kam, so gönnten sich Johannes und sie später, als die Kinder im Bett waren, außerdem noch ein Glas von ihrem selbstgemachten Johannisbeerwein, der eigentlich immer nur denen vorbehalten war, die – todtraurig, weil sie ein Aufgebot bestellten, das keineswegs nach ihrem Sinne war, oder überglücklich, weil sie endlich den ersehnten Stammhalter anmeldeten – auf der anderen Seite des schweren Schreibtisches hockten, an dem der Bürgermeister, der gleichzeitig auch Standesbeamter war, das jeweilige Ereignis urkundenwirksam machte.

Franz kam auch in den nächsten Tagen nicht, Johannes hatte ihn also richtig eingeschätzt. Schade nur, daß sein Erzfeind nicht der einzige Parteigenosse in Kleeberg war. Sicher, damals bei der ersten Wahl waren es nur 19 Leute gewesen, die ihre Stimme der NSDAP gegeben hatten, was, davon war Johannes überzeugt, den Fanatiker Vollmer und die Gesellen, die ihn umgaben wie Fliegen die Kuhscheiße, sicher bis heute ärgerte.

Mittlerweile waren aber leider auch im Dorf viele organisiert, und Johannnes fand manchmal, daß es gar nicht schlecht war, daß sie die Wahlen abgeschafft hatten. Nicht daß er glaubte, die Kleeberger wären heute in ihrer Mehrzahl auf die Nazis hereingefallen, aber einige mehr als damals wären es wohl doch gewesen, die ihnen ihre Stimme gegeben hätten. Kein Wunder, entschuldigte ihr Bürgermeister diese Leute gleich trotzig, wenn man auch nichts anderes mehr hörte!

Besonders ärgerte es ihn, daß sie schon die Kinder und Jugendlichen einzuwickeln versuchten: Deutsches Jungvolk für die 10 bis 14jährigen, die richtige Hitler-Jugend für die 14 bis 18jährigen Jungen, für Mädchen gab es heute, wenn sie zwischen 10 und 14 Jahren alt waren, die Jungmädel und danach den »Bund Deutscher Mädel«. Johannes hörte es gar nicht gerne, wenn sein eigener Sohn mit sprühender Energie von seinen Erlebnissen aus den Gruppenstunden der HJ erzählte. Die Tochter war da anders, natürlich weil sie viel älter, fast schon eine junge Frau war, aber auch wegen ihrer Frömmigkeit. »Die ist katholischer als der Papst«, hatten Johannes und Agnes schon ein paarmal zueinander gesagt, als sie Irmgard wieder und wieder in die Kirche laufen sahen, und wäre ihnen dann nicht stets der junge Kaplan eingefallen, der immer diese Messen zelebrierte, an denen so auffallend viele junge Mädchen teilnahmen, dann hätten sie fast glauben mögen, was die Gertrud aus der Nachbarschaft immer prophezeite: »Die Irmgard, die geht einmal ins Kloster!«

Durch die Kirche, die natürlich nicht nur für Kleeberg da war, hatte das Mädchen aber vor allem den Vorteil, daß es viel mit Leuten aus den anderen Gemeinden zusammenkam und vieles, was dort vorging, eher wußte als ihre Eltern. »Sie haben dem Jupp, ihr wißt doch, den, der nach Rabenbach geheiratet hat, ein Schild um den Hals gehängt«, kam sie Tage, nachdem man glaubte, mit Franz sämtliche Pgs der Region niedergerungen zu haben, in die Stube gekeucht. »Natürlich kenne ich den Jupp«, sagte Agnes, »ein netter Junge, der uns als Kind schon oft auf dem Feld geholfen hat.«

»Ja, und genau dem Jupp haben sie ein Schild umgehängt. Und darauf steht: Ich bin ein Lump!«

»Jupp? Was soll der denn gemacht haben?« Johannes war noch nicht bereit, seiner Tochter zu glauben. »»Heil Moskau!« hat er gerufen, mit erhobener Faust, zwar im Suff, aber das ist denen doch egal!« Jetzt erinnerte sich Johannes wieder an so manches. Zum Beispiel, daran, daß Jupp damals, im Jahr, bevor der Österreicher an der Macht war, 1932, als die vielen Wahlen waren, Kundgebungen der KPD organisiert hatte. Kundgebungen, die auch in Kleeberg stattgefunden hatten und natürlich im schroffen Gegensatz zu denen gestanden hatten, die auch die Nazis bereits hier abhielten: wenigstens von den Ideen her waren sie unterschiedlich gewesen. Das Auftreten hatte Johannes an beiden nicht gemocht und sich wieder einmal bestärkt in seiner Meinung gesehen, daß man seinen Kopf niemals einer Partei verkaufen durfte.

Jupp war aber ein cleverer Bursche gewesen, der hatte sich ausgekannt, und wenn Johannes Zeit und Lust gehabt hätte, sich mit ihm anzulegen, er wäre ganz schön ins Schwitzen gekommen. Denn was dieser Jupp sagte, das hatte alles Hand und Fuß, er war sich seiner Sache völlig sicher, und Johannes war darum klar, daß er sein »Heil Moskau!« niemals bereuen würde und vielleicht sogar froh war für den Suff, der ihm endlich erlaubt hatte, es in Richtung der richtigen Adresse auszurufen. Denn der junge Starrkopf hatte ganz einfach damit rechnen müssen, daß sich in der Gaststätte, in der er sich mit einigen Gleichgesinnten getroffen hatte, auch solche befanden, die den Ruf an Vollmer weiterleiten würden.

»Wo ist er jetzt? Was machen sie mit ihm?« fragte Johannes seine Tochter. »Vollmer läßt ihn von SA-Männern durch alle Ortschaften der Ortsgruppe führen! In Rabenbach waren sie schon, nachher werden sie auch zu uns kommen!«

»So ein Lump!« empörte sich Johannes, »nicht Jupp, sondern Vollmer hätte man das Schild umhängen sollen!«

Was er da gesagt hatte, schien ihm zu gefallen, denn er wiederholte es noch mehrere Male, zu Hause, bei Nachbarn, die mittlerweile auch von der Sache erfahren hatten, und, sonst wäre er nicht Johannes gewesen, natürlich auch bei denen, die sich neugierig um den jungen Mann scharten, dem man tatsächlich ein Schild vor die Brust gehängt hatte mit der niederträchtigen, sorgfältig in großen Buchstaben gemalten Aufschrift, die allerdings so gar nicht zu dem hocherhobenen Haupt und dem stolzen Blick passen wollte, mit dem sein Träger die für Vollmers Geschmack viel zu kleine Menschenmenge musterte, die ihn umgab.

Johannes regte sich an diesem Tag mächtig auf, und er beschloß, dem Ortsgruppenleiter einmal so richtig die Meinung zu sagen. Agnes, die nicht weniger erregt, aber wie stets mehr beherrscht war, gelang es nur schwer, ihn zu beruhigen. »Sie werden ihm schon nichts tun!« und: »Denk doch auch mal an deine Familie«, redete sie immer wieder auf ihn ein und glaubte damit beinahe schon Erfolg zu haben, als nur Stunden später plötzlich ein Pg vor dem Haus auftauchte, den sie gleich als einen von Vollmers Wachhunden erkannte: »Sind Sie Frau Zimmermann?« fragte er sie und wartete nicht einmal ihr Nicken ab: »Dann richten Sie ihrem Mann aus, er möge zum Ortsgruppenleiter kommen. Morgen abend, 20.00 Uhr.« Mit einem schmissigen »Heil Hitler!« drehte er sich auch schon auf seinem Absatz herum und eilte von dannen.

Nun war es also soweit. Johannes wurde für seinen Dickschädel zur Rechenschaft gezogen: sie hatten Vollmer angetragen, was er gesagt hatte. Wahrscheinlich würde er verhaftet werden und sie mit den Kindern so, wie er es immer von seiner Mutter erzählt hatte, alleine dastehen. Agnes hätte die Nachricht am liebsten ihrem Mann verschwiegen, doch wußte sie, daß sie das nicht tun durfte. Vollmer würde die Angelegenheit niemals auf sich beruhen lassen, und Johannes nähme es ihr garantiert furchtbar übel, wenn sie für seine Person auch nur den Verdacht von Feigheit aufkommen ließe. Als sie ihm dann von der Vorladung berichtete, reagierte er selbstverständlich genau so, wie sie es erwartet hatte: »Na wunderbar, da kann ich ihm ja doch noch ins Gesicht sagen, was ich von ihm halte! Wurde auch höchste Zeit!«

»Bitte Johannes, reiß dich zusammen, der Vollmer sitzt am längeren Hebel!« flehte Agnes geradezu. »Das werden wir schon noch sehen«, brummte ihr Mann nur grimmig, wobei es ihm allmählich durchaus dämmerte, daß er nun vielleicht doch nicht mehr anders konnte, als die Dienste von Gregors Bruder in Anspruch zu nehmen. Gregor war nämlich ein netter Mensch, der in einem kleinen Städtchen, Hadamar, in der Nähe von Limburg wohnte; mit ihm konnte man wunderbar auf die Nazis schimpfen, und schließlich war er sein Cousin: letzteres war sein Bruder zwar auch, aber im Gegensatz zu Gregor war er ein gestandener Nazi, der es in dieser Gegend bis zum Ortsgruppenleiter gebracht hatte. Wohl nur aus der Position heraus war es ihm sogar möglich gewesen, die Freundschaft von Kreisleiter Schulz zu erwerben, und die, so betonte Gregor immer wieder, konnte man im Ernstfall leicht ausnutzen, denn sein Bruder war für ihn ein viel zu großer Wichtigtuer, als daß er sich eine Gelegenheit entgehen lassen würde, der Familie zu beweisen, was für ein einflußreicher Herr aus ihm geworden war.

 

Bevor er diese Beziehung in Anspruch nahm, wollte Johannes aber erst selbst ein ernstes Wort mit Vollmer reden – vielleicht war die Hilfe Gregors dann gar nicht mehr nötig. Er überlegte sich genau, was er sagen würde: »Herr Ortsgruppenleiter, wenn Sie meinen, daß man so mit Menschen umspringen darf, wie Sie das tun, dann muß ich diese Meinung ja nicht unbedingt teilen«, – dieser Satz gefiel ihm besonders gut, und er hatte auch lange suchen müssen, bis er die richtige Formulierung fand. Nicht nur über das, was sie mit Jupp gemacht hatten, würde er sich beschweren, oh nein, noch eine ganze Reihe von anderen Dingen würde er zur Sprache bringen, und wenn ihm dann noch Luft blieb, wollte er vielleicht auch die lächerlichen Intrigen von Franz aufs Tapet bringen.

Es kam jedoch alles ganz anders. Am nächsten Abend, Johannes war bereits dabei, die Karbidlampe seines Fahrrads zu füllen, um für die nächtliche Fahrt gerüstet zu sein, da kam Wilhelm zu ihm, der treue Wilhelm von nebenan, der zu den Leuten gehörte, die Johannes immer dann aufsuchte, wenn er einmal so richtig Dampf ablassen mußte: bei denen er nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen mußte und bei denen er, weil sie die Parteigenossen genauso wenig mochten wie er selbst, schon gar keine Angst haben mußte, daß sie ihn verrieten.

Als Wilhelm nach einer Viertelstunde nach Hause ging, hatte er ungewollt einen der wenigen Streits zwischen Agnes und Johannes vom Zaun gebrochen, die wirklich diese Bezeichnung verdienten, und es stand jetzt schon fest, daß sie an diesen selbst dann noch denken würden, wenn die Erinnerung die unangenehmen Dinge des Lebens weitgehend gestrichen hatte: In der Küche stand einsam Johannes, mit zorniger Miene zunächst; nach einer Weile setzte er sich, sein Gesichtsausdruck war immer noch sehr ernst, bis er sich dann ganz allmählich entspannte und schließlich sogar Platz ließ für ein stilles, nach innen gekehrtes Lächeln, das von niemandem gehört zu werden brauchte, weil es nur eine vollkommene Zufriedenheit ausdrückte, von der der eben noch so wütende Mann trotz aller Wirren um ihn herum plötzlich erfüllt war. Und zu verdanken hatte er dieses wohlige Gefühl natürlich niemand anderem als seiner Frau: Wie sehr hatte sie ihm heute abend den Kopf gewaschen!

Wie mit einem Schuljungen war sie mit ihm umgesprungen, und, je mehr Johannes nachdachte, so kam er immer deutlicher zu dem Ergebnis, daß sie – wie so oft – recht gehabt hatte. Er wäre tatsächlich kein guter Vater gewesen, vom Ehemann ganz zu schweigen, wenn er trotz Wilhelms Warnung zu Vollmer gefahren wäre. Wenn der tatsächlich eine Reihe von SA-Männern zusammenbestellt hatte, um ihn zu verprügeln, und es bestand kein Grund, an Wilhelms Worten zu zweifeln, dann mußte Johannes notgedrungen den kürzeren ziehen, und es war eigentlich Unsinn gewesen, wenn er sich nun, wo schon die Sachargumente nicht mehr zählten, allein auf seinen stattlichen Körperbau verlassen wollte.

Sicher, bei Prügeleien hatte er früher meist die Oberhand behalten, doch waren, wie Agnes natürlich richtig bemerkt hatte, seither Generationen vergangen, und Johannes, den sie damit eben noch bis ins Mark getroffen hatte, war heute nun wirklich fast ein alter Mann. Die Familie hatte an erster Stelle zu stehen, das hatte ihm Agnes eben klar gemacht, und wenn so ein sturer Basaltbrocken, wie er das ihrer Ansicht nach war, dies partout nicht begreifen wollte, dann mußte man ihm eben kräftig die Leviten lesen!

Trotz oder gerade wegen der Auseinandersetzung mit Agnes war Johannes von einer tiefen Dankbarkeit erfüllt: Niemals hätte er es als junger Mann, dem die Schande anhing, die der Vater über die Familie gebrachte hatte, auch nur in seinen kühnsten Träumen gewagt, sich eine solche Frau auch nur zu wünschen: heute hatte er sie, hatte mit ihr zwei wohlgeratene Kinder und wollte das alles aufs Spiel setzen, nur um einem Menschen wie Vollmer zu zeigen, daß er kein Feigling war!

Und so gab er seiner wunderbaren Agnes im nachhinein, still natürlich, ohne daß sie jemals davon erfahren hätte, die Einwilligung, die er ihr vor wenigen Minuten noch versagt hatte, nämlich – das Bürgermeisteramt hatte damals noch kein eigenes Telefon – zur Post zu gehen, Vollmer anzurufen und ihm zu sagen, ihr Mann sei mit dem Fahrrad gestürzt und könne heute abend nicht kommen, genauso wie sie es gewollt hatte und nun eben ohne seine Zustimmung tat. Was Johannes jedoch seinerseits wieder nicht wußte, war, daß sie in dem kurzen Gespräch hinzufügte, es stehe dem Ortsgruppenleiter, sofern er dies wünsche und es ihm besonders eilig sei, selbstverständlich frei, den Bürgermeister in den nächsten Tagen zu Hause aufzusuchen! Dies war schon fast verwegen, doch sollte Vollmer – da vertrat die tapfere Frau genau die gleiche Meinung wie ihr Mann – nicht denken, daß sie sich vor ihm fürchteten. Nein, sie war sich ganz sicher: der Ortsgruppenleiter würde niemals auf ihren Vorschlag eingehen, denn beim Besuch im Bürgermeisteramt konnte er ja schließlich seine Kettenhunde nicht mitnehmen!

Doch Vollmer kam. Eines Tages, als Agnes alleine zu Hause war, stand er plötzlich in der Küche, mit gezogenem Säbel und einem Gesicht, das verriet, welche Mühe er sich machte, ihr Angst einzujagen. »Ist Ihr Mann da? Ich werde ihn jetzt verhaften, denn er hat einen Nationalsozialisten beleidigt!« schrie er sie mit seiner dünnen Fispelstimme an, wohl hoffend, daß er die kleine Frau dadurch gewaltig einschüchtern werde. Agnes jedoch blieb ihrerseits vollkommen ruhig, wischte sich die Hände an der Schürze ab und trat sogar noch einen Schritt auf den Ortsgruppenleiter zu, um ihm dann nur die wenigen Sätze ins Gesicht zu schleudern: »Auch wenn Sie mit Säbel kommen, mir können Sie keine Angst einjagen. Mein Mann hat nichts Unrechtes getan, und Sie haben überhaupt kein Recht, ihn festzunehmen!« Wohl war es mehr die Entschlossenheit, mit der die kleine Frau so unerwartet auftrat, als die Tatsache, daß er plötzlich über das nachzudenken begann, was sie ihm so dreist auf den Kopf zu gesagt hatte, die Vollmer, der doch eigentlich die Überraschung auf seiner Seite geglaubt hatte, sich seiner Sache plötzlich gar nicht mehr so sicher sein ließ, ihn schließlich sogar in völlige Verwirrung versetzte, so daß er am Ende nurmehr imstande war hervorzubringen: »Ich habe doch nur einen Scherz machen wollen. Nichts für ungut.« Und dann ging er, ging ohne ein weiteres Wort, in die Flucht geschlagen von einer unbedeutenden kleinen Bäuerin: in dem Moment, als er durch die Haustür verschwunden war, spürte Agnes ein Zittern in ihren Gliedern, wie sie es nur als Kind einmal verspürt hatte, nämlich da, als sie in der Schule die Lösungen von Rechenaufgaben auf ihre Hand geschrieben und der Lehrer angekündigt hatte, er werde sie alle kontrollieren – doch war sie sich sicher, daß ihre Aufregung eben im Gegensatz zu damals, als man sie deshalb erwischt hatte, nicht nach außen gedrungen war, denn sonst wäre der Ortsgruppenleiter, der mächtige Vollmer, der doch nur gekommen war, weil er wußte, daß Johannes nicht zu Hause war, nicht so ohne weiteres vor ihr davongelaufen.