Beten bei Edith Stein als Gestalt kirchlicher Existenz

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

5 Sichtung der Konturen des Gebets im Lebensvollzug der Edith Stein

Im Gang der Untersuchung wird der Begriff „Kontur“ als die sichtbare Weise der Erscheinung verstanden, in Form derer die Gestalt des Betens bei Edith Stein sich manifestiert und sukzessive erscheint. Eine sich formierende Gestalt soll somit vermittels der sich zeigenden Konturen erschlossen werden.

Dabei tritt unvermeidlich das Problem auf, dass in der Wahrnehmung von optischen Konturen eine Perzeption von Gestalt immer schon virulent wird. Was sich im Großen der biographischen Betrachtung des Gebets bei Edith Stein als Problem anzeigt, das begegnet später erneut in analoger Weise bei der Sichtung der geistlichen Texte unserer Autorin im Kleinen: Die gesuchte Gestalt wirkt schon unweigerlich bei der Wahrnehmung mit, sobald dem interessierten Betrachter eine Kontur ansichtig und beschreibbar wird. Jüngerer Untersuchungen353 zum Zusammenhang von Lyrikrezeption und neuronalen Prozessen belegen die Bedeutung der Gestaltwahrnehmung im menschlichen Erkennen: „Unsere visuelle Wahrnehmung dient primär dazu, […] Zusammenhängendes zu entdecken und Tarnungen zu überlisten, Figuren also aus ihrem Hintergrund herauszuholen. […] Die Hauptaufgabe unserer an die dreißig verschiedenen visuellen Areale ist es, Objekte im Gesichtsfeld zu umreißen.“354 Dabei zielt die menschliche Kognition darauf ab, in partiellen optischen „Kohärenzen“ in Form von „Figurationen“, „Isolationen“ und „Metaphern“ jeweils nach einem „Gestaltprinzip“ Ausschau zu halten.355 Die dabei im Prozess des Erkennens entstehende und oben skizzierte Spannung besteht auf die vorliegende Studie bezogen näherhin darin, dass die Einzelaspekte der jeweiligen Gebetskonturen erst in ihrer Gesamtheit die ganze Gestalt ausmachen, ein Verständnis von Gestalt aber schon im ersten Blick auf die betende Existenz der Edith Stein formierend für das Verständnis der jeweiligen Einzelaspekte sowie deren Zusammenhang mitwirkt. Wie kann also vermieden werden, dass in der Sichtung der Kontur lediglich als reines Konstrukt hineingelesen und gleichsam nur noch Zug um Zug aufgefüllt wird, was zuvor in einer vom Betrachter bereits entworfenen Gestalt schon vollends vorliegt?

In diesem Abschnitt der Studie dient der Hinweis auf diese Frage erstens dazu, Sensibilität dafür zu wecken, dass in jedem Moment der Sichtung von Konturen des Betens der Edith Stein bereits Momente von Gestaltwahrnehmung mitwirken, die in der Psyche des Betrachters entstanden sind. Dabei ist zweitens davon auszugehen, dass dabei im Wahrnehmen einer jeweiligen Kontur dem Betrachter Akzente in den Sinn kommen, die sowohl ursprünglich vom betrachteten Gegenstand selbst herrühren, als auch von der vorgängig dazu gegebenen Gestaltwahrnehmung(shaltung) des Betrachters. Es ist daher mithin von einer unvermeidlichen Verschränkung auszugehen, bei der das Gesehene und die Optik des Betrachters einen unhintergehbaren „hermeneutischen Zirkel“ von Noema und Noesis bilden. Dieser Zirkel erfährt jedoch am ehesten eine gewinnende Gravitation auf den betrachteten Gegenstand hin, je deutlicher der Betrachter sich der unvermeidlichen vorläufigen Projektion von Deuteschemata auf den Gegenstand des Interesses bewusst ist. Wo eine Sichtung der Konturen des Betens der Edith Stein im Blick behält, dass nur im je neuen Absehen und der „Dekonstruktion“ von vorläufigen Entwürfen dem nahe zu kommen ist, was sich bei Edith Stein betend manifestiert hatte, dort wird es am ehesten gelingen, der je individuellen Gestalt zu begegnen, die ihr Beten ausmachte. Der interessierte Betrachter ihrer betenden Existenz ist daher zu etwas gerufen, was jedoch keineswegs so selbstverständlich und mühelos gelingen kann: Das „Haltmachen“ der eigenen Voreinstellungen und die „Einklammerung“ der Voreinstellungen und -urteile mit Blick auf das Begegnende, damit die „Sache an sich“ zu Gesicht kommen kann. Dazu fordert die Phänomenologin Edith Stein ausdrücklich auf. Sie beschreibt in ihrer Vorlesung „Einführung in die Philosophie“ 1932/33 die idealtypische Haltung des Erkennenden im Erkenntnisprozess: „Das theoretische Subjekt ist ganz offenes Auge, das ‚uninteressiert‘ – d. h. unbeirrt durch praktische Interessen – in die Welt hineinschaut. […] Ich möchte mich selbst auslöschen […] wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt […] geht darauf aus, in völliger selbstloser Hingabe die Sachen selbst zu erfassen.“356 Wenn nachfolgend die örtliche, temporale, formale und inhaltliche Kontur des Betens im Leben der Edith Stein gesichtet wird, dann soll dabei die oben von Stein beschriebene Haltung das Vorgehen orientieren.

5.1 Orte des Gebets

5.1.1 Nachweis von Gebetsorten

Um die Gebetsorte unserer Autorin zu ermitteln, werden die von ihr verfassten Schriften in den 27 Bänden der Edith-Stein-Gesamtausgabe gesichtet. Hinzu kommen Äußerungen von Zeitzeugen in Briefen oder bei Befragungen im Rahmen des Prozesses zur Selig- und Heiligsprechung, die schriftlich niedergelegt wurden. Die dritte Gruppe von Quellen bilden Wortmeldungen über Edith Stein in der Sekundärliteratur. Es finden in der vorliegenden Studie nur jene Orte Beachtung, die in diesen Quellen ausdrücklich erwähnt werden. Das heißt natürlich nicht, dass die spätere Karmelitin ausschließlich nur an diesen Orten ins Gebet gefunden habe. Es darf im Gegenteil vielmehr angenommen werden, dass eine Frau, die sich innerlich und äußerlich auf den Weg zum geistlichen Leben des teresianischen Karmel geführt erlebte,357 vielerorts und immer aufs Neue vom Geschehen des Gebets berührt war, prinzipiell an jedem Ort, an den sie gelangte. Was die Karmelregel den Schwestern nahe bringt, dass sie nämlich jederzeit „Tag und Nacht im Gesetz des Herrn betrachtend und im Gebet wachend sein sollen“358, von diesem Leitbild jedenfalls war Edith Stein schon weit vor ihrem Ordenseintritt affiziert. So ist mit Blick auf die Nähe unserer Autorin zum monastischen Stundengebet belegt, dass Edith Stein schon früh ein Brevier besessen haben dürfte, nämlich bereits um die Zeit nach ihrer Taufe, in der sie auch einen Katechismus erwarb und ein Messbuch.359 Für eine hohe Affinität zum monastischen Leben sprechen desweiteren ihre Lebensweise in Speyer im Geiste der evangelischen Räte und ihr Interesse, beständig an den Horen des Dominikanerinnenkonvents teilzunehmen, wann immer es ihr zeitlich möglich war. So wird im Kölner Selig- und Heiligsprechungsprozess bereits für die Zeit in Speyer Entsprechendes über die Lehrerin festgehalten: „Alle Freizeit widmete sie dem Gebet.“360 Von daher gesehen sind die in schriftlichen Quellen zugänglichen, sichtbaren Manifestationen betender Existenz, wie sie im Verlauf des Lebens der späteren Karmelitin zutage treten, ‚nur‘ ein Ausschnitt aus einem größeren Ganzen. Vergleichbar einem augenfällig sichtbaren Eisberg und dem diesen im Verborgenen tragenden, unsichtbaren Größeren ließe sich bei Edith Stein auf eine dem sichtbaren Gebet zugrunde liegende, tragende und umfassende Lebensprägung schließen, die jedoch nicht vollständig ins Äußere hinein sichtbar wurde.

Hinzu kommt, dass Edith Stein in Briefen bisweilen zurückhaltend damit war, ihr Innenleben preiszugeben. Daher muss davon ausgegangen werden, dass die von ihr schriftlich hinterlassenen Zeugnisse vieles ungesagt lassen, was bei ihr virulent war. Ihre Nichte schreibt dazu: „Edith war gewohnt, die ihre Person betreffenden Gedanken für sich zu behalten. Im Allgemeinen ist das, was ihre Briefe verraten, nur ein kleiner Bruchteil dessen, was sie innerlich bewegte.“361 Den gleichen Eindruck von unserer Autorin gewinnt ihre langjährige Freundin und von ihr ausgewählte Taufpatin Hedwig Conrad-Martius. Die Phänomenologin war für unsere Autorin sowohl in menschlicher als auch wissenschaftlicher362 Hinsicht von Bedeutung. Sie schreibt: „Sodann war Edith Stein, die spätere Sr. Teresia Benedicta a Cruce eine außergewöhnlich verschlossene, in sich versiegelte Natur.“363 So mag vieles vom Innenleben unserer Autorin nie nach außen gelangt sein.

Aber selbst auch dort, wo etwas davon an einem benennbaren Ort in Erscheinung tritt, bleibt in allem, was sich zeigt, stets etwas Verborgenes und Unbenennbares. Es ist etwas, das sich dem Zugreifen in jeder Form bleibend entzieht. In diesem Sinne kommen alle aufgeführten Orte, an denen Edith Stein als Betende in Erscheinung tritt, darin überein, dass sie Fundstellen für eine partiell sichtbare Außenseite sind von etwas, das nur zum Teil in die Sphäre des Augenfälligen tritt. Mit dieser doppelten Einschränkung, dass die erwähnten Orte nur ein Ausschnitt sind und dass an diesen Orten nie alles sichtbar wird, was sich im Gebetsleben zuträgt, seien im Folgenden die bezeugten Orte benannt, an denen Edith Stein als betender Mensch in Erscheinung getreten ist. Zuvor ist noch auf den wichtigen Zusammenhang hinzuweisen, der zwischen dem äußerlich lokalisierbarem Ort und dem innerem Ort des Gebets besteht.

5.1.2 Äußerlich situierbarer und innerer Ort des Gebets

Bei der Frage nach den äußeren Orten der betenden Existenz Edith Steins ist zu beachten, dass an jedem äußerlich situierbaren Ort stets und zugleich ein ‚innerer Ort‘ als geistlicher Raum des Gebets ‚betreten‘ wird. Wo unsere Autorin auf diesen intrapsychisch situierten Ort zu sprechen kommt, steht ihre Diktion in der Tradition der karmeltianischen Gemeinschaft und diese wiederum in der Tradition mystischer Sprachformen im Christentum. In diesem doppelten Horizont seien die Äußerungen Steins in knapper Skizzierung eingeordnet. So mag vermieden werden, dass der betonte Blick auf die Außenseite ihres betenden Menschseins unversehens in eine veräußerlichte Betrachtung abgleitet, die dem Geschehen nicht entsprechen könnte. Vielmehr ist eine Integration von Innen- und Außenperspektive des betenden Geschehens mit Blick auf dessen topographische Manifestationen anzustreben.

 

5.1.2.1 Der innere Ort des Betens in der Diktion der Karmelheiligen

Den innerseelischen Ort des Betens beschreiben die Heiligen des Karmel in verschiedener Weise. Bei allen Exponenten dieser Ordenstradition ist er jedoch von höchster Bedeutung. Die intime Begegnung der Seele mit dem, was sie zuinnerst angeht, ist an diesem Ort lokalisiert. Wo Vertreterinnen und Vertreter der karmelitanischen Ordensfamilie ihre Auffassung eines innerpsychischen Ortes der Begegnung zwischen Mensch und göttlichem Gegenüber in farbiger, bildhafter Rede formulieren, sind sie als Teil der christlichen Tradition der Mystik erkennbar. Alois Maria Haas erhellt diese sprachbildnerische und -performative Dimension mystischer Äußerungen in ihrer Herkunft aus der „Geburt des Wortes im Herzen des Gläubigen“. Die bildhaften Darstellungen sind Haas zufolge ein Reflex auf eine spezielle Berührung, die innerseelisch geschieht. Dieses Geschehen sucht nach Ausdruck und Form: „Dabei stehen Sagbarkeit u. Unsagbarkeit der Erfahrung in einem produktiven Wechselverhältnis, so daß die myst. ‚Sondersprache‘ durch die exzessive Anwendung besonders durchschlagender Redeformen geprägt erscheint. Sie bevorzugt rätselhafte, d. h. poet. Bilder (Vergleiche, Metaphern, Allegorien, Symbole) ebenso wie die Formel sprachlicher Intellektualität (Paradoxa, Negationen, Kontradiktionen, Oxymora, Tautologien.“364 In diesem Rahmen sind die Äußerungen der Karmelheiligen zum innerseelischen Ort des Gebets zu sichten, was nachfolgend in knapper Skizzierung versucht wird.

Bei allen Autorinnen und Autoren aus der geistlichen Tradition des Karmel bleibt – ungeachtet der verschiedenen Bilder, in denen ein Ort konturiert wird – eine personale Dimension der Begegnung bestimmend, die atmosphärisch oder ausdrücklich eine Orientierung an der Gestalt Jesu Christi erkennen lässt. Insbesondere seiner Menschheit wird dabei betonte Beachtung geschenkt. Hinsichtlich der ausgeprägten und betonten Christozentrik der karmelitanischen Spiritualität sei exemplarisch verwiesen auf die „Rede von Gottvater“ bei Johannes vom Kreuz im zweiten Buch seines Werks „Aufstieg auf den Berg Karmel“.365 Dort wird der Blick des gottsuchenden Menschen bleibend und mit Nachdruck auf die Gestalt Jesu Christi gelenkt: „Wer deshalb jetzt noch Gott befragen oder eine Vision oder Offenbarung von ihm wünschen wollte, beginge nicht nur eine Dummheit, sondern er würde Gott eine Beleidigung zufügen, weil er seine Augen nicht ganz und gar auf Christus richtet, ohne noch etwas anderes oder neues zu wollen. Gott könnte ihm nämlich folgendermaßen antworten und sagen: Wenn ich Dir doch schon alles in meinem WORT, das mein Sohn ist, gesagt habe und kein anderes mehr habe, was könnte ich Dir dann jetzt noch antworten oder offenbaren, was mehr wäre als dieses? Richte Deine Augen allein auf ihn, denn in ihm habe ich Dir alles gesagt und offenbart, und du wirst in ihm noch viel mehr finden, als Du erbittest und ersehnst. Du bittest nämlich um innere Ansprachen und Offenbarungen über Teilbereiche, doch wenn Du Deine Augen auf ihn richtest, wirst Du es im Ganzen finden, denn er ist meine ganze Rede und Antwort, er ist meine ganze Vision und Offenbarung“.366 Entgegen einer in christologischer Perspektive denkbaren monophysitischen Gefährdung, die anfällig für gnostische Tendenzen wäre, sobald die menschliche Natur Jesu Christi aus dem Blick rückte, bleibt in der karmelitanischen Tradition der geschichtliche Bezug zur historischen Person Jesu und deren Geschick nicht nur erhalten, sondern dieser erfährt besondere Beachtung.

Dabei ist bei allen Beiträgen aus dem Karmel entscheidend, dass die vor diesem Hintergrund verwendeten bildhaften Formulierungen, ausgehend von Teresa von Ávila367 und Johannes vom Kreuz,368 die in dieser geistlichen Tradition sehr facettenreich konturiert sind – Innere Burg, Berg Karmel, Tempel der Dreifaltigkeit369, Naturlandschaft des „Geistlichen Gesanges“, brennendes Holz im Feuer bei der „Lebendigen Liebesflamme“ – nach Anschaulichkeit suchen für etwas, das prinzipiell überhaupt nicht in Worten erschöpfend zu fassen ist. Exemplarisch für zahlreiche diesbezügliche Belegstellen allein beim Ordensvater Johannes vom Kreuz370 sei auf das für unsere Fragestellung instruktive Vorwort des „Geistlichen Gesanges“ hingewiesen. Dort hebt der Kirchenlehrer die grundsätzliche Unaussprechlichkeit der mystischen Erfahrung hervor. Er sieht die Qualität dieser Erfahrungen in ihrer Verbindung mit dem Heiligen Geist, von dem die Gewahrwerdungen auf Seiten des Menschen herrühren: „Es würde vielmehr von Unwissenheit zeugen, wenn man meinte, dass das, was die Liebe in mystischer Gewahrwerdung sagt, auch nur annähernd mit Worten gut erklärt werden könnte. […] Denn wer könnte niederschreiben, was er den verliebten Menschen, in denen er wohnt, zu verstehen gibt? Und wer könnte mit Worten darlegen, was er sie erfühlen lässt? Und wer schließlich, was er sie ersehnen lässt?“371

5.1.2.2 Der innere Ort des Gebets bei Edith Stein

Auch für die Karmelitin Sr. Teresia Benedicta hat das Innere der eigene „Seele“372 als Ort ihres Gottesbezugs an jedem äußerlich benennbaren Gebetsort eine überdauernde Bedeutung. Gerl-Falkovitz führt zum Begriff der „Seele“ bei Edith Stein aus: „So erweist sich die Person als vielfältig in sich selbst unterschieden und doch als innigstes Gewebe. Der ‚dunkle Grund‘ leiblich-sinnlichen Lebens wird vom Geist durchformt und bleibt dennoch der freien Verfügung der Person geheimnisvoll entzogen. Für die Seele als Mitte des Ganzen trifft diese eigentümliche Vielfalt in erhöhtem Maße zu: Sie ist Sinnenseele im Leib, Geistseele, die sich selbst übersteigt, schließlich Seele, die bei sich selbst wohnt und worin das persönliche Ich zuhause ist. Diese „Seelenburg“, wie Edith Stein mit Teresa von Ávila sagt, ist die eigentliche Stelle der Übersetzung des Daseins nach innen und des Wirkens nach außen. Übersetzung deswegen, weil nichts wie ein leeres Gefäß einströmt, nichts Einlass findet, als was der Seele eingestaltet wird. Und von hier aus wird das Wirken nach außen geregelt, wohin die Seele in einem unendlichen Austausch überströmt.“373 Dem entspricht, was Edith Stein im Oktober 1938 von der Zelle im Inneren ihrer Seele schreibt: „Gewiß ist es schwer, außerhalb des Klosters und ohne das Allerheiligste zu leben. Aber Gott ist ja in uns, die ganze Allerheiligste Dreifaltigkeit. Wenn wir es nur verstehen, uns im Innern eine wohlverschlossene Zelle zu bauen und uns so oft wie nur möglich dahin zurückziehen, dann kann uns an keinem Ort der Welt etwas fehlen. So müssen sich ja auch die Priester und Ordensleute im Gefängnis helfen. Für die, die es recht erfassen, wird es eine große Gnadenzeit.“374

Der Ort im Innersten ist zwar nur zum Teil dem diskursiven Verstehen und der gedanklichen Durchdringung zugänglich, teilweise ist er nur mehr als „dunkler Grund“ zu erahnen.375 Gleichwohl hält die Karmelitin in ihrem philosophischen Werk „Endliches und ewiges Sein“ mit Blick auf den inneren Ort in der Seele fest: „Das Herz ist die eigentliche Lebensmitte. Wir bezeichnen damit das leibliche Organ, an dessen Tätigkeit das leibliche Leben gebunden ist. Aber es ist ebenso geläufig, darunter das Innerste der Seele zu verstehen […] Im ‚Inneren‘ ist das Wesen der Seele nach Innen aufgebrochen. Wenn das Ich hier lebt – auf dem Grund seines Seins, wo es eigentlich zu Hause ist und hingehört, dann spürt es etwas vom Sinn seines Seins und spürt seine gesammelte Kraft vor der Teilung in einzelne Kräfte. Und wenn es von hier aus lebt, dann lebt es ein volles Leben und erreicht die Höhe seines Seins.“376 Im weiteren Verlauf ihrer Überlegungen kommt Sr. Teresia Benedicta darauf zu sprechen, was sich an dem inneren Ort der Seele zuträgt. Es ist ein besonderer Einbruch neuen Lebens: „Das ist es aber, was die Kenner des ‚Inneren Lebens‘ zu allen Zeiten erfahren haben: Sie wurden in ihr Innerstes hineingezogen durch etwas, das stärker zog als die ganze äußere Welt; sie erfuhren dort den Einbruch eines neuen, mächtigen, höheren Lebens, des übernatürlichen, göttlichen.“377

Dieser Aspekt und was damit im Einzelnen zusammen hängt, das soll jedoch in der folgenden Darstellung dieses Kapitels nicht weiter im Fokus stehen. Stattdessen wird betont der Außenseite der betenden Existenz Edith Steins Augenmerk geschenkt. Was sich dort gleichsam an der sichtbaren Oberfläche der religiösen Praxis manifestiert, dem soll in beschreibender und sammelnder Form das Interesse gelten. So mag Zug um Zug die Kontur ihres Betens in topographischer Hinsicht in Erscheinung treten.

5.1.3 Orte in den Jahren bis zur Taufe in Bergzabern am 1. Januar 1922

5.1.3.1 Beten in der Familie in Breslau

Seit ihrer Geburt am 12. 10. 1891 (dem jüdischen Versöhnungstag) in Breslau begegnet Edith Stein in ihrer Herkunftsfamilie ein Leben,378 das in religiöser Hinsicht nach den Traditionen ihres Volkes und seiner religiösen Feste im Jahreskreis ausgerichtet ist. In ihrer autobiographischen Schrift „Aus dem Leben einer jüdischen Familie“ berichtet sie dem entsprechend von der häuslichen Feier des Sederabends, des Neujahrs- und des Versöhnungsfestes im Kreise ihrer Familie. Auch von den Gebeten, die dabei gesprochen werden, ist die Rede.379 So dürfte das erste Gebet, das unsere Autorin als Kind von ihren Geschwistern und der Mutter in Breslau hörte, ein jüdisches gewesen sein. Ob ihr dieses Gebet in deutscher oder hebräischer Sprache bzw. auf Jiddisch zu Gehör kam, muss offen bleiben. Wahrscheinlich ist jedoch, dass die Gebete in der Familie auf Deutsch gesprochen wurden.380 An Festtagen geht sie mit in die Synagoge, denn „Edith Steins Mutter, Auguste Stein, besaß einen gemieteten Platz in der Neuen Synagoge in Breslau, einer der größten Synagogen in ganz Deutschland.“381 Von den Besuchen der Mutter in der Synagoge und z. T. an Festtagen auch der älteren Geschwister berichtet Edith Stein ausdrücklich382 und erwähnt dabei, wie sie die Mutter beten sah.383 Am Versöhnungstag begleitet sie die anderen dorthin: „Wir Kleinen gingen zur Totenfeier in die Synagoge; darauf hielt meine Mutter, weil wir dabei unseres Vaters gedenken sollten.“384 In der Synagoge hört sie die dort üblichen Schriftvorträge, Auslegungen und Gebete. Letztere betet sie mit. Im Familienkreis daheim in Breslau werden ebenfalls in der üblichen Form Gebete im Alltag gesprochen. Sie bewegen Edith Stein offenbar, wie später ihre Freundin Hedwig Conrad-Martius berichtet: „Nichts hörte ich lieber, als wenn Edith mir von dem starken und strengen, aber auch wundervollen liturgischen Leben erzählte, das ihre Kindheit im Elternhaus beherrscht hat.“385

Ausdrücklich erwähnt Edith Stein die Begräbnisfeier ihres Onkels Jakob Courant, des Bruders ihrer Mutter, der sich das Leben genommen hatte. Die Zeremonien in der Leichenhalle, die Gebete und Redebeiträge des Rabbiners erscheinen ihr jedoch in retrospektiver Perspektive wenig tröstlich. Sie nimmt zu den Gebeten des Rabbiners eine skeptische und distanzierte Haltung ein, auch weil ihr die eschatologische Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod nicht zum Ausdruck kommt, was sie hingegen bei den christlichen Begräbnisfeiern erfährt und als tröstlich beschreibt. Im autobiographischen Rückblick schildert Edith Stein: „Der Rabbiner begann die Leichenrede. Ich habe viele solcher Reden gehört. Sie warfen einen Rückblick auf das Leben des Verstorbenen, hoben hervor, was er Gutes getan, und rührten damit den ganzen Schmerz der Angehörigen auf; etwas Tröstendes enthielten sie nicht. Es wurde zwar mit feierlich erhobener Stimme gebetet: ‚Und wenn der Leib zu Staub zerfällt, so kehrt der Geist zu Gott zurück, der ihn gegeben‘. Aber dahinter stand kein Glaube an ein persönliches Fortleben und an ein Wiedersehen nach dem Tode. Als ich viele Jahre später zum ersten Mal einem katholischen Leichenbegräbnis beiwohnte, machte mir der Gegensatz einen tiefen Eindruck. […] Nur unter ihrem Taufnamen wurde die arme Seele der göttlichen Barmherzigkeit anempfohlen. Doch wie tröstend und beruhigend waren die Worte der Liturgie, die den Toten in die Ewigkeit geleiteten.“386 Später lässt Edith Stein im Kontrast dazu eine wertschätzendere Haltung gegenüber jüdischen Gebeten erkennen.387 In einem Brief388 aus dem Jahre 1936 erwähnt sie das Gebetbuch der Mutter,389 das Edith Stein von der Schwester Frieda ausgeliehen hatte.390 Edith Stein bemerkt, dass sie sich daran erinnert, wie sie mit der Mutter einst auf dem Friedhof war. Dort las sie aus dem Gebetbuch391, das die Mutter ihr am Grab des Vaters hinhielt: „Frieda möchte ich noch einmal besonders für die Hanna danken. Es sind soviel Erinnerungen damit verknüpft. Als Kind habe ich sie Mama manchmal holen dürfen. Und als ich zum ersten Mal nach meiner Taufe mit ihr auf dem Friedhof war, betete sie erst selbst daraus und reichte mir dann aufgeschlagen das Gebet, das Kinder am Grab ihrer Eltern zu sagen haben. Ohne diese Erinnerung hätte ich vielleicht nicht den Mut gehabt, um dieses Buch zu bitten. Jetzt schlug ich gleich wieder dieses Gebet auf und fand darin den gleichen Glauben wieder, der uns so selbstverständlich ist und auf den ich mich jetzt so selbstverständlich stütze. Er ist dem Judentum nicht fremd, nur leider bei den meisten gar nicht lebendig.“392 Insgesamt wird im selbstbiographischen Rückblick der Karmelitin eine Atmosphäre greifbar, in der Religiöses im Familienleben präsent ist, jedoch mit Ausnahme der Mutter bei den anderen Familienmitgliedern nicht stärker verinnerlicht. Robert Schmidbauer OCD fasst es so zusammen: „Es ist eine Tragik, vielleicht mitbedingt durch den frühen Tod des Vaters, daß in der Familie Stein die Mutter ihren Glauben nicht auf die Kinder übertragen konnte. Aus der Entwicklung der Familie wissen wir, daß die Kinder so ziemlich alle in eine liberale Haltung gegenüber den angestammten Religionen der Väter abglitten. Religion, die in der Familie Stein gepflegt wurde, könnte man eine Religion zur Aufrechterhaltung der Familientradition nennen. […] Der Sabbat und die jüdischen Feiertage wurden zwar in der Familie gehalten; aber das waren mehr oder weniger Gebräuche, deren tieferen Sinn die Kinder nicht erfassten oder zumindest nicht in ihr späteres Leben einbauen konnten.“393 Auch in der Schule dürfte Edith Stein nur eine „äußerst oberflächliche religiöse Unterweisung“ im jüdischen Glauben erhalten haben, „die in der Oberstufe ohnehin entfiel. Der jüdische Religionsunterricht muss derart mangelhaft gewesen sein, daß er bei Edith Stein nicht den geringsten Eindruck hinterlassen hat“.394

 

Dem entsprechend wird, jedenfalls in der rückblickenden Perspektive der späteren Karmelitin Teresia Benedicta, eine innere Distanz zur überkommenen jüdischen Tradition erkennbar. Diese verliert in der retrospektiven Wahrnehmung und Darstellung der Edith Stein lebensprägende und alltagsorientierende Kraft.395 Dem gegenüber und in erkennbarem Kontrast zu den Erfahrungen in der Familie ist eine auf den Alltag bezogene Spiritualität für die später zum christlichen Glauben gelangte Edith Stein geradezu typisch. Wie der konkrete Tagesablauf beständig mit dem Glauben verbunden werden kann, darauf kommt Edith Stein in einer Ergänzung zu ihrem Vortrag über „Grundlagen der Frauenbildung“ vom 8. 11. 1930 in Bendorf zu sprechen. Sie schreibt am 12. 1. 1932 im Benediktinerinnenkloster St. Lioba: „Wenn wir morgens erwachen, wollen sich schon die Pflichten und Sorgen des Alltags um uns drängen (falls sie nicht schon die Nachtruhe vertrieben haben). Da steigt die unruhige Frage auf: wie soll das alles in einem Tag untergebracht werden? Wann werde ich dies, wann jenes tun? Und wie soll ich dies und das in Angriff nehmen? Man möchte wie gehetzt auffahren und losstürmen. Da heißt es die Zügel in die Hand nehmen und sagen: Gemach! Von alle dem darf jetzt gar nichts an mich heran. Meine erste Morgenstunde gehört dem Herrn. Das Tagwerk, das er mir aufträgt, will ich in Angriff nehmen, und er wird mir die Kraft geben, es zu vollbringen. […] Und wenn die Nacht kommt, und der Rückblick zeigt, daß alles Stückwerk war und vieles ungetan geblieben ist, was man vorhatte, wenn so manches tiefe Beschämung und Reue weckt: dann alles nehmen, wie es ist, es in Gottes Hände legen und ihm überlassen. So wird man in ihm ruhen können, wirklich ruhen und den neuen Tag wie ein neues Leben beginnen. Das ist nur eine kleine Andeutung, wie der Tag zu gestalten wäre, um für Gottes Gnade Raum zu schaffen.“396

Diese enge Verbindung von Glauben und Leben hat sie in der Herkunftsfamilie bei den meisten Familienmitgliedern so nicht antreffen können. Was sie an traditionellem Glaubensgut im häuslichen Umfeld erfährt, vermittelt ihr gleichwohl einen zweifachen Akzent von überdauernder Prägekraft. Zum einen berührt sie an diesem Ort eine tief im Alltag wirksame Glaubensprägung ihrer Mutter. Auguste Stein wird für Edith Stein bleibend als Präfiguration mütterlicher Geborgenheit und religiöser Prägung präsent bleiben. Zum anderen treten Edith Stein aber auch Momente von Verfall und innerer Verflachung des religiösen Lebens entgegen, das nicht im Stande ist, in existentiellen Krisen tragende Kraft zu entfalten. Den letztgenannten Akzent erblickt sie u. a. auch darin, dass sie im familiären Umfeld bei zwei ihrer Onkel erlebt, dass ökonomische Krisen suizidale nach sich ziehen, die schließlich tragisch mit dem Tode enden.397 So hat das jüdische Glaubensgut für die junge Edith insgesamt wenig Ausstrahlungskraft und bleibt gleichsam farblos für sie, sieht man, wie erwähnt, von der Gestalt der Mutter ab.

5.1.3.2 Mit 15 Jahren eine betonte Abwendung vom Beten

Sie habe sich „das Beten im Alter von 15 Jahren ganz entschieden und aus freiem Entschluß abgewöhnt“398, bemerkt Edith Stein in ihren autobiographischen Aufzeichnungen. Sie führt mit Blick auf den „zehnmonatigen“ Aufenthalt bei ihrer Schwester in Norddeutschland aus: „Die Zeit in Hamburg kommt mir, wenn ich jetzt darauf blicke, wie eine Art Puppenstadium vor. Ich war auf einen sehr engen Kreis eingeschränkt und lebte noch viel ausschließlicher in meiner inneren Welt als zu Hause. Soviel die häusliche Arbeit erlaubte, las ich. […] Außerdem waren Max und Else völlig ungläubig, Religion gab es in diesem Haus überhaupt nicht. Hier habe ich mir auch das Beten ganz bewußt und aus freiem Entschluß abgewöhnt.“399 Diese selbstbiographische Angabe hat bisweilen Anlass gegeben, hier eine entschieden atheistische Position bei der in der Pubertät stehenden Jugendlichen anzunehmen.400 Es wäre als Konsequenz daraus (falls eine atheistische Einstellung ihre damalige innere Haltung überhaupt trifft!) mit Blick auf unsere Frage nach Orten des Gebets mithin anzunehmen, dass die adoleszente Edith in dieser Lebensphase an keinerlei Orte mehr gelangt wäre, an denen ihr Beten zur lebendigen, bedeutsamen Erfahrung wurde. Trifft das jedoch wirklich zu? Wie darf man diese rückblickend formulierte, autobiographische Aussage werten, und was besagt sie im Kontext ihrer betonten Suche nach Wahrheit?

Die Nichte Edith Steins, Susanne Batzdorf, nimmt dazu Stellung. Sie kommt auf den zitierten Satz Edith Steins, sie habe sich das Beten aus freien Stücken abgewöhnt, zu sprechen: „Aus diesem einfach Satz haben mehrere Biographen und Interpreten den Schluß gezogen, daß Edith Stein im Alter von fünfzehn Jahren Atheistin geworden sei. Meiner Meinung nach wird damit dieser kurzen Bemerkung zu viel Gewicht beigemessen. Zum einen sagt Edith nur, sie habe aufgehört zu beten. Wir wissen nicht, was für Gebete damit gemeint sind. Waren dies kindliche Gebete, welche nun plötzlich an Bedeutung verloren hatten oder für eine Jugendliche, die zum ersten Mal fern von zu Hause war, nicht mehr passten? Zum anderen ist es ganz natürlich, das ein junges Mädchen, das nach Wahrheit sucht, wie es Edith Stein ihr Leben lang getan hat, zwangsläufig mit Zweifeln und Ungewissheit zu kämpfen hat. Während sie heranwuchs, mußte Edith zahlreiche Umbrüche in ihrer Gedankenwelt erleben. Daß eine Fünzehnjährige nicht mehr betet, kommt wahrscheinlich sehr viel häufiger vor, als daß sie diese Tatsache in sich selbst wahrnimmt und kommentiert.“401

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?