Zurück im Zorn

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SAMSTAG

Zu spät

Anna hatte sich in die letzte Reihe gesetzt – Rucksack auf dem Schoß, Mantelkragen an den Hals geschmiegt, Kopf voller Zweifel. Sie mochte es kaum glauben, dass sie tatsächlich den Zug nach Rathenow genommen hatte und dort in den Linienbus gestiegen war. Noch paffte der Busfahrer draußen eine Zigarette, noch konnte sie aussteigen und die Aktion abblasen.

Verunsichert schaute sie durch das Fenster auf das Bahnhofsgebäude. Der glutrote Klinker thronte über dem Vorplatz und verbannte den morgendlichen Osthimmel. Auf der anderen Straßenseite ein Wohnblock und davor eine Reihe spindeldürrer Bäume, die aus der Entfernung wie in die Fassade eingebrannte Silhouetten wirkten. Anna erinnerte sich, dass Mitte der 90er der Zugverkehr von Rathenow nach Berlin wegen Bauarbeiten stillgelegt worden war. Ihr Onkel hatte darüber zunächst getobt und später lediglich den Kopf geschüttelt; sie war zu jung gewesen, um seine Wut zu verstehen, es hatte wohl mit der Pension und den fehlenden Gästen zu tun gehabt. Heute fuhren die Züge wieder im Stundentakt, doch war der Bahnhofsplatz in der Frühe kaum lebhafter als ein Friedhof.

Die Januarluft strömte in den Bus und kühlte das Innere langsam aus. Anna spürte durch den Rucksack hindurch die Briefe auf ihrem Schoß. Fünf Gründe, sofort auszusteigen und den nächsten Zug nach Berlin zu nehmen; fünf Gründe zu fragen: Warum erst jetzt? Wäre ihre Familie nicht bedroht worden, lägen die Briefe in dem Schuhkarton, verborgen und verschlossen wie eine Totengabe. Vermutlich würde ein Anruf bei ihrer Tante noch immer alle Bedenken aus der Welt schaffen.

Hallo, ich bin’s.

Hallo, Anna.

Alles klar bei euch?

Jaja, hier ist alles bestens.

Das freut mich, ehrlich.

Und weshalb rufst du an?

Der Motor heulte auf, die Tür schloss sich, und der Bus rollte vom Bahnhofsplatz in Richtung Gollwitz. Zu spät, zu spät.

Anna rutschte tiefer in den Sitz, streifte ihre Handschuhe ab und berührte die schorfige Stelle auf ihrem Handrücken. Ungezählte Male hatte sie die Sache mit sich selbst ausgemacht und bereitwillig ihr Los getragen, die einzige Überlebende der Brandnacht zu sein. Sie krümmte die Hand zur Faust und spürte, wie der Schorf auf ihrer Haut spannte; ein Gefühl, das einen als Kind fast in den Wahnsinn getrieben und zum großen Herumpolken verführt hatte.

Anna wischte mit dem Ärmel über die Fensterscheibe. An ihren Augen zogen menschenleere Parks und Gehwege vorbei, eine Villa im Stil »Schön aufgebaut und schön verwahrlost«, dann ein Spielplatz unter einer schmutzigen Schneedecke. Auf einigen Schaufenstern klebten Schilder mit dem Hinweis ZU VERMIETEN, andere Auslagen erstrahlten in einer Farbpalette von Hellgrau bis Dunkelgrau. Der Bus verließ die Innenstadt und rollte über nasse Straßen in die Peripherie.

Aus mehrstöckigen Mietshäusern wurden Eigenheime, die man durch Hecken und Zäune vor den Blicken Fremder zu schützen suchte; in manchen Gärten waren Flaggen gehisst, ein Totenkopfsymbol als Abwechslung zu Schwarz-Rot-Gold. Sie blickte nach vorn und sah den Busfahrer mit einer Greisin plaudern. In Berlin hätte ein Schild über dem Führerhaus darauf hingewiesen, dass man den Fahrer während der Fahrt nicht anzusprechen hatte; außerdem favorisierte man einen Platz möglichst weit weg von den anderen. Hier dagegen saßen die Leute dicht beisammen. Bis auf einen Mann, der sich an der Stange festhielt, schienen die Fahrgäste allesamt im Rentenalter. Bei jeder Bodenwelle stießen die ergrauten Schädel hoch, und die Heizung blies unablässig den Geruch von Kernseife und feuchter Tapete nach hinten.

Als Annas Blick zufällig den des Mannes traf, kniff er die Brauen zusammen und verengte die Augen. Mit der olivgrünen Cargohose und der aufgebauschten Daunenjacke entsprach er dem Klischee, das Städter von 40-jährigen Landeiern pflegten. Eine knallrote Basecap krönte sein Outfit. Anna schaute auf ihren Rucksack, bemerkte aber aus den Augenwinkeln, dass er sie unentwegt anglotzte. Lächerlich, dachte sie, kein Grund, nervös zu werden. Auf ihrer Arbeit erlebte sie Kinder, die sich während eines Gesprächs vor Anspannung die Genitalien rieben, oder Väter, deren Interesse eher ihren Brüsten galt als den Basteleien der eignen Tochter. Vermutlich begegnete der Typ nur selten Frauen seines oder jüngeren Alters; hier war eben nicht Randbezirk oder Speckgürtel, sondern ganz weit draußen.

Sie schob den Rucksack gegen den Vordersitz und zog ihr Handy heraus. Laut Onlinefahrplan fuhr der Bus im Zweistundentakt von Gollwitz nach Rathenow, am Samstag und Sonntag bis 16.00 Uhr, dann war Schluss. Das hieß immerhin, dass sie sich abends mit Sonja auf ein Glas Wein treffen konnte, um darüber zu diskutieren, ob »Buffy« oder »Angel« die bessere Serie sei, dass sie in ihrem eigenen Bett schlafen würde.

»Anna Majakowski?«

Ihr Kopf schnellte hoch.

»Danny«, sagte der Mann mit der Basecap. »Danny Schmidt, erinnerst du dich?«

Riesiger Vogel

Seit 6.00 Uhr morgens saß Willy in seinem Astra und observierte das Haus, das für ihn nicht irgendein Gebäude am Rand der Gollwitzer Heide war, sondern die Kinderstube eines mehrfachen Mörders.

Er hatte den Rücken gegen die Fahrertür gelehnt, das rechte Bein auf dem Beifahrersitz und in den Händen ein Fernglas. Zwischen dem Wagen und dem Grundstück erstreckte sich die verschneite Ebene brachliegender Felder; über dem Haus die Morgensonne, so trüb wie das Auge eines alten Rüden.

Jörg und Lisbeth Berger hatten das Haus in den 70ern erbaut, damals waren beide in der LPG »Märker Land Gollwitz« beschäftigt gewesen. An der Fassade der DDR-typische Kratzputz, ein Gemisch aus Zement, grobem Kies und schmutziger Arbeit. Rechts gelangte man durch ein Holztor zu einem Schuppen und einer Garage, in der früher einmal Bergers Golf gestanden hatte. Jörg Berger war 2014 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, seitdem lebte Lisbeth allein auf dem Grundstück.

Willy legte den Feldstecher beiseite und öffnete die unterm Kinn verschnürten Ohrenklappen seiner Mütze, dann schraubte er die Thermoskanne auf und goss sich den letzten Rest Kaffee ein. Wenn er unterwegs war, benutzte er Kondensmilch aus kleinen Plastikbehältern; er stach mit dem Daumennagel die Alufolie auf, damit die Milch beim Öffnen nicht herausspritzte, und tröpfelte geduldig die Sahne in den Kaffee. Anschließend schmiss er die Verpackung in den Fußraum auf der Beifahrerseite, wo sich leere Bierflaschen häuften. Er pustete über den Becher, nippte und hob wieder das Fernglas. Morgenroutine.

Bei Tagesanbruch war Lisbeth von einem Raum zum nächsten gelaufen, um die Öfen anzuheizen; jetzt qualmte der Schornstein und in der Küche brannte Licht. Sie saß über ein Prospekt gebeugt am Tisch und trank ebenfalls Kaffee. Er wusste, dass sie die Angebote vom Netto ausgiebig zu studieren pflegte; oft genug hatte er sie dabei beobachtet. Sie blätterte langsam vor und zurück, während Willy sich im Gähnen übte. Nach Jahrzehnten im Schichtdienst, entweder auf Wache oder Streife, verfehlte Koffein bei ihm jede Wirkung, selbst am Abend zur Tagesschau gönnte er sich eine Tässchen Kaffee, ohne nachts Polka tanzen zu müssen. Er hakte den Daumen ins Knopfloch seiner Weste und riss übertrieben die Augen auf.

Nach einer Weile erhob sich Lisbeth und begann, erneut von Stube zu Stube zu laufen. Ihre Betriebsamkeit machte ihn halbwegs munter, als bestünde zwischen ihnen eine Art Verbindung. Er drehte den Becher auf die Kanne und fokussierte den Feldstecher neu. Da löschte sie das Licht der Abzugshaube, und das Küchenfenster war so dunkel wie der Rest des Hauses. Willy schwenkte hinüber zur linken Giebelseite, wo sich ein flacher, unverputzter Anbau befand. Ein Hühnerstall mit Außengehege. Gelangweilt folgte er den braun gefiederten Hennen, die draußen herumstolzierten und ihre Schnäbel in den Schnee hackten. Fressen, kacken, weiter fressen. Vielleicht kommt mal ein Marder oder Fuchs vorbeispaziert und sorgt für Abwechslung, dachte er und stellte sich gleichzeitig Lisbeths Gesicht vor – ihre Augen, die der Schreck aus den Höhlen treten lässt, ihre Hände, die sich in ihre Wangen krallen, ihr Mund, der sich zu einem lautlosen Schrei öffnet, genau wie bei diesen bleichen Frauen in den alten Stummfilmen. Willy genoss seine Fantasie so lange, bis der Fokus seines Feldstechers den Giebel hinaufkletterte.

Direkt unterm Dach mit Blick auf den Hühnerstall lag das Zimmer ihres Sohnes. Seit Martin Berger weggesperrt worden war, hatte Willy dort nicht ein einziges Mal das Licht brennen sehen. Lisbeth schien die Stube niemals zu betreten, was er früher als Ausdruck tiefer Scham interpretiert hatte. Mein Sohn, der Mörder. Mein Sohn, die Schande der Familie. Mittlerweile war er überzeugt, dass Martin alles so vorfinden sollte, wie er es am Tag seiner Verhaftung zurückgelassen hatte. Echte Mutterliebe eben.

Willys Astra, der über keine Standheizung verfügte, war längst ausgekühlt. Er legte das Fernglas auf den Schoß, neigte sich zur Rückbank und griff nach seiner Fleecejacke, wobei ihn ein Stechen im Bauch erschaudern ließ.

»Danny, du blöde Sau.«

Unter Schmerzen fischte er aus der Innentasche ein loses Hustenbonbon, schob es sich in den Mund und streifte anschließend die Jacke über die Weste. »Ich hätte ihn einbuchten sollen«, sagte er. »Das wäre ihm eine Lehre gewesen.« Eva reagierte mit keiner Silbe, und Willy besah sich seine schrundigen Finger, als sei er pikiert über ihr Schweigen.

Eine weitere Stunde verstrich ereignislos, und er stellte das Radio an, rutschte in eine bequeme Position und verschränkte die Arme vor der Brust. Er lauschte den Nachrichten über ein Europa, das seine Liebe für Grenzzäune wiederentdeckte, über Brüllaffen, die Politik machten, und Mutter Merkel, deren Thron zu wackeln begann, über Terroristen und Selbstmordattentäter, und mit jeder neuen Horrormeldung sanken seine Lider ein Stückchen tiefer.

 

Wie der Schatten eines riesigen Vogels erschien Lisbeth in der Auffahrt. Er brauchte einen Moment, um ihre Präsenz zu begreifen, dann fuhr er zusammen, als hätte man ihm einen Stromstoß versetzt. Sie öffnete einen Torflügel, bugsierte einen Pfosten davor und verschwand in der Garage.

»Wo will die Alte bloß hin?«, wandte er sich an Eva. Er stellte das Radio aus und langte nach dem Fernglas. Es war nach zehn, und der Himmel erstrahlte in einem kühlen, metallischen Blau. »Sonderangebote ramschen, was sonst.«

Lisbeth schob die Simson heraus, trat den Ständer runter und verschloss das Tor. Wie üblich war sie ganz in Schwarz gekleidet: Die Jeans und die Lederjacke, die plumpen Stiefel und der Motorradhelm, der am Lenker hing. Willy fühlte sich von der öffentlichen Zurschaustellung ihrer Trauer seit jeher provoziert. Ihr Junge war weder verbrannt noch an seiner eigenen Kotze erstickt; Martin Berger hockte zwar in der Klapse, war dafür aber quicklebendig und bald auf freiem Fuß. Verdammtes Rechtssystem, dachte Willy und spürte das Stechen in seinem Bauch.

Lisbeth stülpte sich eine Mütze übers Kraushaar, danach den offenen Helm. Aus einer olivgrünen NVA-Tasche, die hinten am Gepäckträger festgeschnallt war, zog sie ein Paar Handschuhe; natürlich in schwarz. Sie trat mehrmals den Kickstarter durch, und sobald der Motor ansprang und den ersten Qualm hustete, kletterte sie auf den Sitz. Sie ließ die Maschine im Leerlauf rattern, beide Hände am Lenkrad, den Blick in Richtung Feld.

Zunächst wollte Willy seinen Augen nicht trauen und drehte fieberhaft an der Schärfe, doch täuschte er sich nicht. »Meine Fresse«, sagte er. »Die Alte grinst mich an.«

Mit flatternden Hosen fuhr Lisbeth den Falkenberger Weg entlang, bog anschließend auf die Dorfstraße, und erst als sie außer Sicht war, merkte Willy, dass er zu atmen vergessen hatte.

Nimm dich in Acht

»Danny Schmidt«, wiederholte der Mann, der nun eine Reihe vor ihr saß. »Aus Lennarts Klasse.«

Sie hatte weder ein Bild des jungen Schmidt vor Augen noch von einem der anderen Mitschüler ihres Bruders. Größtenteils kannte sie Lennarts Klasse aus den Erzählungen, mit denen er sie oft zum Lachen, bisweilen auch zum Fürchten gebracht hatte. Sie erinnerte sich an einen Robert Beck, den er Robert Speck gerufen hatte, oder an einen Mirko Ruprecht, dem beim Wrestling die Hoden in die Bauchhöhle gerutscht waren. Fortan hatte Lennart ihn liebevoll Geierpelle genannt. Aber ein Danny Schmidt?

»Tut mir leid«, meinte sie schließlich. »Der Name sagt mir nichts.«

»No Problem.« Er winkte lässig ab. »Als ich dich das letzte Mal gesehn hab, warst du noch flach wie ’n Brett.«

»Mannomann, und trotzdem hast du mich erkannt.«

»Naja, deine Friese ist anders.« Er hatte den Rücken in Fahrtrichtung gedreht und sprach über die Lehne hinweg. »Und was treibt dich nach Gollwitz?«

»Ich will meine Familie besuchen.«

»Etwa den schönen David?«

»Die anderen natürlich auch.«

»Ich hab gehört, das Gutshaus ist gut besucht.«

»Da weißt du mehr als ich.«

»Seit dein Onkel ’nen Wintergarten hat, kann man direkt aufn See gucken. Die Lage ist einfach tipptopp.«

Beim ersten Hören klang Dannys Stimme nicht wie die des Anrufers, der gestern ihre Familie bedroht hatte. Aber was hieß das schon; in den billigsten Krimis wurde gezeigt, wie man seine Stimme verstellen kann. Sie entgegnete:

»Von einem Wintergarten weiß ich nichts.«

»Verfluchter Mist. Der stiehlt allen die Show.«

»Wer ist denn alle?«

»Na, alle im Dorf.«

»Du redest von der Konkurrenz?«

»Wer will denn Plötzen, wenn’s Hechte gibt?«

»Plötzen?« Sie grinste. »Die sind wohl nicht beliebt?«

»Zu viele Gräten«, sagte er todernst. »Zu viele Gräten.«

Unter Dannys Lippe spross ein winziger Bart in Form eines Dreiecks, und sobald er den Kopf abwärts bewegte, sträubten sich die Borsten gegen den Kragen seiner Daunenjacke. Sie fragte ihn, ob er selbst ein Zimmer vermiete oder überhaupt irgendwas in Sachen Tourismus mache.

»Ich biete Nachtwanderungen an.«

»Für Sternsucher?«

»Für jeden, der’s dunkel mag.«

»Braucht man dafür eine Lizenz oder so?«

Jetzt grinste Danny. »Eigentlich muss man bloß wissen, dass die Sterne oben sind und im Dunklen leuchten. Ansonsten sollte man sich in der Gegend auskennen.«

»Hört sich interessant an.«

»Willste ’ne Tour buchen? Ich mach dir ’n Sonderpreis.«

»Ich behalt’s aufm Schirm, okay?«

»Hier, guck mal.« Er hob einen Beutel mit zwei Ferngläsern von seinem Sitz. »Hab ich gebraucht bei Dunkers gekauft.«

»In Rathenow?«

»Klaro.«

In der Schule hatte sie ein Referat über den Aufstieg und Niedergang der Rathenower Optischen Werke halten müssen. Brillen, Ferngläser und Teleskope – dafür war die Stadt zu DDR-Zeiten bekannt gewesen. Von der Vorzeige-Industrie hatten sich lediglich zwei Familienbetriebe über die 90er retten können; zu spät war die Region zu einem der dunkelsten Orte Deutschlands ernannt worden. Auf Anna machte die Gegend allerdings kaum den Eindruck, als wären die Senioren fähig, die Entwicklung umzukehren. Oder die Danny Schmidts dieser Welt. Er rückte seine Basecap ein wenig nach rechts und sagte unüberhörbar:

»Alle versuchen, mit diesen Nerds Schotter zu machen.« Anna taxierte die Fahrgäste, worauf er hinzufügte: »Keine Sorge, die nehmen nie den Bus. Die kommen lieber mit ihren schicken Karren.«

»Dann klimpert’s ja ordentlich in der Kasse?«

»Nicht, wenn’s mehr Zimmer als Besucher gibt. Im Winter kommt keine Sau.«

»Und was treibst du sonst so? Ich mein, in deiner Freizeit.«

»Dinge organisieren. Abhängen.«

Er beugte sich über die Rückenlehne, und seine Pupillen glänzten wie matte Glasmurmeln. »Hat es ’nen Grund, dass du ausgerechnet heute hierher kommst?«

»Nein«, antwortete sie und krallte ihre Finger in den Rucksack. »Warum fragst du?«

»Also weißt du nichts davon?«

»Wovon?«

»Hat dir dein Onkel nichts erzählt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Du willst mich testen, nicht wahr?«

»Warum sollte ich?«

Er zog die Arme von der Lehne, neigte sich in Fahrtrichtung, ging auf Distanz. »Hat dich etwa dieses Bullenschwein angestachelt?«

»Was meinst du?«

»Deswegen bist du doch hier, oder?«

Sie hatte keine Ahnung, von wem er sprach und was er zu sagen beabsichtigte; immerhin hielt er nun Abstand und kroch ihr nicht auf die Pelle.

»Was damals passiert ist, ist echt traurig«, sagte er. »Aber wir leben jetzt in ’ner anderen Zeit.«

Ihre Finger knautschten durch den Rucksack hindurch die Briefe – fünf Gründe, die Weisheiten von Danny Schmidt abzunicken, fünf Gründe für Geduld und Wachsamkeit.

»Weißt du, in Berlin kann man sich ’ne Menge Blödsinn erlauben. Die Regierung pumpt eh das ganze Geld zu euch, selbst wenn ihr Paläste aus Hühnerkacke bauen wollt. So ’n Firlefanz kann sich hier keiner leisten.«

Danny verfiel in ein lautstarkes Flüstern, und Anna sah über seine Schulter hinweg zwei Senioren, die ihre Gesichter umwandten und hinter vorgehaltener Hand zu tuscheln begannen.

»Robert sagt immer: Die Vergangenheit ist tot.«

Robert Beck alias Robert Speck, wollte Anna wissen, verkniff sich jedoch die Frage.

»Was tot ist, buddelt man nicht wieder aus«, fuhr er fort. »Eigentlich kapieren das alle, bloß das Bullenschwein nicht.«

»Das Bullenschwein, das mich angestachelt haben soll?«

»Nimm dich vor ihm in Acht«, warnte Danny, ohne auf ihre Frage einzugehen. »Der Alte ist total crazy.«

Er beugte sich erneut über die Lehne, worauf Anna zurückwich. Sie dachte an alkoholisierte Väter, die jedes Distanzgefühl vermissen ließen, die meinten, dass ein Klaps auf den Po noch niemandem geschadet habe, und diese Anschauung unterstrichen, indem sie einem ihre Nase buchstäblich ins Gesicht drückten, Männer, die »kapiert« und »basta« und »Ach, hör doch auf« sagten. Zwei Handbreit von ihr entfernt fragte Danny schließlich:

»Und dein Bruder hat nix von mir erzählt?«

»Ich kann mich jedenfalls nicht erinnern.«

»Komisch, wir waren nämlich best friends.«

Der Bus rollte über ein Schlagloch, und ihre Köpfe stießen beinahe zusammen. Danny maulte etwas Abfälliges über den Busfahrer, dann umfasste er mit beiden Händen die Lehne und zog sich über den Sitz dicht an sie heran.

»In der Scheiße zu graben, bringt Lennart nicht zurück.« Mit einer flinken Bewegung drückte er den Knopf für den Haltewunsch. »Koloniestraße«, bemerkte er kühl. »Du musst aussteigen.«

Anna rang sich ein höfliches Lächeln ab, und während sie zur Tür schritt, fiel ihr ein weiterer Spitzname ein. Ihr Bruder hatte ihn oft und gern benutzt und ihr damit eine Heidenangst eingejagt. Gut 20 Jahre später bekam Psycho-Danny nicht nur ein Gesicht verpasst, sondern auch eine charmante Art. Sie wandte sich ein letztes Mal um und sah ihn telefonieren. Sie fragte sich, ob Psycho-Danny genug psycho war, um psychopathische Briefe zu schreiben. Der Linienbus stoppte, die Tür öffnete sich und die Landschaft empfing Anna in einem so grellen Weiß, dass sie beim Aussteigen die Augen zukneifen musste.

Dinosaurier

Willy klopfte mit dem Hacken seiner Schuhsohle so lange auf den Schlagschlüssel, bis das Schloss nachgab und sich öffnen ließ. Er schob das Werkzeug in seine Weste und vergewisserte sich mit einem Schulterblick, dass die Luft rein war, dann streifte er auch den linken Schuh ab und tapste ins Haus.

Als er in Socken, aber mit Mütze und Handschuhen durch Lisbeths Diele schlich, fand er die Situation reichlich absurd. Im Geiste erschien ihm das Bild eines Demenzkranken, der vergessen hatte, wohin er seine Schuhe gestellt hatte; gleichzeitig war ihm bewusst, dass er gerade einen Einbruch beging. Vorbildfunktion?, dachte er. Damit hatten eher seine braven Kollegen glänzen können.

Er betrat die Wohnstube und sah sich um. Unzählige Male hatte er das Sofa mit dem Feldstecher anvisiert, Nächte über Nächte, in denen er Lisbeth beim Fernsehen beobachtet hatte. Im Handschuhfach seines Wagens steckte sogar eine TV-Zeitschrift, um ihre Vorlieben zu ermitteln, und als sie sich einmal für eine seiner Lieblingssendungen – »Panda, Gorilla und Co.« – entschieden hatte, hätte Willy ihr am liebsten die Antenne vom Dach gerissen. Heute mahnte er sich zu Distanz und Nüchternheit. Er zog aus der Weste eine Digicam und begann, die Wohnstube abzufilmen.

Links die Sitzgarnitur mit dem Fernseher und der Stehlampe, deren Fransenschirm über einem Sessel thronte, rechts die Vitrine aus Massivholz. Hinterm Glas allerlei Nippes, der vor Kurzem nicht nur abgestaubt, sondern auch poliert worden war; neben pausbäckigen Engelsfiguren reihten sich mit Blattgold verzierte Eierbecher, und auf dem obersten Regal schmollte ein Wackel-Elvis, der zwischen den Engeln ziemlich obszön wirkte. Nirgends fand Willy Spuren, die eindeutig bewiesen, dass sich Lisbeth auf ein Leben zu zweit einstellte. Während sich in den letzten fünf Jahren seine Recherchewand zum Zentrum seiner Wohnstube entwickelt hatte, war hier alles beim Alten geblieben; das ärgerte ihn noch mehr als die Tatsache, dass sie überall ihre Trauerkluft präsentierte. Er wollte gerade die Aufnahme pausieren, da weckte eine Kommode unter dem Fenster seine Neugier.

Willy öffnete die obere Schublade und fand Knöpfe, Nähzeug und eine Sammlung hellblauer Flicken, wie sie Eva auch aus abgetragenen Jeans geschnitten hatte. Verdammte Mangelwirtschaft, dachte er. Die Schublade darunter war randvoll gefüllt mit weißen Stofftaschentüchern; jedes Exemplar schien gebügelt und anschließend fein säuberlich zusammengelegt worden zu sein. Es musste Jahre her sein, dass er das letzte Mal ein echtes Stofftaschentuch benutzt hatte. Mittlerweile kannte er so was nur aus alten Filmen, in denen Männer weinenden Frauen eins anboten oder jemand ein weißes Taschentuch zum Zeichen der Kapitulation um einen Stock wickelte. Willy zupfte ein Tüchlein heraus und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn, dann entdeckte er unter dem Stapel einen Bilderrahmen.

»Sieh dir das an«, flüsterte er. »Papa Haudrauf und sein Baby.«

 

Die Fotografie zeigte Jörg Berger vor einem Golf III, offenbar ein Neuwagen. Er lächelte in die Kamera, und Willy konnte leicht nachvollziehen, welche Freude er beim Kauf verspürt haben mochte. Als Willy mit Eva seinen ersten Opel gekauft hatte, waren sie spontan an die Ostsee gefahren, um dort beengt und unbequem im Auto zu schlafen. Wenn er sich nicht täuschte, hatte das Foto bei seinem letzten Besuch an der Wand über dem Sofa gehangen.

»Genau dort«, sagte er und zeigte auf eine Stelle, wo Licht und Staub ein leeres Rechteck hinterlassen hatten.

Damals waren er und sein Kollege hier teils offiziell, teils eigenmächtig aufgetaucht. Lisbeth hatte ihnen die Tür versperrt, und nachdem Willy mehrfach um Zutritt gebeten hatte, war ihm der Kragen geplatzt. Er hatte Lisbeth beiseite gegen die Wand gestoßen, was dem Kollegen später eine Aktennotiz wert gewesen war. Am Boden liegend hatte Lisbeth gebrüllt, wenn das ihr Mann wüsste, dann …

»… würde er mir die Hölle heiß machen«, flüsterte Willy und hielt das Bild direkt vor die Kamera. »Warum versteckst du den Penner in der Kommode, hä?«

Als man Papa Haudrauf samt Golf und Wodka unter einer Eisdecke im See gefunden hatte, war die kollektive Trauer ausgeblieben; die Gollwitzer schimpften ihn heute noch einen Kotzbrocken und Tunichtgut.

»Wie der Vater, so der Sohn«, stellte Willy fest und schaute sich erneut um. Es hatte sich doch einiges verändert: Gegenstände, die an Jörg Berger erinnert hätten, suchte man vergebens. Keine Fotos von ihm an der Wand, keine Automagazine auf dem Couchtisch. Bergers Videosammlung war wohl dem Röhrenfernseher in den Müll gefolgt, ebenso seine Hauspantoffeln und die unzähligen Aschenbecher. Mit flüchtiger Sorgfalt schob Willy den Bilderrahmen unter die Taschentücher, dann wischte er sich mit dem Tüchlein ein letztes Mal über die Stirn, legte es zusammen und an seinen Platz zurück. Er hetzte in die Diele und von dort die Stiege zum Dachboden hinauf.

Inzwischen erschien ihm die Situation – ein Einbrecher in Socken und Winterkleidung – nicht mehr absurd, im Gegenteil: Unter seiner Mütze rann unablässig der Schweiß herab und reizte ihm die Augen. »Meine Fresse«, knurrte er. »Wir riskieren hier Kopf und Kragen.« Er nahm die letzte Stufe und horchte angespannt in die Stille.

Nichts.

Allein das Gluckern des Schmelzwassers, das über die Dachziegel floss, und das Knarren der Dielen unter seinen Füßen. Er tapste weiter und verharrte schließlich vor der Stube, die Martin Berger bis zu seinem 20. Lebensjahr bewohnt hatte. Die Kinderstube eines Mörders.

Irgendetwas hemmte Willy, die Tür zu öffnen. Waren es Respekt oder Ehrfurcht? Oder Angst? Oft genug hatte er das Haus von seinem Wagen aus beobachtet, an die 100 Mal, vielleicht auch an die 200 Mal. Seit seiner Pensionierung verfügte er über eine Menge Zeit, und nicht wenige im Dorf meinten, es sei zu viel. In der Sekunde, in der er endlich die Klinke zu drücken wagte, spürte er mit jeder Faser seines Körpers, dass sie allesamt keine Ahnung hatten. Robert Beck nicht, Lasse Kallabis ebenso wenig und seine ehemaligen Kollegen schon gar nicht. Er würde ihnen eine Lehre erteilen, ihnen allen.

Im klaren Licht der Vormittagssonne schwebten die Flusen, die sich vom Türrahmen gelöst hatten, langsam zu Boden. Willy trat auf einen Teppich, dessen Dinosauriermotive längst verblasst waren. Unter der Dachschräge ein schmales Bett, auf der anderen Seite ein Schreibtisch und ein weißer Kachelofen. Neben dem Bett türmte sich ein Stapel Zeitschriften: Videomagazine, ein Comic über ein grünes Sumpfding, eine TV-Zeitung und ein Sexheft, das Willy bei der letzten Durchsuchung hinterm Sofa gefunden hatte. Da er es nicht für nötig gehalten hatte, das Heft an den ursprünglichen Platz zurückzulegen, waren die Brüste irgendeiner Blondine unter einer dicken Staubschicht ergraut.

Mit steifen Händen hob er die Kamera und filmte die Dachschräge. An der Holzverkleidung waren drei Schaukästen voller aufgespießter Käfer und Schmetterlinge befestigt, darunter stand ein CD-Ständer voller Eurodance-Alben. Willy besaß unzählige Listen, auf denen jedes Insekt, jeder Musiker, jedes Album mit Namen und Fotonummer vermerkt waren; vom Hirschkäfer zur Libelle, von DJ Bobo zu Ace of Base. Alles, was er in dieser Stube berühren konnte, hatte er schon einmal berührt: Gemeinsam mit seinen Kollegen hatte er das Zimmer penibel nach Beweisen abgesucht, um Martin Berger des Mordes zu überführen; am Ende hatte es allein für eine Anklage wegen Brandstiftung und Sachbeschädigung gereicht.

»Wir haben’s vermasselt«, warf er sich vor und trat den Stapel Zeitschriften um. Seine Kehle fühlte sich ausgedörrt an, während ihm das Arschwasser in Strömen floss. Er fokussierte mit der Kamera das Comic, auf dessen Cover ein grünes Monster mit feuerroten Augen prangte. »Guck dir den Mist an. Einfach krank.«

Im nächsten Augenblick packte ihn ein leichter Schwindel, als würde man nach nervtötender Warterei vom Zahnarzt aufgerufen werden. Die Zeitreise forderte ihren Tribut, vielleicht auch die Aufregung oder sein Alter. Er schob die Kamera in seine Weste, suchte am Schreibtisch Halt und wollte durchatmen, aber die Luft in diesem Raum war abgestanden und tot. Aus dem Erdgeschoss drang das Knallen der Haustür, danach ein paar vage Geräusche, bis jemand brüllte: »Komm runter, du Arschloch.«