Zurück im Zorn

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FREITAG

Erlegte Hirschkuh

Willy erwachte auf dem Sofa, in Hose und Unterhemd, beides dreckverkrustet. Seine Oberarme fühlten sich kalt und taub an, während er unter seinen Fersen die Polster und zwischen seinen Füßen das Sofakissen spürte; offenbar war es ihm wenigstens gelungen, die Schuhe auszuziehen. Seine Erinnerung an den gestrigen Abend grenzte an null.

Sobald er sich hochzustemmen versuchte, meldete sich sein Unterleib. Schmerzen waren nicht auf Erinnerungen angewiesen, das hatte er vor Ewigkeiten gelernt; Schmerzen gaben sich mit dem Hier und Jetzt zufrieden. Als er sich in die Senkrechte zog, bemerkte er die Bierflasche unter seinem Arsch. Er hatte sie gestern, ehe er zum Schnaps übergegangen war, zwischen die Sitzpolster geschoben. Nachdem er die Flasche herausgezerrt hatte, lehnte er sich zurück und stöhnte, dann zupfte er sein Unterhemd hoch.

»Meine Fresse.«

Er feuerte die Flasche gegen die rechte Wand, wo sie mit einem Knall zerbarst, einige Zettel herunterriss und in Scherben zu Boden fiel.

»Verdammte Scheiße, verdammt.«

Seinen von Alkohol aufgeschwemmten Bauch zierten zwei Blutergüsse; jeder einzelne hatte die Größe einer Schuhsohle und schimmerte in einem dunklen Lila. Sowie Willy die Hämatome berührte, zuckte er zusammen. Die Erinnerung an Danny Schmidt und seine Knebeltechnik kroch ihm ins Gedächtnis und belebte gleichzeitig die Schnappschüsse ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Schmidt, den Willy aus dem Verkehr zieht, bekifft und rotzfrech. Schmidt, den er bei einem Einbruch erwischt oder bei dem Versuch, einen Außenborder von einem Touristen zu stehlen. Schmidt als Kaninchendieb, Schmidt als Drogendealer. Jedes Mal hatte Willys Nachsicht den Jungen vor einer Strafe bewahrt, doch was hatte es am Ende gebracht?

»Einen Idioten mehr in Gollwitz«, murmelte er. »Sonst nichts.«

Ohne das Unterhemd über den Bauch zu raffen, hievte er sich vom Sofa, blieb eine Weile reglos stehen und starrte ins Leere, als müsste er zunächst seine Körpermitte austarieren. Es war nicht die erste Abreibung, die er sich einfangen hatte. Auf Willy traf die Bezeichnung Bulle nicht nur wegen seiner früheren Arbeit zu, sondern auch, weil er einstecken konnte wie einer. Vor dem Sofa entdeckte er eine Wasserflasche und einen Eimer, konnte sich aber nicht erinnern, beides dorthin gestellt zu haben. Die Achseln zuckend, schlurfte er mit entblößtem Bauch in die Küche.

Er füllte sich ein Glas Leitungswasser ein, fischte aus der Schublade eine Packung Ibu 600 und lehnte sich gegen die Anrichte. Nicht auf leeren Magen, mahnte ihn eine innere Stimme, die eindeutig nach Eva klang. Obwohl sie ihm stets davon abgeraten hatte, war sie zuletzt kaum imstande gewesen, dem eigenen Rat zu folgen; nicht einmal das Verlangen nach Essen war ihr geblieben, nur der Wunsch nach Schmerzlosigkeit, und am Ende die Bitte, er solle seine Dienstwaffe nicht auf Arbeit verschließen.

»Jaja«, gab er nach. »Ich esse einen Happen.«

Ihm fiel sein fast perfekter Pflaumenkuchen ein. Er zog das Blech aus dem Ofen, schob es auf den Tisch und sah, dass irgendjemand den Kuchen angeschnitten hatte; irgendjemand, der nicht Willy Urban hieß und dessen Bauch wahrscheinlich keine Hämatome zierten. Im Spülbecken lag ein benutztes Messer, an der Klinge klebten ein paar feuchte Krümel. Unvermittelt brachte ihm die Grübelei über das fehlende Stück Kuchen ein Stück seiner Erinnerung zurück.

Sie hatten ihn in sein eigenes Auto verfrachtet, Robert Beck, Danny Schmidt, Lasse Kallabis und Kevin Hübner, dann hatten sie ihn heimgebracht und gleich einer erlegten Hirschkuh ins Haus geschleppt. Anstatt ihn auf den Dielen abzuladen, hatten sie das weiche Sofa für angebrachter gehalten. Bilder seiner abendlichen Glanzleistung drangen in sein Bewusstsein: Willy sturzbetrunken im Leprechaun, Willy sturzbetrunken und halbnackt im Schnee. Willy im Angesicht seiner eigenen Erbärmlichkeit.

Er musste sich auf der Anrichte abstützen, so sehr wankten ihm die Beine. Mit Eva an seiner Seite wären ihm derartige Entgleisungen nicht passiert; sie hätte ihn auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, hätte ihm den Schnaps verboten und an seinen gesunden Menschenverstand appelliert. Von Eva hatte er sich – wenn auch mit knirschenden Zähnen – besänftigen lassen. Wie oft war er mitten in der Nacht aufgewacht und sie hatte ohne das geringste Zögern seine Hand ergriffen?

Willy, mein Schatz?

Ja, was denn?

Du hast geträumt.

Entschuldige, ich wollte dich nicht wecken.

Und war’s wieder das Feuer?

Es ist immer das Feuer, immer.

Jetzt, wo Eva für alle Zeit fort war, hatte er nicht einmal mehr Zucker im Haus. Er blieb in der Küche stehen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Nachdem die Männer ihn aufs Sofa verfrachtet hatten, mussten sie ihm den Kotzeimer und die Wasserflasche hingestellt haben. Anscheinend war auf der Fahrt hierher ihre Brutalität einer seltsamen Art von Fürsorge gewichen. Der besorgte Bürger als verkannter Samariter. In Willys Kopf folgte ein ganzes Daumenkino an Bildern: Robert Beck sinkt vor dem Sofa in die Hocke, taxiert ihn wie ein betäubtes Tier und isst dabei ein Stück Pflaumenkuchen. Er sagt: »Willy, mein Alter hat dich gemocht und er hat Respekt vor dir gehabt. Aber du musstest ja freidrehen.« Er beißt von dem Kuchen ab und kaut genüsslich. »Das mit deiner Frau tut uns allen Leid. Ich kenne niemanden, der sie nicht in Ehren hält. Schon deswegen solltest du dich am Riemen reißen. Denk einfach an Eva.«

Als Beck sich erhebt, presst Willy einige kaum verständliche Worte hervor, er spricht von Feuer und dem Teufel in persona. Ohne seine Warnung in irgendeiner Weise zu kommentieren, sagt Beck: »Den Haustürschlüssel werfen wir durch den Briefschlitz. Schlaf erst mal deinen Rausch aus.«

Willy verspürte das dringende Bedürfnis, den Kuchen auf der Stelle wegzuschmeißen. Er wollte einen neuen Teig anrühren, neue Pflaumen entkernen, etwas machen, das nicht von dreckigen Pfoten besudelt war. Er langte nach den Tabletten, und sein Blick fiel auf den Kalender neben dem Kühlschrank. Über dem Foto einer schneebedeckten Landschaft stand in fetten Buchstaben: JANUAR. Vielleicht würde er im Netto eine Schale Pflaumen aus Übersee kriegen, Pflaumen, so klein und mickrig wie Lammhoden und zu einem Preis, für den das Wort Wucher erfunden wurde. Schließlich blieb sein Blick an dem einzigen Datum hängen, das mit einem Kreuz markiert war. Der 24. Januar, ein Sonntag. Er senkte die rechte Hand auf seine Wampe und befühlte die Hämatome.

»Bald wird das erste Haus brennen«, sagte er zu Eva. »Und dann werden sie sehen, wer im Recht ist. Die ganze verdammte Bagage.«

Manchmal hilft nur Gewalt

Anna stand in der geräumigen Küche, wo sie einmal die Woche mit den Kindern einen Kochnachmittag veranstaltete. Ihre Schultern hingen herab, ihr Rückgrat war zu einer Sichel gekrümmt und ihr Blick haftete sehnsüchtig auf der Kaffeemaschine. Obschon sie gestern Abend an die 15 Kilometer gelaufen war und nach drei Folgen »Buffy« noch einem Hörspiel gelauscht hatte, war sie erst gegen 3 Uhr eingeschlafen, und das für nur wenige Stunden.

Über die Durchreiche hinweg konnte man aus der Küche in den offenen Bereich blicken. Mike, die Putzkraft des Klubs, hatte seine Box laut aufgedreht und schwang den Wischmopp übers Linoleum. Er war um die 40, trug eine Latzhose und bändigte seine dünnen langen Haare mit einem Stirnband, wodurch er einem Tennisspieler aus den 80ern ähnelte. Anna beobachtete, wie sein Rücken sich hob und senkte, wie seine sehnigen Arme den Wischmopp vor- und zurückwuchteten. Zack, zack und wieder zack. Viel zu schnell für ihre müden Sinne.

»Mike?«

Er stützte sich auf den Stiel und schaute in die Küche.

»Tasse Kaffee?«

»Jetzt?«

»In fünf Minuten.«

»Klar, gerne.«

Sie lehnte sich gegen die Anrichte, verschränkte die Arme und ließ sich von dem Gluckern der Kaffeemaschine und Mikes Musik berieseln. Gil Scott Heron sang, dass es nicht leicht sei, frei zu sein, dass niemand gesagt habe, es würde leicht werden. Anna konnte sich nicht erinnern, wann sie hier das letzte Mal so zeitig aufgeschlagen war. Der Klub öffnete erst in vier Stunden, und von Mikes Arbeit hatte sie bisher nur Notiz genommen, wenn Sonja irgendwas zu bemängeln gehabt hatte. Anna versuchte, sich sein Leben außerhalb des Jugendklubs vorzustellen. Garantiert war es ein einfaches Leben mit einfacher Struktur und einfachen Regeln, mit einer Vergangenheit, die sich ohne große Mühe säubern und glatt polieren ließ. Zack, zack und alles rein. Natürlich wusste sie, dass dieses Bild ihrer eigenen Sehnsucht geschuldet war; im Grunde hatte sie keine Ahnung von seinem Leben.

»Mike?«

»Ja.«

»Den Kaffee mit Milch oder Zucker?«

Aus der zweiten Etage drang das Klingeln des Telefons herunter. Sie bemühte sich, es zu ignorieren, und zog zwei Tassen aus dem Schrank. Eigentlich war sie nicht hier, und darüber wussten alle Kollegen, die Mitarbeiter vom Träger, das Jugendamt, wer auch immer Bescheid. Mike stellte die Musik ab, stützte sich auf den Mopp und starrte sie an, bis sie ihn im Scherz fragte, ob er nicht rangehen wolle. Dann gab sie sich einen Ruck, stieg die Treppe hoch, bemerkte vor der Tür, dass sie den Schlüssel vergessen hatte, trottete wieder hinunter und wieder hinauf.

»Jugendfreizeiteinrichtung ›Blaue Oase‹.«

Keine Reaktion.

»Majakowski hier.«

Weiterhin Stille.

»Hallo-o?«

»Hallo«, kam es wie ein Echo zurück.

Sie setzte sich, schlug die Beine übereinander und stütze einen Ellbogen auf den Oberschenkel. »Majakowski am Apparat?«

 

»Majakowski am Apparat«, wiederholte der Anrufer.

»Echt lustig, ganz ehrlich.«

»Echt lustig, ganz ehrlich.«

»Versuch’s mal beim Krisendienst. Ich lege jetzt auf.«

»Das würde ich nicht tun.«

Statt sich durch jähes Gelächter zu verraten, fragte der Anrufer ernst und bestimmt, ob sie den Brief erhalten habe. Anna schnappte reflexartig nach Luft; von einem Moment auf den anderen schien das Büro frei von Sauerstoff, als sei der ganze Raum mit dem schalen Atem anderer Menschen gefüllt, mit dem Odem unsichtbarer Geister. Sie erhob sich und wankte zum Fenster.

»Ich habe dich was gefragt«, sagte der Anrufer.

Nachdem sie das Fenster geöffnet hatte, sog sie die Winterluft in ihre Lungen und strich sich gleichzeitig die Benommenheit aus dem Gesicht. Mit bemüht freundlicher Stimme bat sie ihn, das sein zu lassen.

»Was denn sein lassen?«, fragte der Unbekannte wie jemand, dem die Antwort bestens vertraut war.

»Diese Briefe«, entgegnete Anna. »Die Drohungen. Alles.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Weil ich sonst die Polizei rufe.«

»Das wirst du schön sein lassen.«

Sie stellte den Lautsprecher des Telefons an und begann, nach ihrem Handy zu suchen; vielleicht konnte sie das Gespräch heimlich aufzeichnen. In der Absicht, ihn hinzuhalten, fragte sie ihn, was er damit bezwecke.

»Das macht mich geil, Anna.«

»Meine Familie zu bedrohen?«

»Das ist bloß der Anfang.«

»Okay, schreiben Sie Ihre Briefe und rufen Sie mich meinetwegen an. Aber lassen Sie meine Familie aus dem Spiel.«

»Wir sind hier nicht bei Wünsch-Dir-Was, kapiert?«

»Ich bitte Sie inständig.«

»Deine Familie ist als Nächstes dran. Ende der Durchsage.«

Ihr Handy lag in ihrem Rucksack und der Rucksack in der Küche. Sie überlegte, ob sie nach unten rennen sollte; immerhin könnte Mike den Anruf mithören und notfalls auch bezeugen. Gleichzeitig dachte sie, dass man solchen Spinnern nicht die Aufmerksamkeit einräumen durfte, nach der sie gierten und ohne die sie mickrige Schlappschwänze waren.

»Ach, fick dich«, platzte es aus ihr heraus. »Schönen Tag noch.«

»Sie werden alle brutzeln«, schallte es aus dem Telefon. »Dein Onkel, deine Tante und der schöne David.«

Erst als es an der Tür klopfte, hielt Anna ein, das Telefon auf den Boden zu schlagen. Die Elektronik war aus der Verschalung gebrochen, die Batterie durchs Büro gerollt, und über ihren Handrücken zog sich ein tiefer Kratzer.

»Moment«, rief sie panisch. »Einen Moment, bitte.«

Sie breitete die Arme aus und raffte alles zu einem Haufen zusammen, hievte sich hoch und schob die Einzelteile mit dem Fuß unter den Schreibtisch, dann rutschte sie auf den Drehstuhl und zwängte ihre Rechte in die Hosentasche, wobei die wunde Haut schmerzhaft über den Jeansstoff schabte.

»Ja, was ist denn?«

Wider Erwarten öffnete Sonja die Tür. Ihre Kollegin war nicht wie üblich hereingepoltert, einen lockeren Spruch auf den Lippen, eine lustige Anekdote im Schlepptau, sondern hatte angeklopft und draußen gewartet. Ihr besorgter Blick sprach Bände.

»Entschuldige, aber hier war so ’n Krach, da dachte ich …« Sie beendete den Satz nicht, was die Sache noch schlimmer machte. Hinter Sonja stand Mike, ohne Wischmopp, ohne Putzlappen, stattdessen mit einer Tasse Kaffee.

»Alles in Ordnung«, erwiderte Anna mit gespielter Lässigkeit. »Von dem blöden Stuhl ist ein Rad rausgesprungen.« Sie zeigte nach unten. »Ich musste es wieder reinkloppen.«

»So was kann schlimm enden.« Mike linste über Sonjas Schulter hinweg. »Soll ich’s mir mal angucken?«

»Nein, alles paletti.«

»Manchmal hilft nur Gewalt«, stellte er grinsend fest.

»Genau, das hab ich auch gedacht.« Sie grinste zurück, doch Sonjas Miene blieb voller Sorge. Anna kam es vor, als könne man das Adrenalin im Raum wittern, die Spuren ihres Zorns und ihrer Wut, was in ihr das Gefühl schürte, bei einer schlimmen Tat erwischt worden zu sein. »Kaffeerunde?«, fragte sie und verzog den Mund zu einem verkniffenen Lächeln.

Sonja trat ein, schloss die Tür vor Mikes Nase und sagte:

»Ruf deine Familie an. Mach was, irgendwas.« Sie tippte gegen die herausgebrochene Schranktür. »Oder wir müssen uns bald ’ne neue Einrichtung besorgen.«

Coming Home

17. Dezember 1993

Mit verklebten Augen blinzelte Claudia Kallabis zum Fernseher. Seit ihr Mann sich weigerte, etwas gegen sein Schnarchen zu unternehmen, schlief sie auf dem Sofa in der Wohnstube. Sie ahnte, dass es weniger an einem Gebrechen lag, sondern vielmehr an seiner Ignoranz; kranke Atemwege lassen sich auskurieren, hatte sie zu Lasse gesagt, ein schlechter Charakter nicht.

Mittlerweile musste es nach zwölf sein. Sobald Lasse ins Bett getrottet war, hatte sie die Lautstärke heruntergedreht und war irgendwann vor dem Geflimmer eingenickt. Jetzt lief eine Krimiserie, die Claudia viel zu hektisch fand und die viel zu viel nackte Haut zeigte. Früher hatte es solchen Schmutz nicht gegeben und trotzdem waren alle zufrieden gewesen, und wenn man es schon aufs Tablett brachte: Zu Ostzeiten hatten sie auch bloß zwei Sender gehabt. Leider hatte Lasse für ihre Bedenken nur ein Schulterzucken übrig; sie wusste längst, dass sie von ihrem Dackel mehr Verständnis erwarten durfte.

Sie ließ den Arm vom Sofa sinken und streckte ihre Finger nach Charlie aus. Für gewöhnlich schlief er auf der rosafarbenen Fußmatte mit dem Aufdruck Welcome home. Grunzte er vollgefressen und zufrieden vor sich hin, klang das ganz anders als Lasses penetrantes Schnarchen.

»Charlie?«

Sie wedelte mit der Hand, doch bekam sie weder sein Fell zu fassen, noch leckte er über ihre Fingerspitzen.

»Charlie, mein Liebster.«

Kein Grunzen, nichts.

Claudia hob ihre Beine vom Sofa und rückte den Tisch beiseite, raffte das Nachthemd hoch und sank auf die Knie. Die Fußmatte fühlte sich kalt an, von Charlie keine Spur. Sie stemmte sich hoch und versuchte dabei, das unangenehme Knarzen ihrer Lendenwirbel zu ignorieren. Schlüpfte in die Latschen, knipste das Licht an und rief erneut nach dem Hund. Manchmal rollte er sich am Ofen zusammen und blieb dort so lange liegen, bis sein Fell förmlich zu glühen anfing. Auch wenn die Kacheln noch lauwarm waren, hatte Charlie heute offenbar andere Pläne gehabt.

Da glaubte Claudia ein Bellen zu hören, gedämpft wie aus weiter Ferne, und während sie in träger Anspannung horchte, zupfte sie an ihrer schlaffen Kinnhaut.

Alles blieb still, womöglich hatte sie sich getäuscht.

Sie schob die Wolldecke beiseite, die als Türvorhang diente, und schlurfte in die Diele. Im Alter quälte Charlie eine Unruhe, die ihn des Nachts durchs Haus trieb. Früher hatte er an der Tür kratzen müssen, bis Claudia ihm geöffnet hatte. Rein, raus, rein, raus – das Spiel war ihr gehörig auf den Senkel gegangen. Erst nach langem Zureden hatte sich ihr feiner Gatte erbarmt, die Tür auszuhängen und stattdessen die Wolldecke anzubringen. Claudia schaute sich um, wurde nicht fündig und schlurfte weiter in die Küche.

»Charlie, du alter Kläffer.« Ihr Tonfall nun gereizt. »Komm bei Fuß. Sofort.«

Sie nahm aus dem Hängeschrank ein mit Futter gefülltes Döschen und schüttelte es kräftig.

»Leckerlis«, rief Claudia. »Deine liebste Sorte, Apfel und Rind.«

Der Köter tauchte nicht auf.

Sie inspizierte das Esszimmer, danach die Speisekammer, und immer wenn sie sich bückte und ihre Lendenwirbel spürte, verfluchte sie den Hund. Wurde er auf seine alten Tage genauso eigensinnig wie ihr faules Stück von Ehemann? Sie schüttelte den Kopf und gleichzeitig das Döschen.

Binnen weniger Minuten hatte Claudia alle Räume mit Ausnahme der Schlafstube durchsucht. Nach der Wende hatte sie selbst zwischenzeitlich noch einmal darin geschlafen; Ohropax und ein neues Bett von Möbel Höffner hatten die Hoffnung auf eine ungestörte Nachtruhe wiederbelebt, doch waren die Wunder des Westens eben keine echten Wunder. Erneut hatte sie vor Lasses Schnarchen kapituliert, diesmal endgültig. Sie öffnete die Tür und sagte:

»Charlie, komm her.«

»Du brauchst nicht zu flüstern«, bemerkte Lasse. »Dein Krach hat selbst die Wanzen verschreckt.« Ein Seufzen folgte, darauf das Quietschen des Bettes. »Was is ’n los?«

»Haste Charlie gesehn?«

»Der hat vorhin an der Haustür gekratzt.«

»Und?«

»Ich hab ihn rausgeworfen.«

»Und wann haste ihn reingeholt?«

»Der meldet sich schon, wenn er fertig ist.«

»Sag bloß, du bist wieder eingeschlafen.«

»’tschuldige.«

»Muss man hier alles selber machen?«, schimpfte Claudia und schlug die Tür zu. Noch während sie zur Vordertür schlurfte, belegte sie Lasse und Charlie mit allerlei Flüchen; am liebsten hätte sie ihrem Mann ebenso den Hintern versohlt, wie sie es gleich bei dem Hund tun würde.

Sie trat aus dem Haus, sah auf den Falkenberger Weg und knautschte die Hautfalten unter ihrem Kinn. Das ganze Dorf schien im Winterschlaf. Sie schaute hoch und musste beim Anblick der funkelnden Sterne frösteln. Der Westen verhökert zwar unser Land, dachte sie, aber den Himmel wird er uns nicht abluchsen. Niemals. Beiläufig witterte sie einen beißenden Gestank, irgendjemand verbrannte wohl heimlich seine Abfälle. Garantiert giftiges Zeug. Autoreifen, lackiertes Holz oder alte Matratzen. Wer auch immer so dreist war, sollte bloß aufpassen, dass ihn Johann Beck nicht am Wickel zu fassen kriegte. Johann Beck war der Ortsvorsteher von Gollwitz, ein Wendehals, von dem Claudia sich oft genug wünschte, er wäre damals mit Frau und Sohn abgehauen.

Unablässig das Döschen schüttelnd, tippelte sie in Nachthemd und Latschen ums Haus herum. Das schmale Grundstück streckte sich schlauchförmig bis ins Heideland. Ohne Claudias Pflege wäre hier alles längst verwildert; ihren Rückenproblemen zum Trotz kümmerte sie sich allein um den Garten. War ihr feiner Gatte nicht auf Arbeit im Putenstall, half er Beck beim Hausbau, was mitnichten bedeutete, dass er dort bis zum Umfallen schuftete. Das verrieten ihr die Schwimmringe, von denen er sich jedes Jahr einen weiteren zulegte, und sein täglicher Bieratem.

»Charlie«, brüllte sie verärgert, ehe sie die Rauchsäule erblickte.

Das Außenklosett hinter der Scheune war seit Jahren außer Benutzung. Sie und Lasse hatten keine Lust, für jedes Geschäft über den Hof zu latschen, und noch weniger wollten sie sich im Winter den Arsch abfrieren. Jetzt wärmte das in Flammen stehende Plumpsklo Claudias Gesicht wie ein herrliches Neujahrsfeuer.

Ohne sich von der Stelle zu rühren, rief sie nach Lasse. Unter der Hitze knackten die Holzwände lautstark und mit dem Knacken trug der Wind Charlies Geheul zu ihr. Claudia rannte zum Klo, griff nach der Verriegelung und das heiße Metall ließ ihre Hand zurückschnellen. Abermals rief sie nach Lasse, und als der nicht auftauchte, zog sie den rechten Arm unter das Nachthemd, neigte sich vor und umfasste mit der geschützten Hand den Riegel. Sie versuchte, ihn anzuheben, rüttelte unermüdlich an der Tür.

»Charlie, mein lieber Charlie.«

»Zisch ab«, brüllte ihr Mann.

Er zerrte sie von der Toilette weg, schob seine Schwimmringe an ihr vorbei und trat dann so lang gegen die Verriegelung, bis das rostige Schloss vom Holz sprang und zu Boden klatschte.

»Scheiße«, fluchte er, »die Tür geht nicht auf.«

»Warum ’n nicht?«, schrie Claudia zurück.

»Was weiß ich.«

»Lasse, mach doch was.«

Kaum hatte das Feuer das Innere des Klosetts erfasst, verstummte das Geheul. Die Gewissheit von Charlies Tod traf Claudia fast so hart wie die ersten Bilder der Grenzöffnung. Sie kniff sich die Haut unterm Kinn, als könne sie auf diese Weise aus dem Albtraum erwachen. Da reckte Lasse sein Gesicht gefährlich nah zur Tür hin.

»Pass bloß auf, du«, warnte sie ihn.

Er drehte sich um, und Claudia sah das Entsetzen in seinen Augen. »Die Tür is zugeschraubt«, sagte er. »Von oben bis unten.«