Zurück im Zorn

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Nur keine Sorge

Von der Koloniestraße schwenkte Anna auf eine einspurige Zufahrt, stapfte über den Schnee an brachen Feldern und verdorrten Distelstauden vorbei, und sobald sich in der Ferne das Gutshaus erhob, verlangsamte sie ihre Schritte.

Die Vormittagssonne erhellte die gesamte Südfassade, verwandelte die kleinen quadratischen Fenster in silbrige Schuppen. Majestätische Pappeln flankierten das Haus, und zwischen den Stämmen sah Anna den Schwarzen See schimmern, der sich wie glänzende Tinte in die Landschaft dehnte. Eine Schar Krähen stieg aus den kahlen Wipfeln empor, flog über sie hinweg und landete auf einem der Felder; das alles ohne Gekrächze, ohne das traurige »Rak Rak«. Das Anwesen ihrer Familie lag unter einer Glocke frostiger, fast geisterhafter Stille.

Anna betrat den verschneiten Parkplatz, in den die Zufahrtsstraße mündete. Die Spuren von Rollkoffern schlängelten sich durch den Schnee, während die Frostschutzdecken auf den wenigen Autos das Sonnenlicht reflektierten. Sie zog das Handy aus ihrer Manteltasche und prüfte die Uhrzeit. Der nächste Bus nach Rathenow fuhr in einer Stunde, immerhin. Sie versuchte, sich die Entschlossenheit in Person vorzuspielen, die Unerschütterliche, die Frau mit dem Plan. Selbsttäuschung als Antrieb und Motor, das bewährte Rezept. Sie klemmte die Daumen unter die Schultergurte ihres Rucksacks und überquerte mit festen Schritten den Parkplatz.

Als Anna nach dem Tod ihrer Eltern ins Gutshaus gezogen war, hatte dieser Parkplatz noch nicht existiert. Die intakten Zimmer hatten gerade für die Familie ausgereicht, der Rest war von Vernachlässigung und Zerfall geprägt gewesen. Im Putz hatten sich tiefe Risse bis hinauf ins dritte Stockwerk verzweigt; die Fenster waren gesplittert, die Dachschindeln brüchig, und im Gebälk hatten Schwalben gebrütet und Wespen labyrinthische Nester erbaut. Ein Paradies für Kinderaugen, eine Lebensaufgabe für Tante und Onkel. Heute präsentierte sich Anna eine Fassade, die in dem gleichen Pastell erstrahlte wie die Warteräume von Therapeuten und Zahnärzten.

»Nur keine Sorge«, hörte sich Anna sagen, »bei uns sind Sie gut aufgehoben.«

Ein kupferfarbenes Schild direkt neben der Eingangstür verkündete in kursiver Schrift:

Gutshaus am See

Inhaber: Stephan & Helene Majakowski

An der Stelle, wo früher eine Türklinke gesteckt hatte, krümmte sich nun ein senkrechter Griff aus Edelstahl; zweifellos waren ihr Onkel und ihre Tante geschmacklich in den 90ern hängengeblieben. Anna streifte ihre Handschuhe ab, und kaum dass sie das kühle Metall berührte, musste sie über ihre eigene Naivität den Kopf schütteln. Hatte sie tatsächlich geglaubt, die Zeit wäre hier stehengeblieben, eingefroren im Jahr 1995? Es kam ihr so vor, als hätte sie die wenigen Besuche seit ihrem Auszug unter dem Einfluss von Drogen oder Medikamenten hinter sich gebracht: der 50. Geburtstag ihres Onkels und später das Fest zum 50. ihrer Tante. Oder der spontane Überfall, als sie sich mit Paul im ewigen Liebesglück geglaubt hatte, ein Liebesglück, das die Vergangenheit und die Entfremdung zwischen ihr und ihrer Familie zu überstrahlen imstande gewesen war. Ein Liebesglück von allzu kurzer Dauer. Dem ersten Streit war die Einsicht gefolgt, dass selbst der kleinste Riss im Herzen einen größeren freizulegen vermochte. Für Anna gab es eben kein zack, zack und alles rein. Sie stampfte den Schnee von ihren Stiefeln, atmete durch und öffnete mit einem Ruck die Tür.

Im Foyer surrte die Heizung vor sich hin; auf dem roten Läufer die Abdrücke nasser Schuhsohlen. Die Sessel, die schon früher hier gestanden hatten, waren mit neuen lachsfarbenen Stoffen bezogen; in einem Prospekthalter klemmten Flyer, Broschüren und eine Sternkarte. Durch eine Schwingtür gelangte Anna in einen dämmrigen Speisesaal, und auch dieser Raum war menschenleer. Nachdem sie ihren Rucksack auf einem der vorderen Stühle bugsiert hatte, entdeckte sie am Ende des Saals den Wintergarten – der Neubau, von dem Danny Schmidt mit unverhüllter Missgunst gesprochen hatte. Sie lief an der Bar und den Tischen vorbei und blieb nahe der offenen Glastür stehen.

Zehn, bestenfalls fünfzehn Gäste nahmen gerade ihr Frühstück ein. Zwei Kinder fischten mit demonstrativer Ekelmiene die Pelle von ihrem Kakao; die übrigen Gäste mochten um die 50 oder älter sein. Ein Kerl schaute grimmig von seiner »MAZ« auf, als würde ihn Annas bloße Gegenwart am Lesen hindern; am Nachbartisch eine ältere Dame, die so selbstvergessen in die Landschaft starrte, dass es fast verdächtig wirkte. An einem größeren Tisch plauderten zwei Pärchen in ungehemmter Lautstärke, als würden sie ihre Geselligkeit lediglich vortäuschen. Unter Annas Nervosität gärte ein Gefühl der Scham; sie hatte den Eindruck, sämtliche Gäste wüssten, wer dort an der Glastür stand. Anna Majakoswki, die einzige Überlebende der Brandnacht. Das ewig zwölfjährige Mädchen.

Instinktiv trat sie in den Speisesaal zurück und verharrte im Halbschatten. Sie spähte über die Gäste hinweg nach draußen, und allein die Aussicht auf den See machte ihr deutlich, dass sie fort wollte, nicht nur von diesen Menschen, sondern von allem. Sie sollte nicht hier sein, denn das war kein namenloser See in Brandenburg, keine beliebige Villa im Havelland. Hast du toll gemacht, sagte sie sich. Typisch Anna. Sie versuchte ihre Unsicherheit mit einem Blick aufs Handy zu bekämpfen. 10. 25 Uhr. Mindestens drei Busse fuhren heute noch nach Rathenow.

»Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Anna wandte sich um und erkannte das Gesicht ihres Cousins. David Majakowski. Sie starrten einander an, als hätte keiner von ihnen die passende Reaktion parat. Ihr Anblick schien seine Gesichtszüge förmlich einzufrieren, allerdings konnte sie nicht sagen, ob vor Erstaunen oder Entsetzen. Das Gemurmel der Gäste und das Klirren des Bestecks rückten in den Hintergrund; zwischen ihnen nur Platz für Stille.

Ein Mädchen rennt mit einem Teddy im Arm die Stiege empor, die Wangen glühen vor Scham, denn weder die Beichtbriefe aus der »Bravo« noch die geheimen Runden mit den Freundinnen haben es auf ein solches Geschenk vorbereitet; und das Mädchen durchquert den langen Flur und eilt in die Stube, wo es den Teddy aufs Bett stellt, ganz nahe am Kopfkissen, sodass sie einander beschützen können, das Mädchen den Teddy und der Teddy mit seinen riesigen braunen Glasaugen die zwölfjährige Anna.

David öffnete seine Arme, machte einen Schritt auf sie zu und umarmte sie. Er war einen Kopf größer als sie und in dem Alter, das ihr Bruder heute gehabt hätte. Mit der Linken fuhr er ihr über den Rücken, einmal, zweimal, dann schob er sie sachte von sich, und in seinen Mundwinkeln formte sich ein Grinsen. Davids Grinsen, Davids Lächeln. Ein Ausdruck, der sie schon in ihrer Kindheit verhext hatte und der sie wieder zur kleinen, unreifen Cousine werden ließ.

»Mannometer«, sagte David, und gleich danach folgte jene Frage, vor der sie sich seit ihrer Abreise gefürchtet hatte. »Was machst du denn hier?«

Rosarote Schwäne

»Darauf hab ich lange gewartet!«, rief sie die Stiege hoch.

»Ich dachte, du wartest auf Martins Heimkehr?«

»Halt bloß den Rand, Willy.«

Während er die Treppe auf Socken hinabstieg, trug Lisbeth Stiefel und Lederjacke. In ihrer Faust hielt sie ein matt glänzendes Beil.

»Dir liegt das Rumschnüffeln wohl im Blut?«, fragte sie. »Oder bist du in deiner Horch-und-Guck-Zeit hängengeblieben?«

»Ich dachte, das wäre dein Verein gewesen.«

»Ich hab gesagt, du sollst die Klappe halten.«

Sie schlug mit dem Beilnacken so kräftig gegen das Geländer, dass er auf der Stelle stoppte. »Hopp, Hopp«, drängte sie, und noch bevor er die unterste Stufe erreichte, machte sie einen Schritt zurück. »Bleib bloß auf Abstand, sonst wird’s schmutzig.« Sie hob das Beil und grinste humorlos. »Los, in die Küche. Hopp, hopp.«

Als Willy die Diele durchquerte, konnte er nirgends seine Schuhe entdecken; sie musste das Paar weggeschafft haben, womöglich hatte sie es in den Ofen gefeuert. Der Hexe war alles zuzutrauen, und ihm kam der Gedanke, auf Socken abzuhauen, querfeldein zu seinem Auto.

»Falls du deine Botten suchst«, sagte sie, »die stehn am Ofen.«

»Hast wohl kein Holz mehr?«

Lisbeth hob das Beil und dirigierte ihn auf die eingebaute Bank hinter dem Tisch. Die Sitznische war bis auf Brusthöhe mit dunklem Holz vertäfelt, darüber hingen Bilder von Engeln und rosaroten Schwänen. Willy nahm Platz und entdeckte sogleich seine Schuhe; sie lehnten hochkant am Küchenofen, als hätte er sie selbst dort hingestellt. Der Tisch war mit einer Wachstuchdecke drapiert, und in der Mitte stand ein Glas, randvoll mit Treuepunkten vom Netto. Er hatte sich immer gefragt, wer solche Punkte sammelte und was es dafür geben mochte. Neben dem Glas lag das aktuelle Prospekt, Lisbeths Morgenlektüre. Er lehnte sich zurück, schob seine Hände in die Westentaschen, sodass die Daumen hervorlugten, und bemühte ein Dauergrinsen. »Willst du mir jetzt die Finger abhacken?«

»Das würde dir gefallen, nicht wahr?«

»Ich glaub, du schnallst nicht, wie tief du im Schlamassel steckst.«

»Ach, hör auf, Willy.«

Lisbeth entfachte das Gas, setzte Wasser auf, und das Beil blieb stets in Griffnähe. Mit ihren 63 Jahren besaß sie garantiert noch ein flinkes Händchen; immerhin sorgte sie seit geraumer Zeit für sich allein, hielt selbstständig Haus und Hof instand. Willy wusste, was das hieß: Man rückte die Dinge gerade, ohne dass jemand einem aus Dank oder Respekt auf die Schulter klopfte. Risse wurden gekittet, da es notwendig war, und nicht, weil es einem den Schlaf raubte oder andere mit dem Finger drauf zeigten. Verpflichtungen hielten einen am Leben, machten das Alleinsein erträglich. Nicht ohne Eifersucht dachte er daran, dass das alles für Lisbeth bald ein Ende haben würde.

 

Nachdem sie zwei Tassen mit Kaffeepulver gefüllt hatte, erklärte sie:

»Ich bin keine dumme Schachtel. Ich kenn deine Tour.«

»Welche Tour denn?«, fragte Willy.

»Das weißte doch am Besten.«

»Ich? Ich weiß gar nichts.«

»Du würdest dich freuen, wenn ich dir ’nen Finger abhacke. Dann könntest du deine Griffel überall rumzeigen wie ’ne dreischwänzige Katze.« Sie trat in den Raum, hob ihre Hand und knickte den Ringfinger weg. »Seht mal, das war die Berger. Die hat wohl am Blitz geleckt.« Sie trat an den Tisch und gestikulierte wild. »Ich hab euch ja gewarnt, aber ihr habt nicht auf mich gehört. Los, holt eure Messer und Knüppel. Wir räuchern ihre Bude aus, und Martin … den bammeln wir gleich auf.«

Willy befürchtete, sie würde sich vor seinen Augen in Rage reden; diese Frau war ganz und gar verrückt, genau wie ihr Sohn mit dem Pornoheft und dem Monstercomic und seinen aufgespießten Käfern.

»Tut mir leid, Willy. Du kannst deine Griffel behalten.« Sie schritt zurück an den Herd. »Ich hab dich längst durchschaut.«

»Kommt jetzt mein Horoskop fürs nächste Jahr?«

»Du willst den Leuten auf Teufel komm raus beweisen, dass du kein Psychopath bist«, fuhr sie fort. »Aber das kannst du dir abschmieren. Ich meine, hier hält dich eh jeder für plemplem.«

Willys Grinsen fiel in sich zusammen.

»Alle wissen, dass Eva für Ordnung gesorgt hat, nicht nur im Haus, sondern auch …« Sie reckte den Zeigefinger zur Stirn. »… in deinem Oberstübchen.«

Er sprang auf, grabschte nach der Wachstuchdecke und wollte sie mit einem Ruck vom Tisch reißen; im letzten Moment bremste er sich, Lisbeth hatte bereits das Beil zur Hand.

»Nur zu, Willy. Tu dir keinen Zwang an. Erst ist der Irre in mein Haus eingedrungen, dann hat er randaliert und mich bedroht.«

Obwohl er vor innerer Anspannung zu zerspringen drohte, strich er die Decke glatt, setzte sich wieder und neigte sich zurück. Auf dem Herdgitter wackelte der Kessel, als würde er jede Sekunde explodieren. Lisbeth zupfte an ihrem Kraushaar und starrte selbstvergessen in den Dampf.

»Eine Mutter muss ihr Kind beschützen.«

»Es gibt Grenzen«, erwiderte er. »Auch für dich.«

»Das kann bloß einer sagen, der keine Kinder hat.«

»Eva war eine gute Krankenschwester.«

»Ja und?«

»Auf der Kinderstation im PKR.« Die Worte kamen ihm schwer über die Lippen. »Ich kenn das, wenn man sich um die kleinen Racker sorgt.«

Lisbeth schüttelte nachsichtig den Kopf. »Das ist dein verdammtes Problem, Willy. Du hast es nie am eignen Leib erfahren. Du hast keine Ahnung.«

»Hast du deshalb Martin das Alibi verschafft? Aus Mutterliebe?«

Sie machte einen Satz vom Herd weg und ließ die flache Seite des Beils auf die Tischplatte krachen. Willy, der sich zu ducken versuchte, stieß gegen den Tisch, wobei das Glas mit den Treuepunkten umkippte und langsam zur Kante rollte.

»Wir waren in dieser Nacht zusammen, das habe ich dir gesagt.«

»Ich denke, als Mutter hättest du ihm sowieso ein Alibi verschafft.«

»Halt bloß die Schnauze.«

»Hast du nicht gemeint, eine Mutter muss ihr Kind beschützen?«

Statt zu antworten, stoppte Lisbeth das rollende Glas knapp vor der Tischkante und richtete es wieder auf, während das Beil in ihrer Rechten nicht zur Ruhe kam. Dann schauten sie einander an, und Willy hatte den Eindruck, in diesem Blickkontakt läge ein beiderseitiges Einverständnis, das Okay für einen vorläufigen Frieden.

Sie schob das Beil auf die Anrichte, und ehe sie den Kaffee einschenkte, strich sie sich mehrmals über den Oberschenkel. Willy war diese Geste allzu vertraut: Keinesfalls wollte Lisbeth ihre Kleidung glätten, sondern sie hoffte, die Erregung aus ihren Fingern streichen zu können, das Zittern, den verräterischen Tremor. Sie pustete über ihren Kaffee und nippte zaghaft. »Wenn ich dich hier nochmal sehe, passiert was Schlimmes.«

»Soll das ’ne Drohung sein?«

»Ich hab einiges von meinem Mann gelernt.«

»Hast du deswegen sein Bild …«

»Halt die Klappe«, unterbrach sie ihn. »Wenn man oft genug Prügel kriegt, lernt man, wo es wehtut.«

»Also doch ’ne Drohung?«, wollte Willy wissen, und Lisbeth funkelte ihn über ihre Tasse hinweg an, die Hände indessen ganz ruhig, der Mund verschlossen. »Ich hab dich was gefragt.«

»Spar dir die Spucke«, kläffte sie. »Du hast mich verstanden und damit basta.«

Er kapitulierte, und sie nippten stumm an ihren Tassen, ließen dabei einander nicht aus den Augen, wahrten den Frieden. Schließlich trat Lisbeth an den Küchenofen und bückte sich.

»So«, stellte sie fest. »Deine Botten sind trocken.«

Willy mangelte es an der passenden Reaktion; ein Spruch oder ein Grinsen wollten ihm nicht gelingen, und bevor er sich bei einer Lisbeth Berger bedankte, hätte er eher seine Zunge verschluckt. Also stierte er auf seine Schuhe, bis Lisbeth sagte:

»Soll ich sie dir noch anziehen, oder was?«

Er kroch hinterm Tisch hervor, und sobald er sich dem Ofen näherte, griff sie nach dem Beil und rückte auf Distanz. Er trug seine Schuhe wie ein braves Kind in die Diele und schlüpfte dort unter Mamas wachsamem Blick hinein.

»Martins Tage in Freiheit sind gezählt, das versprech ich dir.«

»Er ist geheilt. Das haben ihm die Ärzte bescheinigt.«

»Mag sein«, sagte Willy und schnürte sich die Schuhe zu. »Aber wer wegen Hämorrhoiden zum Arzt geht, wird wohl kaum am Kopf operiert.«

»Haste so ’ne Rede auch im Pub geschwungen?«

Sein Auftritt am Donnerstag hatte offenbar die Runde gemacht. Er zog den Schnürsenkel seines linken Schuhs so fest, dass ihm der Spann schmerzte, dann reckte er sich hoch und wandte sich in der Haustür ein letztes Mal um. Lisbeth, die auf der Schwelle zur Küche stand, beäugte jeden seiner Schritte.

»Martin braucht seine Koffer erst gar nicht auszupacken.« Ihm gelang ein breites Grinsen. »Ich hab neue Beweise, Lisbeth.«

Mit Genugtuung bemerkte er das Zucken ihres Unterkiefers, sah das Beil in ihrer Klaue beben, ihre ganze herrliche Ratlosigkeit. Er trat aus dem Haus und stapfte, ohne sich nochmals umzudrehen, über den Schnee in Richtung Auto. Als er die wohltuende Ofenwärme in den Schuhen spürte, hasste er Lisbeth Berger mehr denn je.

Wer kennt den nicht

David hatte sie in den Speisesaal bugsiert, zu einem der leeren Tische, fern der Pensionsgäste. Er servierte ihr ein Frühstück aus Kaffee, Konfitüren und Toast, dann pendelte er zwischen ihr und dem Wintergarten hin und her, räumte dort Tische ab und sorgte dafür, dass stets volle Kaffeekannen vorrätig waren. Sobald er sich ihr näherte, tastete sie unauffällig an ihrer Jeans nach einer offenen Naht.

»Sind deine Eltern unterwegs?«

»Ja«, sagte er und begab sich hinter die Bar. »Tagsüber manage ich den Laden allein.«

»Die ganze Pension?«

»Du siehst ja, ich arbeite mich nicht gerade tot.«

»Läuft wohl nicht so gut?«

»Na ja, die Bar ist über ’n Sommer kaum leerer geworden.«

Anna lehnte sich zurück und blinzelte gegen die aufkommende Müdigkeit an. Drei Fenster in der Größe von Kellerluken spendeten gerade so viel Licht, dass man zwischen Tag und Nacht unterscheiden konnte. Entlang der Wand eine Reihe Tische, die jeweils mit Servietten, einem Teelicht und einer Getränkekarte bestückt waren; rechts von ihr ein schmuckloser Tresen, der gleichzeitig als Bar und Rezeption fungierte. In einer unbeleuchteten Nische stand ein Klavier, schwarz, dekorativ und dennoch versteckt.

»Und spielst du wieder Elton John?«

»Wir lassen fast nie Musik laufen.« David nahm ein Glas vom Regal, pustete hinein und polierte es mit einem Geschirrtuch. »Die Alten wollen ihre Ruhe.«

»Ich meinte am Klavier.«

Er hielt inne und starrte über den Tresen in die Nische. »Das Ding rühre ich nicht mehr an.«

»Warum hast du damals eigentlich aufgehört?«

»Ich hatte andere Interessen.«

»Als Klavierspielen und Gedichte zu schreiben?«

»Ich war 16, Anna. 16.«

»Die Mädels haben dich jedenfalls angehimmelt.«

»Vielleicht hab ich genau deshalb aufgehört.«

Mit einem Grinsen schwang sich David das Geschirrtuch auf die Schulter. Sein kakifarbenes Hemd war bis zu den Ellbogen hochgekrempelt und hing lässig über seine Jeans; die Haare fielen ihm in die Stirn, wobei die Seiten auf wenige Millimeter gestutzt waren. Er hätte auch als Sozialarbeiter durchgehen können, allein sein Lächeln würde die richtigen Leute, insbesondere die Damen vom Jugendamt, dazu ermuntern, allerlei Töpfe zu öffnen. David kam hinter dem Tresen hervor, nahm ihr gegenüber Platz und schob ihr einen Schlüssel hin.

»Ist der für mich?«

»Für dein altes Zimmer.«

»Das existiert noch?«

»Irgendwie schon.«

Er schenkte sich Kaffee ein, stützte die Ellbogen auf und nahm einen Schluck. Über die Tasse hinweg bemerkte er:

»Du hättest ruhig anrufen können.«

»Weil ich euch besuchen will?«

»Ja.«

»Ich wusste nicht, dass ich mich anmelden muss.«

»Das habe ich nicht gesagt.« Er blieb die Ruhe in Person, während ihre Finger einen losen Faden an ihrer Jeans aufspürten. »Wir hätten uns Zeit nehmen können, deswegen.«

»Ich wollte euch nicht aus euerm Alltag reißen.«

David betrachtete sie mit seinen großen kindlichen Augen, als zeige sie einen Zaubertrick, der bei ihm anstelle von Erstaunen bloß Skepsis verursachte. Sie langte nach einer Scheibe Toast, biss hinein und kaute mechanisch; nur mit Mühe bekam sie den Bissen runter. »Ich muss dich mal was Blödes fragen«, sagte sie vorsichtig.

»Tu dir keinen Zwang an.«

»Ich meine, was echt Blödes.«

»Kein Problem. Schieß los.«

»Habt ihr in letzter Zeit komische Briefe bekommen?«

»Ja, einen.«

»Wirklich?«

»Ein Pärchen aus Hamburg hat uns geschrieben, sie würden uns total vermissen. Wir sind quasi deren zweite Familie.«

»Nein, ich meine komisch im Sinne von seltsam.«

»Das finde ich seltsam.« Er lachte. »Du nicht?«

Zwei Senioren mit metallenen Wanderstöcken passierten den Tisch in Richtung Ausgang; sie nickten David zu, worauf er ihnen einen schönen Ausflug wünschte. Er entschuldigte sich bei Anna und verschwand in den Wintergarten, um das benutzte Geschirr abzuräumen.

Mittlerweile hatte sie den Faden aus der Jeans gefriemelt, ihn um das oberste Glied ihres Zeigefingers gewickelt und zerrte nun daran, sodass sich das Blut in ihrer Fingerkuppe staute. Das letzte Gespräch, das sie dermaßen angespannt hatte, lag Monate zurück. Paul, ihr Exfreund, hatte sie gefragt, warum sie die Briefe nicht weggeworfen habe, obwohl sie es ihm hoch und heilig versprochen hatte. Damals war es noch ein Quartett durchgeknallter Briefe gewesen, das in dem Karton auf einen fünften wartete. Das Gespräch zwischen ihnen hatte in einem Streit gegipfelt und der Streit in handfester Gewalt. Am nächsten Tag war Paul ausgezogen, worauf sie Sonja erzählt hatte, er habe sie betrogen. Das war einfacher gewesen.

»Und was meinst du nun für Briefe?« David hatte wieder Platz genommen und starrte sie erwartungsvoll an.

»Ich meine so was wie Drohbriefe?«

»Wer soll uns denn drohen?«

»Keine Ahnung.« Sie zögerte. »Die Konkurrenz?«

»Du meinst Leute aus dem Dorf?«

»Zum Beispiel.«

»Wie kommst du denn darauf?«

»War bloß ein Gedanke«, sagte sie bemüht leichtfertig. »Kennst du einen Danny Schmidt?«

»Wer kennt den nicht.«

»Ich habe ihn im Bus getroffen. Er war ziemlich angefressen wegen eures Wintergartens.«

David winkte ab. »Der schiebt ’nen Film, weiter nichts.«

»Er klang eher verbittert.«

»Danny ist seit 20 Jahren verbittert. Keine Ahnung, was bei ihm kaputt gegangen ist, vielleicht liegt’s an seiner Kifferei.«

»Er hat behauptet, er wäre mit Lennart befreundet gewesen.«

»Er und Lennart?«

»Meinte er jedenfalls.«

»Der will sich bloß wichtigmachen.«

Aus dem Hintergrund tauchte ein Mädchen auf, teilte David mit, dass der Kakao alle sei, und er entfernte sich durch den Speisesaal in den Wintergarten.

Anna wandte sich zur Seite und gähnte aus vollem Hals. Aus Angst, vor Müdigkeit vom Stuhl zu kippen, stemmte sie sich hoch und studierte die Bilder an der Wand. Eine Fotografie zeigte ein düster dreinschauendes Elternpaar hinter düster dreinschauenden Kindern; vielleicht die ersten Gutsbesitzer oder irgendein Familienportrait aus dem 19. Jahrhundert, wie man es auf Trödelmärkten zu kaufen bekam. Daneben hing eine grobe Kohlezeichnung vom Schwarzen See und ein Grundriss, der die ursprüngliche Größe des Anwesens dokumentierte. Ein Viereck markierte ein Inspektorhaus, wenige Rechtecke die Wohnstätten der Gutsarbeiter. Nach dem Krieg wurden diese Gebäude wegen des Mangels an Baumaterialien abgetragen. Dann folgten mehrere Fotos, die den Zerfall der Villa zu DDR-Zeiten veranschaulichten. Den Abschluss bildete ein auf alt getrimmtes Familienportrait in schönstem Sepia: David, Helene und Stephan Majakowski vor dem Gutshaus stehend; von der kleinen Anna nicht mal ein Schatten.

 

David kehrte zurück, doch statt sich zu setzen, trat er hinter die Rezeption. Er polierte ein Glas nach dem anderen, noch immer die Ruhe in Person. Anna rutschte auf einen Barhocker, positionierte die Kaffeetasse vor sich und sagte:

»Aber von einem komischen Anruf hast du nichts gehört?«

»Du meinst von einem seltsamen?« Er grinste sie an, und ihre Finger glitten über ihr Hosenbein, fanden sogleich den losen Faden und zerrten daran.

»Ja«, entgegnete sie. »Genau, das meine ich.«

»Ist irgendwas in Berlin passiert?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sicher?«

»Absolut.«

Er warf sich das Tuch über die Schulter, stützte sich auf dem Tresen ab, und seine großen kindlichen Augen verrieten ihr, dass er nicht mehr an die alten Zaubertricks glauben mochte, ganz egal, wie effektvoll sie daherkamen. Mit gehobenen Brauen fragte er:

»Anna, irgendwas ist doch im Busch«, und der Faden riss von ihrer Jeans.

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