Nacht im Kopf

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Private Dancer

Wie jeden Abend wollte Pawel es sich auf dem Sofa mit Bibi bequem machen. In einer Aluschale dampfte sein Abendessen: Hähnchen, Klöße, Rotkohl, dazu eine fettige Soße. Um nicht den Müll im TV ertragen zu müssen, hatte er seine Lieblingsserie in den DVD-Player geschoben. »Schock-Geschichten«. Zwölf Episoden voller Grusel, Terror und Leidenschaft. Doch ehe Pawel auf Position war, sah er durchs Fenster den jungen Kowalski zur Kneipe schlendern, was im Hause Mitschek eine kleine Programmänderung zur Folge hatte.

Keine fünf Minuten später schob er die leere Aluschale aufs Fensterbrett und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Bibi sprang auf seinen Schoß und sofort spürte er durch die Jogginghose hindurch ihre Krallen. Er kraulte ihr sanft das Köpfchen, bis sie zufrieden schnurrte und sich einrollte. Angesichts seiner massigen Oberschenkel und seines Bauchumfangs wirkte Bibi kaum größer als ein Wollknäuel. »Ich wette«, sagte er zu ihr, »heute wird’s knallen.«

Nachdem 20 Minuten ereignislos verstrichen waren, entschuldigte er sich bei Bibi und schob sie auf die Armlehne. Er hievte sich vom Sessel und schleppte sich durchs Wohnzimmer. Leere Colaflaschen übersäten den Teppich; unter seinen Pantoffeln knirschten Chips- und Haribo-Tüten. Aus dem 5.1.-Soundsystem, das er vor Jahren in einem letzten Kraftakt installiert hatte, surrte spannungsgeladene Musik. Obwohl er die Serie in- und auswendig kannte, stoppte er am Sofa, stützte die Arme auf die Rückenlehne und folgte Judy Geeson über die unheimlichen Moore von Yorkshire. Längst waren ihm die Darsteller alte Bekannte geworden, die Geschichten so vertraut wie achtsam gehütete Familiengeheimnisse.

Judy Geeson, in der Rolle einer modernen Großstädterin, besuchte ihre Eltern auf dem Lande. Sie war gerade aus dem Zug gestiegen, da begegneten ihr schon die misstrauischen Blicke der Einheimischen. Eine jede Episode der »Schock-Geschichten« hielt, was der Serientitel auf subtile Weise versprach. So glaubte sich Judy Geeson von einem Brandstifter verfolgt, und natürlich wollte sie keiner der Einheimischen zu ihrem Elternhaus chauffieren. Bevor sie zu Fuß das schützende Heim erreicht hatte, begannen Pawel die Knie zu zittern. Er wälzte sich ans Ende der Rückenlehne und holte tief Luft; dann der Endspurt ins Badezimmer.

Mit seiner Rechten langte er nach dem Haltegriff seitlich der Toilette, mit seiner Linken zog er sich Hose und Slip herunter. Langsam und in äußerster Vorsicht sank er auf die Brille, dann riss er sich einen Streifen Klopapier ab und wischte sich damit den Schweiß von der Stirn. Er warf das Papier ins Waschbecken und umfasste seine Knie.

Der Schmerz fauchte in seinen Gelenken wie eine gegen die Wand getriebene Katze. Jeder Pfotenhieb strapazierte seine Nerven. Er massierte sich die Knie und dachte daran, dass ihn die Angst vor den Schmerzen schon einmal ans Sofa gefesselt hatte. Statt auf Toilette zu gehen, hatte er in eine leere Colaflasche uriniert und die Flasche unter dem Tisch verstaut. Drei Tage lang.

Pawel bediente die Spülung und stemmte sich mithilfe des Haltegriffs hoch, wankte zum Waschbecken und musterte sich im Spiegel. Sein Haar, schulterlang, fettig und angegraut, klebte ihm hinter den Ohren; schlaffe Wangen umrahmten seine Mundwinkel. Sein Körper hatte jede Spannung verloren. Er schnappte sich die Ibuprofen vom Beckenrand, warf eine Tablette ein und ließ den deprimierenden Anblick hinter sich.

In der Diele standen neben der Schuhablage ein Sechserpack Cola und eine Tragetasche voller Chips. Er zerrte eine Flasche aus der Klarsichtfolie und suchte Halt an der Wand, klemmte die Cola unter seinen Arm und eine Tüte Chips zwischen seine Zähne, dann kämpfte er sich zurück ins Wohnzimmer.

Am Sofa angekommen, stellte Pawel die Flasche ab und stützte sich wieder auf die Rückenlehne. Inzwischen lief die zweite Episode der »Schock-Geschichten«; diesmal war der Handlungsort ein Herrenhaus, irgendwo am Rande einer verlassenen Landstraße. Eine Tramperin, die von einem Unwetter überrascht wurde, bat um Einlass. Was die arme Frau nicht ahnte: Das Haus war in Besitz einer Familie ausgehungerter Kannibalen.

Jede der zwölf Episoden war von Alan Albert Bloch geschrieben worden, einem Schriftsteller und Drehbuchautor, der sich Mitte der 70er-Jahre in einen New-Age-Messias verwandelt hatte. Pawel hatte sogar Alan Blochs Bibel »Im Innern des Baumes« zu lesen begonnen, doch nach wenigen Seiten kapitulieren müssen. Zu schwammig, zu esoterisch. Das hatte ihn aber nicht daran gehindert, ein Poster von »Leise, leise klingelt der Tod«, vermutlich Blochs bekanntestem Werk, über seinem DVD-Regal anzubringen. Großes Kino, dachte Pawel. Ganz großes Kino. Er nahm die Flasche vom Boden und schleppte sich ans Fenster.

Nachdem er wie ein Mensch, der normalerweise Gehhilfen benutzte, in den Sessel geplumpst war, tapste Bibi zurück auf seinen Schoß. Zwei ferne Nachbarn, die er lediglich vom Sehen kannte, kamen die Dorfstraße entlanggelaufen, stoppten vor der Kneipe, um ihre Kleidung zu richten, und verschwanden in der Tür. Pawel nahm das Glas vom Fensterbrett und überprüfte, ob auch keine Fliege in den Colaresten klebte.

Ein Muster an Sauberkeit war Pawel nie gewesen; allein in den Wochen, als Mona sein Leben bestimmt hatte, war er über sich hinausgewachsen: Er hatte das dreckige Geschirr abgespült, das Leergut zum Pfandautomaten gebracht und den Plastikmüll in der gelben Tonne entsorgt; er hatte das Wohnzimmer gesaugt und die Sofakissen dekorativ auf der Couch arrangiert; er hatte die Bilderrahmen an der Wand vom Staub befreit – links das Porträt seiner verstorbenen Eltern und ein Schnappschuss von Bibi, rechts seine Galerie alter Kinoplakate. In dem Hochgefühl der Liebe hatte er mit seiner Handykamera die Küche und die Wohnstube gefilmt und all das kommentiert, was ihm vor die Linse geraten war. Der neue Kühlschrank, Bibis Fressnäpfe, die Yuccapalme und sein DVD-Regal, wobei er Mona jeden seiner Lieblingsfilme mit einem Extrakommentar präsentiert hatte. Die jeweils dreiminütigen Videos hatte er ihr dann per Whatsapp gesandt.

Er legte die fast leere Chipstüte auf die Armlehne und strich die Krümel von Bibis Rücken. Ein Kerl, den er nicht kannte, trat vor die Kneipe und rauchte eine Zigarette. Wenig später trabte das Geburtstagskind samt Gattin an. Es musste mittlerweile kurz nach 20 Uhr sein. Ehe Krügers eintraten, veranstalteten sie einen Affentanz, wer wem die Augen abschirmen durfte. Garantiert spielte Frank Lewin einen dieser berühmten Happy-Birthday-Songs, und alle lagen sich in den Armen, als hätten sie einander unheimlich lieb.

In dem Moment, in dem sich hinter Krügers die Tür schloss, machten sich seine Kniegelenke bemerkbar. Behutsam, sodass Bibi sich nicht gestört fühlte, hob er das linke Bein und positionierte es auf einem Hocker unterm Fenster. Vor wenigen Monaten hatte er sich noch ausgemalt, wie er den Kuxwinklern seine neue Freundin vorstellte. In seinen Fantasien hatte er zu ihr gesagt:

»Komm, lass uns was trinken gehen.«

»Was trinken?«, wiederholt sie ungläubig.

»Na, in meine Stammkneipe.«

»Ihr habt hier ein Lokal?«

»Gleich gegenüber«, antwortet er lachend. »Abends treffen wir uns immer dort.«

Als er mit ihr durch die Eingangstür schreitet, offenbart die Meute ein erstauntes Gesicht, dazu ein kollektives »Oh« und »Ah«. Lässig schmeißt er zur Begrüßung eine Lokalrunde. Mona integriert sich ohne jede Scheu bei den anderen Damen, amüsiert sich, tätschelt ihnen zwanglos die Schultern, und die Herren beglückwünschen ihn hinter vorgehaltener Hand für so eine Granate.

Aber seine Fantasie hatte keine zwei Wochen überlebt. Nachdem ihre Reaktion auf seine Videos eher verhalten ausgefallen war, hatte er ihr täglich neue Liebesbotschaften geschickt. Diesen Film musst du gucken. Schau mal, Bibi kann Kunststücke. Und ich habe 5 Kilo abgenommen. Nur für dich. Am Ende hatte sie ihn blockiert und sein Sauberkeitsdrang war wieder aufs alte Niveau geschrumpft.

Langsam zeigten die Tabletten Wirkung. Er verrückte sein Bein ein wenig, lehnte sich zurück und kraulte Bibi den Nacken. Mittlerweile war die Dorfstraße fast dunkel, das Kneipenlicht leuchtete warm und einladend und aus seiner Anlage tönte die Abspannmusik der »Schock-Geschichten«. Er langte in die Chipstüte und leckte sich die letzten Krümel von den Fingern. Seine Annahme, dass die Geburtstagsfeier ein explosives Abendprogramm bieten würde, war wohl voreilig gewesen. Pawels Lider sanken tiefer und tiefer, und Bibi erfüllte das Wohnzimmer mit ihrem Schnurren.

Das Geschrei auf der Straße ließ ihn die Augen öffnen – ohne Schreck oder Herzrasen, vielmehr so, als wäre er statt am Fenster vor dem Fernseher eingeschlafen und von einem überlauten Werbeblock geweckt worden. Mit trägem Blick sah er im Eingangsbereich der Kneipe sechs Gestalten. Eine Person kroch auf allen vieren, während eine andere ihr in den Hintern trat; der Rest stand dicht daneben und applaudierte. Pawel wischte sich über die Augen, weil ihm die Szene geradezu surreal erschien. Als die Gestalten über die Straße blickten, rutschte er in greller Panik vom Sessel. Er fand die Fernbedienung, schaltete die Glotze ab und stellte sich im Dunkel seiner Stube tot.

EIN LIEBLICHER TAG

19. Oktober 2019
9.00 Uhr

»Hast du ihn seit damals gesprochen?«

»Ich denke, ein-, zweimal«, sagte Anna.

»Wow, best friends, würde ich behaupten.« Mike umklammerte das Lenkrad in der fünf vor eins Position, sodass seine Unterarme beidseitig auflagen. Ein Stirnband bändigte seine Haare und gab ihm den Look eines Tennisspielers aus den 80ern, dessen Bauchansatz verriet, dass er seine Karriere längst beendet hatte. Über einer Jeans trug er ein offenes Karohemd, darunter ein T-Shirt mit dem Aufdruck eines Horrorfilms. »Die lebenden Leichen des Dr. Diabolo«. Verwaschen, verspielt, vertraut. Nach einer Bedenkminute fragte Mike:

 

»Willst du ihn nicht vorher anrufen?«

»Nee, ich überrasch ihn lieber.«

»So liebe ich dich: immer mit der Tür ins Haus.«

Anna rang sich ein Grinsen ab und wandte den Blick zum Fenster. Unter den Baumkronen streckte sich die Gollwitzer Chaussee gen Norden, schnurgerade und ohne Gegenverkehr. Ein blauer Himmel blitzte zwischen dem Herbstlaub hindurch; Schatten fächerten im Stakkato über die Windschutzscheibe. In schwarze Folie eingepackte Strohballen türmten sich auf den Feldern, die Silhouetten einer Herde Rehe zerschnitten den Horizont. In den dreieinhalb Jahren, die Anna nicht mehr hier gewesen war, hatte die Welt sich gewandelt, zu einer mit Licht und Farben und Musik. Sie schielte nach links und sah Mike mit den Handballen aufs Lenkrad trommeln. Aus den Boxen schnurrte die Playlist, die sie gemeinsam zusammengestellt hatten: Soulklassiker wechselten mit Britpop und Post-Punk.

Sie zog ihren Rucksack aus dem Fußraum, öffnete ihn und zerrte einen Hefter hervor. Darin unzählige Dokumente, blauer Kugelschreiber auf Musterbögen, Unterschrift gefolgt von Unterschrift. Niemals zuvor hatte sie sich mit einer Erbschaft auseinandersetzen müssen.

»Das hätte man auch per Post erledigen können«, sagte Mike, ohne den Blick von der Fahrbahn zu nehmen.

»Kann sein«, erwiderte Anna. »Aber ich muss das Haus ein letztes Mal sehen.«

»Und was hat er damit zu tun?«

»Ich will nicht allein hinfahren.«

»Ich bin doch da.«

»Du bist damals nicht dabei gewesen.«

»Stimmt, ich hab den Klub geputzt.«

»Das klingt, als wärst du beleidigt.«

»Im Gegenteil.« Er spreizte einen Zeigefinger vom Lenkrad. »Um ehrlich zu sein, bin ich froh, dich erst später kennengelernt zu haben.«

»Hey, wir kannten uns schon vorher.«

»Ja, allerdings nicht so.«

Jetzt lächelte er gegen die Windschutzscheibe, und Anna schämte sich dafür, dass sie kaum niedergeschlagen war, dass ihr Leben weiter in den richtigen Bahnen verlief, ihre Arbeit im Jugendklub, ihre Beziehung, das große Drumherum, schämte sich dafür, den Tod ihrer Familie nicht zu betrauern.

»Keine Sorge«, sagte sie schließlich, »du wirst ihn mögen.«

»Diesen Willy Urban?«

»Ja. Er ist cool.«

»Cool?« Mike lachte auf, wobei er sich die Linke vor den Mund hielt. Seitdem ihm einer seiner Eckzähne abgebrochen war, offenbarte jedes Lachen, jedes Gähnen eine schwarze Lücke. »Nach dem, was du mir erzählt hast, würde ich ihn eher sonderbar nennen.«

»Cool, sonderbar und cholerisch.«

»Oh, cholerisch auch.«

»Ja, sein bestechendster Charakterzug.«

»Auf diese Seite freue ich mich besonders.«

»Dann hoffe ich mal, dass er einen sitzen hat.«

»Bisschen früh, oder?«

»Dahingehend ist Willy sehr flexibel.«

Mike lenkte seinen Ford Taurus von der Gollwitzer Chaussee auf einen Feldweg und sofort kroch Anna die Nervosität in die Glieder. Sie zog eine Wasserflasche aus dem Rucksack, trank einen Schluck und dachte gleichzeitig an die Bierpullen, mit denen Willys Auto zugemüllt gewesen war. Als sie wegen eines Schlaglochs ein wenig Wasser verschüttete, kam ihr die Erinnerung an Willys Ausraster hoch; in seinem Zorn hätte er seinen Wagen beinahe gegen einen der Obstbäume gesteuert. Sie schraubte die Flasche zu und konzentrierte sich auf die Musik, doch belebte das nur neue Bilder: Willy in seinem Opel, singend oder im Gespräch mit seiner toten Frau.

»Ist es das?«, rief Mike.

»Ja, eindeutig.«

»Wow, ein echtes Backsteinhaus.«

»Was hast du denn erwartet?«

»Durchaus was Finsteres.«

Entgegen ihrer Annahme waren die Fensterläden und die Haustür nicht farblos, sondern erstrahlten in einem hellen Grün. An der Fassade reihten sich Rosensträucher, oberhalb der Eingangsstufen hing sogar ein neuer Briefkasten. Der Opel in der Einfahrt war allerdings noch derselbe, und allein dieser Anblick verdeutlichte ihr, wie fern das hiesige Leben von ihrem eigenen zu sein schien, fern von Berlin und ihrer Arbeit, von dem ganzen Treiben ihrer großstädtischen Existenz. Im Grunde so weit weg, dass es nur logisch war, das Erbe ihrer Zieheltern auszuschlagen.

Mike parkte den Taurus hinter Willys Astra, schnallte sich ab und bot ihr an, im Auto zu bleiben. »Ich kann mir auch ’n nettes Café suchen.«

»Da wirst du enttäuscht werden.«

»Irgend’ne Frittenbude findet sich immer.«

»Nicht in Gollwitz. Hier kräht kein Hahn.«

»Okay, dann warte ich eben im Auto.«

»Seit wann bist du so ’n Schisser?« Mit einem Grinsen öffnete Anna die Wagentür und stieg aus.

Sie rollte die Ärmel ihres Pullovers runter, stemmte die Hände in die Taille und blickte über die angrenzenden Felder. Ein grünes Band spannte sich von Ost nach West, und Mike fragte sie, was hier gesät worden sei. Futterklee, antwortete Anna und war selbst über ihre schnelle Reaktion erstaunt. In dem Glauben, Willy lauere hinter einem der Fenster, wandte sie sich dem Haus zu. Sicherlich war ihm in den letzten Jahren nicht die Bude eingerannt worden; während ihrer gemeinsamen Zeit hatte er sich kaum als großer Philanthrop präsentiert. Sie winkte in Richtung Haus, aber Willy machte keine Anstalten, sich zu zeigen.

Mike versuchte, seine Unsicherheit mit einer gelangweilten Miene zu kaschieren. Leider funktionierte diese Taktik nicht mal bei ihren Kindern und Jugendlichen im Klub. Sie strich ihm über den Arm und er blinzelte nervös.

Noch bevor Anna an die Tür klopfte, erfasste sie eine abstruse Vorstellung: Was, wenn Willy irgendetwas zugestoßen war, er womöglich im Krankenhaus lag oder – und dieser Gedanke ließ ihren Atem stocken – auf dem Gollwitzer Friedhof? Mit seinen 73 war sein Alter fünf Jahre unter der durchschnittlichen Lebenserwartung deutscher Männer, sagte sie sich. Andererseits hob ein fetter, cholerischer Alkoholiker nicht unbedingt den Schnitt. Anna hämmerte heftig gegen die Tür in der Hoffnung, den Gedanken damit zu verscheuchen.

»Vielleicht ist er nicht da«, flüsterte Mike.

»Wo soll er schon sein?«

»Vielleicht Freunde besuchen.«

»Er hat keine Freunde.«

»Oder er ist im Urlaub.«

»So was kennt Willy nicht.«

»Na ja«, sagte Mike. »Bestimmt hockt er nur aufm Klo.«

Anna horchte an der Tür, hörte nichts und zerrte einen Schlüssel aus der Jeans.

»Wo hast du den denn her?«, wollte Mike wissen.

»Hat mir Willy geschenkt.«

»Und das hat er nicht vergessen?«

Anna zuckte die Achseln und schob den Schlüssel ins Schloss.

In einem Anflug von Erstaunen registrierte sie, dass sich nicht nur das Äußere des Hauses verändert hatte: Die Diele war neu tapeziert worden und auf der Telefonbank lagen saubere Sitzpolster. Als sie darunterschaute, kniff sie enttäuscht die Lippen zusammen. Statt der Pantoffeln, die sie damals in Willys Haus getragen hatte, stand dort ein Korb voller Latschen, an denen noch die Preisschilder klebten.

Sie rief erneut nach Willy, aber aus Küche und Wohnstube kam keine Antwort; vielmehr verursachte das Gemäuer eine Stille, die man allenfalls unter den Dächern alter Häuser vernahm. Still und doch nicht geräuschlos, eher ein schwaches Surren, das Gebälk und Gemäuer zu erzeugen schienen. Behutsam öffnete Anna die Wohnstube, trat ein und winkte Mike hinter sich her.

»Willy?«, flüsterte sie aus Sorge, ihn zu verschrecken. »Bist du hier?«

Auch in der Stube war alles anders oder genauer gesagt alles neu. Ein heller Anstrich verlieh dem Raum Größe und die Fenster wurden von fliederfarbenen Vorhängen geschmückt. Zwischen Sofa und Fernseher streckte sich ein Teppich, der für Willys Verhältnisse viel zu flauschig, viel zu einladend und vor allem viel zu sauber war.

»Er hat wohl auch seine ruhigen Momente«, sagte Mike und deutete zur Wand. Dort, wo einst Notizen, Fotos und Zeitungsartikel die Tapete verdeckt hatten, hing ein gerahmtes Puzzle; das Motiv eine Meereslandschaft mit Korallen, Fischen und einem riesigen Wal.

»Sieht ihm gar nicht ähnlich«, erwiderte Anna.

»Puzzeln soll gegen Demenz helfen.«

»Passt trotzdem nicht zu ihm.«

»Vielleicht wohnt er gar nicht mehr hier.«

Anna runzelte die Stirn, als hätte Mike gerade für ein Verbot von Horrorfilmen plädiert. Oder ihr Freund lebe inzwischen mit jemandem zusammen, setzte er nach, was sie noch abstruser fand. Wortlos betrachtete sie ein Bücherregal, an das sie sich ebenso wenig erinnern konnte.

»Der Herr steht eindeutig auf Krimis.« Mike ließ einen Finger über die Einbände wandern. »›Goldfinger‹, ›Mondblitz‹ und … Ach, guck an.« Er tippte auf einen Reiseführer für Italien. »Von wegen er macht keinen Urlaub.«

Anna, zutiefst verunsichert, begab sich in den rückwärtigen Teil der Wohnstube. An der Wand stand das Küchenbüfett, dessen unpassender Platz ihr wenigstens vertraut war. Auf der Arbeitsfläche der Plattenspieler, daneben ein Stapel Schallplatten, beides ohne ein Körnchen Staub. Willy musste eine Frau kennengelernt haben – anders konnte sie sich diese Sauberkeit, diese ganzen Veränderungen nicht erklären. Sie ging in die Hocke und linste durch die Glastüren. Die Flasche »Bushmills«, die Willy am Tag ihrer Abreise angebrochen hatte, fand sich natürlich nicht im Schrank.

»Ich glaube, wir haben den gleichen Geschmack«, flüsterte Mike und hielt ihr ein Album namens »Barry White Greatest Hits« hin. Der Anblick entlockte Anna ein Lächeln; das war eindeutig eine von Willys Scheiben. Sie kam hoch und folgte Mikes Finger durch den Plattenstapel, von Tina Turners »Privat Dancer« zu Bill Withers »Lovely Day«, lauter Songs, die sie auch auf ihrer Playlist hatten, und als sie ihren Kopf an seine Schulter schmiegte, vernahm sie das Dröhnen stampfender Schritte.

Reflexartig wandten sie sich um, ehe sie beide in ihrer Bewegung erstarrten. Die Tür flog auf und Willy stürmte herein, in der Hand eine Axt, kein Blick zur Seite, kein Blick zu ihnen. »Verdammte Hexe!«, schrie er und schlug das Puzzle von der Wand.

9.05 Uhr

Jimmy Schauder setzte seine Brille auf und angelte das Smartphone vom Boden. Es war kurz nach neun, und er wusste, dass seine Mutter ihn jeden Moment aus dem Bett klopfen würde. Frühstück sei fertig, würde sie durch die Tür rufen und ihm gleichzeitig androhen, den Tisch abzuräumen, wenn er nicht sofort hinunterkäme.

Er rollte sich auf die Seite, knautschte das Kissen so zurecht, dass ihn die Brille nicht störte, und begann, »Fire Station 2« zu zocken. Seine Spielfigur war ein Feuerwehrmann, der innerhalb kürzester Zeit so viele Brandherde wie möglich löschen musste. Oberhalb der Spielfläche leuchteten seine verbliebenen Leben auf – er konnte selbst in einem der Feuer zu Tode kommen – und daneben lief ein Countdown mit der Spielzeit. Seit seine Chemielehrerin vor der Klasse einen Streifen Magnesium entflammt hatte, war Jimmy von Feuer fasziniert; besonders dessen Zerstörungskraft zog ihn in den Bann. Häuser und Scheunen, über die ein Feuertornado gewirbelt ist. Brennende Luftschiffe. Feindliche Unterschlüpfe, die er in »Shoot ’n Kill« mit dem Flammenwerfer ausradierte.

»Aufstehen!«, schallte es durch die Tür der Dachstube. »Frühstück ist fertig.«

Er sparte sich eine Antwort, denn der nächste Satz war schon im Anmarsch. Seine Mutter drohte ihm, den Tisch abzuräumen, wenn er nicht sofort käme. Also hob er sich in die Senkrechte, ohne das Spiel zu unterbrechen. Er hatte bereits 24 Feuer gelöscht und wollte sich nicht wegen Toast und Tee den Rekord nehmen lassen. Ihm leuchtete ohnehin nicht ein, weshalb seine Mutter immer so einen Aufriss ums Frühstück veranstaltete.

Er schlurfte zu seinem Schreibtisch, wo über der Stuhllehne seine Jeans und sein Pullover hingen, doch statt in beides hineinzuschlüpfen, pflanzte er sich auf den Stuhl. Er musste pinkeln und kniff nervös die Oberschenkel zusammen. Mit geübter Schnelligkeit rutschten seine Finger über das Display; diese Geschicklichkeit ließ Jimmys Vater an seinem eigenen Handy wie einen Grobmotoriker aussehen. Sein Vater hatte ihm das alte Smartphone geschenkt, nachdem er sich selbst ein neues gekauft hatte. Auch wenn Jimmy keine Karte zum Telefonieren besaß, konnte er wenigstens das WLAN benutzen und so die Spiele zocken, die er sich mit Erlaubnis seiner Eltern runterladen durfte.

 

Das Frühwarnsystem in seinen Ohren registrierte die Schritte seiner Mutter hinauf zu seinem Zimmer. Sogleich legten seine Finger einen Gang zu: Feuer löschen, Notruf empfangen, mit dem Einsatzwagen losfahren, das neue Feuer löschen, dem nächsten Notruf folgen, das Drücken der Türklinke ignorieren, Muttis Blick und Muttis Seufzen.

»Jetzt hab ich die Faxen dicke.«

Bevor sie ihm das Telefon aus der Hand hätte schnappen können, schob er es auf den Schreibtisch und beschwichtigte sie mit einer Salve von Entschuldigungen. Gern hätte er in Nullkommanichts seine Sachen angezogen, aber die Geschicklichkeit, die Jimmy auf dem Smartphone bewies, fehlte ihm in seinen Beinen. Er streifte sich umständlich die Hose über, danach den Pullover – und das alles unter den wachsamen Augen seiner Mutter.

»Vielleicht sollte Papa das Handy wieder einkassieren.«

»Ihr habt gesagt, solange ich meine Pflichten erledige …«

»Ich hab dich vor zehn Minuten gerufen.«

»Ich wusste nicht, dass Essen zu meinen Pflichten gehört.«

»Am Wochenende frühstücken wir zusammen. Wir sind keine Assis.«

»Und Papa?«

»Was ist mit Papa?«

»Der baut am Haus und kommt eh nicht.«

»Der macht wenigstens was.«

Er half seinem Vater gern, besonders, wenn er an eine der schweren Maschinen durfte. Das wiederum wollte seine Mutter nicht, weshalb er von seinem Vater nur die dümmsten Helferjobs aufgedrückt bekam. Wasser holen, um den Beton anzumischen. Ein Loch für einen Pfeiler ausheben. Irgendein Material abschleifen, allerdings mit Sandpapier und nicht mit dem Deltaschleifer. Und sobald sein Vater bei einer Zigarette pausierte, hing er genauso am Handy wie Jimmy sonst auch. Er zuckte mit den Schultern, schnappte sich das Telefon und rannte hinunter aufs Klo.

Noch vor der Morgenwäsche schrieb er Liane eine Nachricht. Dann schob er die Zahnbürste einmal in die linke Backe, einmal in die rechte, zum Schluss über die Vorderzähne und fertig. Mit einer Handvoll Wasser befeuchtete er sein Haar und kämmte sich den Pony zurecht. Lianes Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Komm vorbei, schrieb sie kurz und knapp. Wir zocken.

Er setzte sich auf den Toilettendeckel und betrachtete sein Smartphone, fixierte ihre Nachricht in der Hoffnung, es würde eine zweite folgen. Ein einziger Satz hätte ihm genügt: Wir können auch was anderes machen. Oder: Lass uns durch die Gegend streifen. Nein, verbesserte er sich. Liane würde nie durch die Gegend streifen sagen. Das waren die Worte seines Vaters gewesen, als er ihm hatte erklären wollen, was er in Jimmys Alter so getrieben habe. Durch die Gegend streifen. Unterstände errichten. Auf der Lauer liegen. Jimmy hatte das an die Scharfschützen aus seinem Lieblingsspiel erinnert. Sniper, die getarnt und regungslos verharren, um den Feind auszuschalten. Das hatte ihm gefallen.

Die Tür zum Badezimmer flog auf und seine Mutter trat ein, die Hand bereits ausgestreckt. Er wusste, was das bedeutete. Er sollte ihr das Telefon aushändigen. »Eine Nachricht noch«, bettelte er, und seine Mutter antwortete lediglich, dass sich sein Vater über jede Hilfe freuen würde.

Wie er erwartet hatte, standen nur die Margarine und das Glas Billignutella auf dem Tisch. Der Platz, wo sonst sein Vater saß, war natürlich leer. So viel zum Thema Wochenende. Von wegen die ganze Familie frühstückt gemeinsam. Alle schön beisammen, während im Ofen die Aufbackbrötchen dampfen. Sein Vater war bereits draußen und werkelte am Haus, seine Mutter strich in einem Prospekt die Schnäppchen an und statt der Brötchen gab es labbrigen Toast.

Jimmy rückte an den Tisch und klatschte sich die Schokocreme aufs Brot. Als er seinen Pfefferminztee süßen wollte, ermahnte ihn seine Mutter, und er stellte den Zucker zurück.

»Und was machst du heute?«, fragte sie ihn.

»Keine Ahnung.«

»Du kannst ja Papa helfen.«

»Ich bin mit Liane verabredet.«

Seine Mutter rollte mit den Augen, und Jimmy wusste nicht, ob ihre Reaktion den Schnäppchen im Netto galt oder seiner Verabredung. Sie leckte den Finger an, blätterte eine Seite um und sagte, ohne aufzuschauen: »Aber nicht wieder die ganze Zeit zocken.«

Liane, das einzige andere Kind im Dorf, besuchte wie er das Kant-Gymnasium und irgendwann hatten sie sich auf dem gemeinsamen Schulweg angefreundet. Liane besaß eine Playstation 4 – also nicht ihre Familie oder ihre junge Mutter, nicht einer der Brüder, die sie glücklicherweise nicht hatte, und auch kein gleichaltriger Freund, der ebenso wenig in ihrem Leben existierte. Liane besaß eine Playstation, nur für sich allein, und das verwandelte ein Mädchen aus der Nachbarschaft in ein wirklich cooles Mädchen.

»Wir zocken nicht. Wir wollen draußen spielen.« Er fand das Wort spielen peinlich, glaubte jedoch, dass es bei seiner Mutter den Argwohn zerstreuen würde.

»Willst du mich veräppeln?«

»Nein, will ich nicht.«

»Ich rufe bei Lianes Mutter an.«

Ja, das würde seine Mutter fertigbringen. Er biss von seinem Toast ab und grübelte, wie er wieder an sein Smartphone kommen könnte. Da öffnete sich die Tür und sein Vater stapfte herein. Er hatte die Arbeitsschuhe draußen abgestreift – Mutter hasste es, wenn er in dreckigen Botten das Haus betrat –, wuschelte im Vorbeigehen Jimmys Haar und zog schließlich die Kanne aus der Kaffeemaschine.

»Und? Kommst du voran?«, erkundigte sich seine Mutter.

»Geht so«, antwortete sein Vater.

»Jimmy hilft dir bestimmt.«

Sein Vater lehnte an der Anrichte und wischte mit dem Daumen über sein eigenes Smartphone. Fußball – das interessierte Jimmy kaum, es sei denn, es ging um die Millionenbeträge, die ein Spieler bei einem Vereinswechsel kostete.

Nachdem weder sein Vater noch er auf die Bemerkung seiner Mutter angesprungen waren, sagte sie:

»Und, Jimmy? Ein bisschen mit anpacken?«

»Papa baut den ganzen Tag.« Er blickte zu seinem Vater auf. »Oder?«

Sein Vater stierte auf sein Smartphone und zeigte keinerlei Reaktion.

»Zocken bei Liane fällt jedenfalls aus«, bekräftigte seine Mutter. »Hast du mich verstanden?«

»Ja klar«, sagte Jimmy besonders laut. »Wir wollen eh durch die Gegend streifen.«