Nacht im Kopf

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9.35 Uhr

Willy hatte drei Tassen auf den Küchentisch gestellt, dazu eine Kanne Kaffee und ein Päckchen Milch. Er stemmte einen Arm gegen die Tischkante und neigte sich zurück, sodass die Stuhllehne knarzte. Unter seiner Weste raste noch immer sein Herz, und wenn Anna und Anhang ihn nicht überrascht hätten, wäre er vollends explodiert – zumindest glaubte er das.

»Und?«, fragte sie ihn.

»Was und?«

»Na, was ist da eben passiert?«

»Kleine Entrümpelung«, sagte er und nippte an seinem Kaffee. »Willst du uns nicht bekannt machen?«

Anna zeigte auf den Mann. »Das ist Mike.« Sie richtete den Finger auf ihn. »Und das ist Willy.«

Darauf erhob sich der Fremde, streckte ihm die offene Hand entgegen, und sein Gesicht offenbarte ein Lächeln, das er vorhin garantiert nicht zustande gebracht hätte. Nachdem das Puzzle auf den Boden geschlagen war, hatte Willy den Rahmen zwischen Fuß und Scheuerleiste fixiert und ihn so lange mit der Axt bearbeitet, bis das Holz splitterte; dann hatte er die Rückwand herausgetreten und die Meereslandschaft eigenhändig zerrissen. Einer der Fetzen war durch die Stube gesaust, genau dorthin, wo zwei Besucher ihn fassungslos anstarrten.

Willy schenkte ihm ein Nicken; mehr war nicht drin, was dieser Mike sofort zu begreifen schien. Er sank zurück auf den Stuhl, ohne sein Lächeln abzustellen.

»Ich nehm mal an«, sagte Willy, »Sie sind Annas Neuer.«

»Wohl mehr gebraucht als neu.«

»Ah, gebraucht und witzig?«

»Willy, was soll das?«, entgegnete Anna.

»Braucht dein Neuer etwa ’ne Beschützerin?«

Mike hob die Brauen, bevor er den Blick, anscheinend peinlich berührt, zur Seite wandte. Willy musterte ihn ohne jede Scheu, von seinem zugeknöpften Hemd über das weiche Kinn hinauf zu seinem Stirnband. Der Fremde musterte wiederum die Küche. Seines Erachtens war es ein abschätziger Blick, gerade so, als sitze er in der Bruchbude eines Hinterwäldlers; dabei hatte Willy erst vor Kurzem das Spülbecken geputzt, den Grünspan vom Wasserhahn entfernt und das rostige Herdgitter gegen ein neues ausgetauscht; selbst die Gardinen waren gewaschen und die Fenster geputzt. Gewiss würde dieser Mike das alles übersehen, mit voller Absicht natürlich.

»Schick hast du alles gemacht«, sagte Anna.

»Danke«, knirschte er. »Bekomm ich jetzt ’nen Preis?«

»Ich meine das ehrlich. Es gefällt mir.«

»Ihre Plattensammlung ist auch nicht ohne«, sagte Mike und Willy rang sich ein zweites »Danke« ab.

Er beobachtete, wie der Mann mit einer beiläufigen Zärtlichkeit über Annas Handrücken strich, gleichzeitig machte sich in seiner Kehle ein schwaches Sodbrennen bemerkbar. Obwohl er wusste, dass er jetzt auf Kaffee verzichten sollte, schenkte er sich nach.

»Alles in Ordnung mit dir?«, erkundigte sich Anna.

»Ja, alles bestens.«

»Und was sollte das nun?«

Er rieb sich den Bauch und linste zur Anrichte. Das Röhrchen mit dem Magnesium war leer; die letzten Tabletten hatte er eingeworfen, nachdem sein Magen auf den ersten Wutanfall reagiert hatte. Das war gestern gewesen, irgendwann gegen acht. Er glaubte, aus Mikes Blick ein tiefes Bedauern zu lesen, doch war Mitleid das Letzte, was er von diesem Typen haben mochte. Er rutschte vor und erkundigte sich bei Anna, weshalb sie hier sei.

»Wann bist du zuletzt in Gollwitz gewesen?«, fragte sie zurück.

»Keine Ahnung. Ist lange her.«

»Und deine Kneipenbesuche?«

»Da kriegen mich keine zehn Pferde rein.«

»Immer noch Ärger mit den Nachbarn?«

»Ich und Gollwitz, das passt einfach nicht.«

Er hakte nach, was sie dort wolle, und schickte hinterher, sie solle ihm nicht ausweichen. Er sei zwar alt, aber nicht senil.

»Das ist eine lange Geschichte«, entgegnete Anna.

»Willst du deine Familie besuchen?«

Anna verzog keine Miene.

»Das Gutshaus läuft bestimmt gut.«

Ihm fielen ihre unterschiedlich großen Augen auf, das linke viel kleiner als das rechte. Das war die Anna Majakowski, die er kannte, die vor dreieinhalb Jahren in Gollwitz aufgetaucht war, allein, verunsichert und mit einem Rucksack voller Fragen. Damals hatte er sie auf dem Friedhof abgefangen und sie war nicht in sein Haus eingedrungen. Unangekündigt und mit einem Fremden im Schlepptau. Er spürte das Brennen in seiner Kehle, blickte automatisch zur Anrichte, wo nur das leere Röhrchen lag, und atmete schwer aus. Als er Anna erneut nach dem Anlass ihres Besuchs fragen wollte, sah er, dass die Frau von damals verschwunden war. Mike strich ihr über das Knie, eine geradezu einfühlsame Geste, die Willy sogleich zu deuten wusste: Mir tut der alte Mann ebenso leid. Schade um ihn. War vielleicht mal ein kompetenter Bursche.

»Ich hab euch nicht eingeladen«, sagte er grob, erhob sich und schlurfte aus der Küche, ehe ihn eine andere Regung übermannen konnte.

Er steuerte in die Schlafstube, warf die Tür hinter sich zu und setzte sich mit dem Rücken zum Eingang aufs Bett. Letzte Woche hatte er es frisch bezogen, hatte Kopfkissen und Decke in saubere Wäsche gestülpt und über beide Matratzen ein Laken gespannt. Jahrelang war es ihm unmöglich gewesen, Evas Hälfte herzurichten; für ihn hatte es stets einen Geschmack von Verrat gehabt – an 40 Jahren Ehe, an seinem Schwur, ihr auf ewig die Treue zu halten, an Eva selbst.

Er umklammerte die Bettkante und starrte gegen die Wand. Auch wenn die Tapete schief angebracht war oder der Lack auf den Fensterrahmen nicht richtig deckte, hatte die Schlafstube den Neuanfang unterstreichen sollen. Er hatte sich ernsthaft bemüht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen. Hatte Ordnung schaffen wollen, so wie es Eva sich von ihm gewünscht und erwartet hätte. Mit erstarkter Lebensfreude hatte er sämtliche Schränke und Kommoden ausgemistet, hatte längst vergessene Schubladen geöffnet und deren Inhalt nach Ramsch und Kostbarkeiten sortiert. Gestern war er dabei auf das verdammte Buch gestoßen.

Das Öffnen der Tür riss ihn aus seinen Gedanken.

»Willy«, sagte Anna, »alles in Ordnung?«

Er hörte sie eintreten und erstarrte am ganzen Körper. Sie schloss von innen die Tür, hielt aber respektvollen Abstand zu ihm.

»Sollen wir wieder fahren?«

Das Ja wollte ihm bereits von der Zunge springen. Dann ereilte ihm die Erinnerung, wie Anna und er in seinem Opel unterwegs gewesen waren; er hatte ihr geholfen und sie hatte ihm geholfen, damals auf der Jagd nach dem Mörder ihrer leiblichen Eltern. Mit dieser Erinnerung verschaffte sich eine Idee Gehör, die er am Morgen ersonnen, doch rasch wieder verworfen hatte.

»Hast du Zeit?«, fragte er.

»Ja, klar«, antwortete sie.

»Wirklich?«

»Warum denn nicht?«

Er zeigte auf die Stelle, an der früher das Puzzle gehangen hatte, und räusperte sich affektiert. »Das ist ein Geschenk für Eva gewesen«, sagte er. »Da war sie schon krank, sehr, sehr krank. Bevor sie gegangen ist, hat sie es noch fertig gepuzzelt. Ich hab’s letzten Monat in die Wohnstube gehangen, damit’s nicht die ganze Zeit im Dunkeln hängt.«

»Das hätte sie bestimmt gefreut.«

»Da verwette ich meine Socken drauf.« Er lachte. »Sie hat immer behauptet, ich hätte kein Händchen fürs Schöne. Ich sei mehr der Mann fürs Grobe. Sozusagen ein Grobian. Na ja, wenn sie jetzt das Haus sehen könnte, würde sie sich ziemlich wundern.«

»Und warum hast du das Puzzle kaputt geschlagen?«

»Weil sie ’ne Hexe gewesen ist. So einfach.«

Er schaute beharrlich in eine andere Richtung, wollte nicht, dass Anna merkte, wie er seine Aggression zu unterdrücken versuchte. Die schief angebrachte Tapete, der schludrig aufgetragene Fensterlack – das alles dämpfte seine Wut nicht mehr. Augenscheinlich hatte er allein nichts auf die Reihe bekommen. Mit dieser Erkenntnis wurde ihm Annas Besuch ein Zeichen, eine Fügung des Schicksals. Mit ihrer Hilfe würde er seinen Plan verwirklichen. Nun spürte er ihre Gegenwart ganz deutlich im Rücken. Ja, Anna war hierhergekommen, um ihm zu helfen.

»Lass uns nach Kuxwinkel fahren.«

»Kuxwinkel? Wo soll das sein?«

»Ein paar Kilometer Richtung Osten.«

»Hab ich noch nie von gehört.«

»Musst du auch nicht. Ist ein Fliegenschiss.«

»Und was willst du da?«

»Dem Lehrer einen Besuch abstatten.«

Anna setzte sich neben ihn und ihre Miene strotzte vor Unverständnis. »Welchem Lehrer denn?«

»Na, dem Schwein, das Eva gevögelt hat.«

9.55 Uhr

»Papa hat gesagt, dass es jetzt aufwärts geht.«

»Wie aufwärts?«

»Bald sind wir reich.«

»Habt ihr im Lotto gewonnen?«

Anstatt mit Liane den Trampelpfad zu benutzen, streifte Jimmy durchs Gras, als sei er direkt einem Ego-Shooter entsprungen. Er stoppte und linste über die Halme hinweg: »Ich meine wegen der Fabrik.«

»Hat dein Daddy etwa Aktien gekauft?«

»Der will dort arbeiten.«

»Pförtner werden nicht reich.«

»Mein Papa ist Automechaniker, also.«

Liane Pfabe, die nicht nur zwei Klassen über Jimmy war, sondern ihm auch auf den Kopf hätte spucken können, teilte seinen Enthusiasmus nicht im Mindesten. »Die Fabrik steht doch erst in hundert Jahren.«

»Nein«, protestierte er, »nächstes Jahr schon.«

»Hast du ’ne Peilung, was für ’n Palast das wird?«

»Klar, so groß wie Ikea.«

»Ikea ist mini dagegen.«

Jimmy stoppte und seine riesigen Augen wurden hinter den Brillengläsern noch größer. Liane knickte die Arme ein, verschränkte die Hände hinter den Brustlatz ihrer Jeans und erinnerte ihn daran, dass am Flughafen Berlin Brandenburg seit 2006 gebaut wurde.

 

»Ja und?«

»Da warst du nicht mal geboren.«

»Aber du, oder wie?«

»Ich war immerhin ein süßes Baby.«

Während Jimmy Kotzlaute imitierte, entfaltete sich in Lianes Gedanken eine Urkunde, die sie im Schrank ihrer Mutter entdeckt hatte. Das kleinformatige Papier trug die Aufschrift: Erik Beimer. 1. Platz im 100-Meter-Lauf. Sportfest des Dunker-Gymnasiums. Liane kannte weder einen Erik Beimer noch hatte sie ihre Mutter jemals von einer Person dieses Namens reden gehört. Eine innere Stimme flüsterte ihr, dass es sich bei dem Gewinner um ihren Erzeuger handelte, einen Mann, den sie nie hatte kennenlernen dürfen. Ihr leuchtete kein anderer Grund ein, weshalb ihre Mutter die Urkunde sonst hätte aufheben sollen. Als Liane sich später das Dokument noch mal hatte ansehen wollen, war es verschwunden gewesen. Bis heute hatte sie ihre Mutter nicht darauf angesprochen; die Angst, nicht die Urkunde, sondern ihre Schnüffelei würde zum Thema des Gesprächs werden, ließ sie schweigen.

»Mein Papa hat trotzdem recht«, fuhr Jimmy in ihre Gedanken. »Nächstes Jahr sind die fertig.«

»Klingt ziemlich naiv«, entgegnete Liane.

»Ich hab neulich in Mathe ’ne Eins gehabt.«

»Und kannst du deswegen hellsehen?«

»Frau Petzold meinte, ich bin der Beste.«

»Dann heiratet doch.«

Jimmy gab von Neuem Kotzlaute von sich. Liane und er hatten trotz unterschiedlicher Klassenstufen dieselbe Mathelehrerin, und wer Frau Petzold kannte, würde den Gedanken an eine Heirat immer mit einem Würgereiz begrüßen. Eigentlich war sie längst über das Alter hinaus, in dem man sich über Lehrer und Lehrerinnen lustig machte; nur lebten in Kuxwinkel keine anderen Teenager; nach Jimmy und Liane war die jüngste Person ihre eigene Mutter.

»Weißt du, was meine Mutti meint?«

»Nee.«

»Das Klügste ist, man zieht hier weg.«

»Dann kann sie ja nicht in der Fabrik arbeiten.«

»Hast du mir gerade zugehört?«

Jimmys Augen hoben sich über das Grün, als visiere er ein fernes Ziel an.

»Wenn die Fabrik fertig ist«, erklärte Liane, »sind deine Eltern längst tot.«

»Du spinnst ja.«

»Ich sag nur Flughafen.«

»Papa lügt nicht, niemals.«

»Alle Eltern lügen.«

»Mein Papa nicht.«

Jimmy tauchte wieder ab und allein die Bewegung der Grashalme verriet seine Position. In betont ironischem Tonfall meinte Liane, sein Vater sage natürlich die Wahrheit.

»Na also«, erwiderte er.

»Was also?«

»Also hab ich recht.«

»Wir haben beide recht.«

»Das geht nicht.«

»Okay«, sagte Liane versöhnlich. »Du hast heute recht und ich morgen.«

Er sprang aus der Deckung hervor und seine Brillengläser reflektierten das klare Licht der Vormittagssonne. »Und wenn du morgen stirbst?«, fragte er. »Hab ich dann für immer recht?«

Der Trampelpfad mündete in eine ungepflasterte Straße. Jimmy verblieb im Schutz des Grases, bis er sicher zu sein schien, dass keine feindlichen Truppen patrouillierten. Mit einem Winken signalisierte er ihr, die Gegend sei sauber; dann huschte er über die Fahrbahn und verschwand auf der anderen Seite im Gras. Würden sie nicht dem Pfad, sondern der Straße folgen, wären sie binnen zehn Minuten wieder in Kuxwinkel; jetzt aber entfernten sie sich Stück für Stück von den Häusern und Höfen, von ihren Nachbarn und Eltern.

»Liane?«

»Ja.«

»Wusstest du, dass Elektroautos brennen können?«

»Alle Autos können brennen.«

»E-Autos fahren ohne Benzin.«

»Ach ja, hab ich vergessen.«

Jimmy richtete sich auf und fokussierte sie so eindringlich, dass sie nicht umhin kam, ihn nach dem Grund zu fragen.

»Akkubrand«, antwortete er. »In England ist sogar ein Mensch gestorben.«

»In seinem Auto?«

»Ja, verbrannt.«

»Oh, Shit.«

»Seine Frau hat die Firma verklagt.«

Liane rupfte die verdorrte Ähre eines Grashalms ab und zerbröselte sie zwischen ihren Fingern.

»Auf eine Million Dollar«, ergänzte Jimmy ehrfurchtsvoll.

»Das bringt den Mann auch nicht zurück.«

»Dafür kann sie für immer in den Urlaub fahren.«

»Und ist Witwe. Für immer.«

Jimmy senkte den Blick und sein dunkler Pony fächerte ihm über die Brille. Manchmal fürchtete Liane, er würde ihren Worten zu viel Wichtigkeit beimessen, insbesondere, wenn sie bloß daherschwafelte oder einen Scherz machte. Jimmy war die Ernsthaftigkeit in Person. »Ich wette«, fügte sie rasch hinzu, »die Witwe lässt richtig die Sau raus. Auf Mallorca. Oder in Las Vegas. Eine Million Dollar!« Ihre Begeisterung war bühnenreif und unter Jimmys Brille formte sich ein Grinsen.

Sie bot ihm ein Fisherman’s Friend an und er langte katzenhaft zu. Dann huschte er zurück ins Gras und wurde wieder unsichtbar. Liane winkelte die Arme an und verschränkte die Finger hinter dem Hosenlatz – auf diese Art zu gehen, verlieh ihr ein Gefühl der Erhabenheit. Ein verdächtiges Rascheln im Ohr, fragte sie ihn, weshalb er ausgerechnet zu den alten Ställen wolle.

»Wirste gleich sehen«, antwortete er.

»Wollen wir nicht lieber zocken?«

»Ich darf nicht.«

»Wer sagt das?«

Jimmy wich der Frage aus, indem er verkündete, dass ihr gleich die Spucke wegbleiben würde.

»Hast du den Spruch aus dem Museum?«

»Wieso? Versteh ich nicht.«

»Das sagt kein Mensch mehr.«

»Papa schon.«

»Na ja, noch is was da.« Liane spuckte ins Gras, doch Jimmy reagierte nicht, und als sie ihn fragte, ob er bei den Ställen eine Million Dollar gefunden habe, entlockte ihm das nicht einmal ein Grinsen.

10.10 Uhr

Während sich der Astra von Willys Grundstück entfernte, wurde Mikes Gestalt im Rückspiegel immer kleiner. Anna sah ihn winken, bis er mit der Auffahrt und dem Haus zu einem diffusen Punkt verschmolz; dann raubten ihr die am Straßenrand stehenden Obstbäume die Sicht und das Haus löste sich vollends auf. Sie zerrte ihr Handy aus der Jeans und tippte eine Nachricht an Mike: Wird nicht lange dauern. Versprochen. Dahinter drei Smileys mit Herzen. So wollte sie austesten, ob Mike ihre Entscheidung, Willy zu begleiten, ehrlich abgenickt hatte oder jetzt schmollte.

»Und? Ist es für ihn okay, dass er bei mir bleibt?«, fragte Willy und lenkte den Wagen südwärts auf die Gollwitzer Chaussee.

»Interessiert dich das wirklich?«

»Meinetwegen hätten wir ihn mitnehmen können.«

»Tut mir leid«, sagte Anna. »Deine Sticheleien wollte ich ihm ersparen.«

»Welche Sticheleien denn?«

»Denkst du, ich bin in den letzten Jahren taub geworden?«

»Ich hab mit ihm gesprochen, wie ich mit jedem x-beliebigen Kerl spreche.«

»Genau das meine ich.«

»Ich kapiere nichts.«

»Ist auch egal.«

»Nein, sag schon.«

»Wir bringen die Sache hinter uns und dann …« Anna wusste nicht, wie sie den Satz beenden sollte. Eigentlich hatte sie Willy nur einen Besuch abstatten und ihm vom Tod ihrer Zieheltern berichten wollen. Nein, korrigierte sie sich, das war nur der eine Teil. In Wirklichkeit hatte sie ihn ins Auto verfrachten, mit ihm zum alten Gutshaus fahren und ihn dort fragen wollen: Soll ich das Erbe annehmen oder nicht? Sie hatte auf Willys Urteil gehofft. Doch letztlich hatte er ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht.

In der Schlafstube hatte er ihr erklärt, dass er im Begriff gewesen sei, sein Haus auf Vordermann zu bringen. »Guck dir die Wände an«, hatte er gesagt, »den Teppich, die Gardinen, das Herdgitter. Alles neu. Und auf dem Fernseher wirst du kein Körnchen Staub finden. Eva hätte ihren Augen nicht getraut.« Er habe sogar die Schränke ausgemistet, von der Wohnstube bis hinauf zum Dachboden. Ihm sei gar nicht klar gewesen, wie viel er von ihren Sachen noch besitze, obwohl sich ihr Todestag bald zum zehnten Mal jährte. Neben Kleidern, stumpfen Kämmen und einer Kiste mit Knöpfen, Flicken und Nähzeug hatte er ein paar Bücher rausgekramt. Romane von Charlotte Brontë, Jane Austen und Henry James, lauter Schmöker, die er früher allenfalls mit spitzen Fingern angerührt hätte. Voller Wehmut hatte Willy in den Büchern geblättert und ihren Duft eingesogen, hatte einzelne Passagen gelesen und war dabei auf eine blaue Blüte gestoßen.

»Eine getrocknete Blume«, sagte er fassungslos. »So was hat man früher seiner Liebsten geschenkt.«

»Die kann von sonst wem stammen«, gab Anna zu bedenken. »Vielleicht hat sie Eva sogar für dich gepflückt.«

»Bei uns ist so ’n Kraut nicht gewachsen.« Er reihte sich hinter einem Lkw ein und ließ den Gegenverkehr passieren. »Und warum sollte sie mir ausgerechnet ’ne Kornblume schenken?«

»Als Zeichen ihrer Zuneigung.«

»Ich gebe einen Dreck auf Blumen, schon immer!«

»Vielleicht war sie für eine Freundin gedacht.«

Er scherte nach links, erblickte zwei Fahrzeuge auf der Gegenspur und rückte wieder hinter den Lkw. »Meine Fresse«, kläffte er. »Das ist doch alles Humbug.«

»Hat sie nicht als Krankenschwester gearbeitet?«

»Ja, in der Kinderabteilung.«

»Siehste, war für eine nette Kollegin.«

»So ’n Unfug.«

»Ich würde meiner Kollegin eine Blume schenken.«

»Du magst auch Alf.«

»Was hat das damit zu tun?«

Willys Augen wechselten hektisch zwischen Rückspiegel und Fahrbahn. Mittlerweile drängelten drei, vier Autos hinter dem Astra und warteten darauf, dass er den Lastwagen überholte. Anna wollte von ihm wissen, in welchem Zusammenhang er diesen Lehrer kennengelernt habe.

»Er war mit einem Schüler in der Klinik.«

»Und du bist ihm dort begegnet?«

»Quatsch, bin ich Arzt, oder was?«

»Das musst du mir erklären.«

»Ein Junge hat sich ’nen Splitter eingefangen, im Werkunterricht.«

»Und Eva hat ihn verarztet?«

»Die Hexe hat nicht bloß den Jungen verarztet.«

Er versuchte zu überholen, schwenkte aber wegen des Gegenverkehrs zurück in die Spur. Seine Augen strebten zum Rückspiegel, wobei er das Lenkrad so fest umklammerte, dass seine Knöchel hervortraten.

Anna war die wütende Version von Willy Urban nicht fremd. Er solle sich keine Sorgen machen, riet sie ihm mit sanfter Stimme. »Ist bestimmt alles nur ein Missverständnis.«

»Sie hat ihn nach der Arbeit erwähnt«, antwortete er kalt.

»So wie sie garantiert auch andere Fälle erwähnt hat.«

»Woher willst du wissen, über was wir uns unterhalten haben?«

Er wechselte ruckartig die Fahrbahn und Anna sah einen Audi auf der Gegenspur näher kommen. Obwohl der Fahrer nicht das Tempo drosselte, machte Willy keinen Rückzieher und drückte stattdessen aufs Gas. Anna packte den Haltegriff oberhalb der Tür und der Astra rollte in Zeitlupe neben den Lkw. Der Audi-Fahrer reagierte per Lichthupe, was Willy seinerseits mit einem Hupen quittierte. Dann scherte er vor dem Lkw ein, ging vom Gas und folgte der Landstraße, als wäre nichts gewesen.

Da jedes Gespräch ohnehin einem Minenfeld gleichkam, verkniff sich Anna einen Kommentar. Sie schaltete das Radio an und starrte, begleitet von einem Discohit der Bee Gees, aus dem Fenster. Willys Begründung für seinen Verdacht, Eva habe eine heimliche Affäre gehabt, wollte ihr nicht im Mindesten einleuchten. Zwei Songs später verlangsamte er die Geschwindigkeit und bog von der Gollwitzer Chaussee auf eine einspurige Straße.

Wie eine dreckige Mullbinde zog sich die Fahrbahn über die Landschaft; der aufgerissene Asphalt dokumentierte die Hitze des letzten Sommers, die vielen Schlaglöcher die fehlenden Investitionen. Vereinzelte Sträucher ballten sich am Straßenrand, ansonsten war die Landschaft offen und eintönig. Gras und verwelkte Blumen, alles ohne Farbe und Abwechslung.

»Warst du schon mal hier?« Anna blinzelte zu Willy rüber und stellte erleichtert fest, dass sich seine Finger entspannt hatten.

»Ja«, antwortete er. »Während meiner Dienstzeit.«

»Ist es was Schlimmes gewesen?«

»Nee, bloß das Übliche.«

Auf Annas fragenden Blick hin ergänzte er:

»Zwei Kerle haben sich im Suff gestritten. Dabei hat der eine dem anderen ’ne Fingerkuppe abgebissen.«

»Das klingt für mich schlimm.«

Er zuckte mit den Schultern und verbarg seine Gedanken hinter einer undurchschaubaren Miene. Anna war neugierig, woher er den Namen des Lehrers und dessen Adresse habe, schluckte allerdings die Frage herunter. Um das Gespräch dennoch am Laufen zu halten, wechselte sie das Thema und schwärmte von dem Glanz, in dem sein Haus erstrahlte. Da stecke sicherlich eine Menge Arbeit drin. Ausschweifend erzählte Willy, was sie heute bereits zum dritten Mal hörte, und für einen Moment glaubte sie, ihn lächeln zu sehen, ein verträumter Ausdruck in seinen Augen, ein Anflug von Zuversicht. Dann stockte er inmitten eines Satzes und seine Brauen schoben sich zusammen. Anna erkannte auf der rechten Straßenseite das Ortseingangsschild.

 

»Kuxwinkel«, las sie laut vor. »Komischer Name.«

»Komischer Name und komische Leute.«

»Na ja, ihr Gollwitzer seid auch nicht ohne.«

»Gollwitz ist hiergegen das reinste Paradies.«

Der Astra rollte im Schneckentempo durchs Dorf, und Willy schüttelte unablässig den Kopf, als sei er irgendwo zwischen Neugier und Abscheu gefangen. Nicht wenige Häuser waren in unfertigem Zustand: rechts eine Fassade, deren eine Hälfte den nackten Putz präsentierte, während das Grün der anderen längst verblasste. Gleich darauf ein Haus mit Fensterläden, teils modernisiert, teils verwittert. Die Pläne, die man hier einst geschmiedet hatte, waren offenbar in einem frühen Stadium erstickt. Linker Hand folgten zwei Grundstücke mit verwilderten Vorgärten. Brennnesseln verbargen ganze Zäune und über die Dachrinnen drängte der Efeu.

»Nicht anders als in Gollwitz«, stellte Anna fest.

»Ein Fliegenschiss sieht überall gleich aus.«

»Ich find’s toll, wenn es so verwildert.«

»Ist bestimmt im Sinne der Eigentümer.« Willy garnierte seinen Kommentar mit einem humorlosen Grinsen und lenkte den Wagen auf die Einfahrt der Dorfstraße 41. »Hier wohnt das Schwein.«

Er löste seinen Gurt und wollte gerade aussteigen, als Anna ihm die Hand auf die Schulter legte. »Warte mal bitte.«

»Kommt jetzt die Moralkeule?«

»Ich will nur wissen, was du dir davon erhoffst.«

»Wovon?«

»Spiel nicht den Dummen.«

»Ich werd ihn direkt drauf ansprechen, mehr nicht.«

»Und mit welchen Argumenten? Etwa mit deiner Kornblume?«

»Anna, ich war 40 Jahre lang Bulle. Ich weiß, wie man Leute zum Reden bringt.«

»Das glaube ich dir aufs Wort.« Sie schnallte sich ebenfalls ab. »Wahrscheinlich haben wir unterschiedliche Vorstellungen davon, was es heißt, jemanden zum Reden zu bringen.«

»Ich meine bloß reden, versprochen.«

Anna fixierte ihn, worauf er ihrem Blick auswich und so tat, als suche er etwas in seinen Hosentaschen.

»Keine Gewalt, Willy.«

Er hob leicht den Hintern, zerrte eine Packung Bonbons aus der Gesäßtasche und hielt sie Anna vor die Nase. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Keine Gewalt, okay?«

»Mit Eukalyptusgeschmack.«

»Willy, versprochen ist versprochen.«

»Jaja«, entgegnete er, quetschte die Bonbons in die Hosentasche und hievte sich aus dem Wagen.

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