Berufsbildung in der Schweiz - Gesichter und Geschichten

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Im Tutorat ist es zum Teil tatsächlich recht extrem mit diesem «Nichts-Tun», zumindest sieht es so aus, von aussen betrachtet. Im Skills-Training zeige ich immerhin vor und weiss, ob ich richtig vorzeige oder fehlerhaft – ich sehe auch, wie die Studierenden es umsetzen. Deshalb ist es so wichtig, dass ich «richtig vorzeige», es wird dann ja übernommen.

Oder ich höre, wie die Studierenden diskutieren. Ich sehe, ob sie vielleicht teilnahmslos in der Bank hängen, nehme andere nonverbale Signale wahr ... Das sind alles Feedbacks auf mein eigenes Handeln, die ich wahrnehme und reflektiere. Manchmal gibt es auch direktes Feedback.

Zum andern gibt es nach zwei oder drei Tagen immer eine Lernergebnissicherung, da wird das Gelernte vorgezeigt. Anhand dessen sehe ich, ob geübt wurde, aber auch, ob der Unterricht gut war oder nicht. Wenn ich etwas demonstriert habe, benützen die Studierenden anschliessend beim Üben dieselben Begriffe wie ich beim Vorzeigen, das heisst ja, sie haben zugehört. Manchmal ist das fast beängstigend, wie exakt sie mich «kopieren» ...

Je jünger die Studierenden sind, desto wichtiger ist übrigens die Instruktion. Erst später sollte man loslassen, sie selber konstruieren lassen. Wo sie genau stehen, lässt sich nicht immer leicht beurteilen. Das ist für mich aber eine wichtige Frage: was die Studierenden im Augenblick brauchen. Im Skills-Training arbeiten wir stark nach dem Modell der kognitiven Meisterlehre, der Cognitive Apprenticeship.

Dass die Ausbildung nach drei Jahren nicht abgeschlossen ist, ist in unserem Beruf hingegen völlig klar. In der Pflege merkt jeder bald, dass es mit Lernen und Selbstständigsein erst nach der Ausbildung richtig losgeht. Feedbacks kommen im Pflegealltag sehr schnell. Man arbeitet ja im Team im Dreischichtenbetrieb, jeder Fehler kommt deshalb zurück. In dieser Hinsicht ist der Pflegeberuf ziemlich hart, die Kollegen müssen unsere Fehler ausbügeln und werden sie deshalb auch zurückmelden.

Bei den Lehrpersonen ist das ja in einem gewissen Sinne ähnlich. Im Studium erwerben sie auch nur eine Grundlage, die ihnen den Einstieg erlaubt – aber fertig ist die Ausbildung dann längst nicht ...

Das fand ich als junge Lehrerin recht schwierig. Man hat von mir als Einsteigerin nicht weniger erwartet als von gestandenen Lehrkräften – zumindest hatte ich diesen Eindruck. Im Kanton St. Gallen ist es auch so, dass man als Einsteigerin ohne Abschluss als Berufsfachschul-Lehrperson mehr Lektionen übernehmen muss als jemand, der ausgelernt ist, hundert Lektionen mehr pro Jahr, auf hundert Prozent gerechnet. – Das hat mir am Anfang zu denken gegeben.

In der Pflege ist das anders. Man weiss, jemand kommt frisch aus der Ausbildung, da wird nicht dasselbe verlangt wie von erfahrenen Pflegekräften. Das gilt auch für die, die neu in einer anderen Abteilung mit anderen fachspezifischen Anforderungen anfangen.

Wie ist es denn mit dem Nachwuchs in Ihrem Beruf?

Variabel, wir haben eher zu wenig Platz, zu viele Lernende ... Dabei gibt es einen gewissen Mangel an Pflegepersonal, vor allem an qualifiziertem Personal, viele arbeiten, aufgrund der strengen Arbeitsbedingungen wie Schichtarbeit usw., nicht zu hundert Prozent, etliche steigen auch wieder aus. Inzwischen gibt es bei uns viel Personal aus Deutschland, die Grenze ist ja nicht weit. Das führt manchmal zu Problemen, weil die Deutschen eine andere Ausbildung haben. Sie verfügen teilweise nicht über dieselben Kompetenzen wie Personen, die ihre Ausbildung in der Schweiz absolviert haben. Es stellt sich dann die Frage, wo man diese Leute einsetzt, welche Weiterbildung sie brauchen, um sich auf denselben Stand zu bringen.

Leiden Sie manchmal an Ihrem Beruf?

Manchmal – zum Beispiel bei den zeitlichen Spitzenbelastungen. Und generell, weil es streng ist, auch an Wochenenden muss ich mich vorbereiten. Es ist nie zu Ende, man muss sich ständig vorbereiten, reflektieren, sich weiterbilden. Das ist mit viel Stress verbunden.

Wie schützen Sie sich?

Nicht sehr gut. Der Druck ist gross, der von innen, aber auch der von aussen. Unser Lehrerteam hat hohe Ansprüche, finde ich, wobei man sich auch immer selber misst. Am effektivsten ist, wenn ich versuche, mich vor mir selbst zu schützen.

Gibt es so etwas wie Coaching?

Es gibt kollegiale Unterrichtshospitationen, im Sinne von Wissensmanagement, da besteht auch die Möglichkeit, sich auszutauschen. Ich kann Kolleginnen fragen. Ansonsten rede ich gerne mit älteren Freunden, von denen ich weiss, dass sie Erfahrung haben. Das mag ich lieber als Coaching durch eine Fremdperson. Das wäre der letzte Ausweg vor dem Burn-out. Das will ich möglichst vermeiden.

Ausserdem treibe ich Sport, pflege Hobbys und Freundschaften – Sport fast schon exzessiv ... joggen, Fitness, Ausdauersport. Auch Reisen, mich mit Freunden treffen und nicht über den Beruf reden, das gibt mir den Ausgleich.

Aber ich bewege mich oft am Limit – bin Burn-out-gefährdet, das ist mir bewusst. Man hat mir das auch schon oft gesagt, dass ich mit meinem Leistungsdenken früher oder später in die Gefahrenzone geraten könnte.

Mein Vater war ganz ähnlich und ist es immer noch: sehr leistungsorientiert, immer dabei, sich weiterzubilden, vielseitig interessiert – er ist nicht das beste Vorbild im Sinne der Burn-out-Prophylaxe. Und trotzdem stelle ich bei ihm keine Symptome eines Burn-outs fest.

Was ist das denn aus Ihrer Sicht, dieses Burn-out?

Das ist nicht so klar ... Depressionen, chronische Müdigkeit ... Für mich ist es ein Burn-out, wenn ich nicht mehr weiss, wie ich die Zahnbürste halten muss, wenn ich so ausgebrannt bin, dass ich nicht mehr ohne Nachdenken funktionieren kann.

Es ist mir schon passiert, dass ich kaum mehr Schule geben mochte. Dass ich nicht mehr mochte, nicht mehr konnte. Alles war mir zu streng. Da habe ich mich mit der Abteilungsleiterin ausgesprochen – Veränderungen erreicht. Bin auch ins Wellness gegangen. Habe mich dann relativ schnell erholt, weil ich den richtigen Moment erwischt hatte. Trotzdem war das eine Grenzerfahrung, ich weiss, so weit darf ich es nicht mehr kommen lassen. Das ist mir bis jetzt auch ganz gut gelungen. Ich habe etwas gelernt. Und ich weiss ja, ich bin am richtigen Ort, die Arbeit macht mir Spass.

Wie ist es denn mit der Kreativität, die Ihnen in der Jugend so wichtig war?

Die habe ich jetzt ja. Zum Beispiel bei der Unterrichtsgestaltung, aber auch im Privaten, wenn ich etwas organisieren kann. Sicher nicht mehr im selben Ausmass wie früher, aber ich vermisse das Zeichnen zum Beispiel nicht. Bewegung war immer ebenso wichtig, das pflege ich. Grafik, wie sie heute funktioniert, alles elektronisch, das würde ich nicht mehr wollen, das wäre mir zu technisch.

Was ist für Sie Erfolg?

Wenn ich das erreicht habe, was ich will. Ohne Wenn und Aber.

Woher weiss man, was man will?

Bei mir ist das ein starkes Bauchgefühl. Nach dem SVEB wusste ich, dass es noch nicht «fertig» war, ich wusste allerdings nicht, was als Nächstes kommen würde. Dann kam der neue MAS, und ich wusste, das war’s. Jetzt ist mein Bauchgefühl: Nach dem MAS ist für mich vorerst «mal gut». Ein paar Jahre lang will ich «einfach mal arbeiten». Dann kommt wieder etwas Neues, aber in den nächsten paar Jahren mal nicht.

Während des Studiums habe ich gemerkt, dass mich das Pädagogische genauso interessiert wie die Pflege. Jetzt kann ich beide Aspekte verbinden, aber vielleicht gehe ich später mal in die pädagogisch-didaktische Richtung weiter.

War die MAS-Ausbildung, die Sie jetzt absolviert haben, Voraussetzung, um weiter zu unterrichten?

An der HF hätte ich mit dem SVEB-Zertifikat bis fünfzig Prozent unterrichten können, mehr nicht. Als ich mich entschied, ganz in die schulische Ausbildung zu wechseln, war dieser MAS, übrigens ein Pilotstudiengang, zwar nicht zwingend, solange ich im Fünfzig-Prozent-Teilpensum unterrichtete, aber ich wollte es, um mehr Sicherheit und neue Impulse zu bekommen. Es war hart, die Ausbildung berufsbegleitend zu machen. Am Anfang konnte ich den Aufwand und meine Kapazitäten auch noch nicht so richtig einschätzen. Mit der Zeit habe ich das aber gut in den Griff bekommen.

Im ersten MAS-Jahr ging es hauptsächlich um die lernpsychologischen Grundlagen und den Transfer vom trägen Wissen zum kompetenten Handeln, im zweiten Jahr um Schullehrpläne und die Frage, wie ich Unterricht aufbauen muss usw. Im dritten Jahr standen dann die Lernenden im Zentrum, psychologische Aspekte, Adoleszenz. Das war zwar interessant, aber für mich, die 18-Jährige und Ältere unterrichte, nicht immer relevant. Suchtproblematiken zum Beispiel kommen zwar auch bei uns vor, aber seltener als in einer Grundbildung. Bei uns ist ein Thema wie Burn-out wichtiger.

Wir haben uns dann in Gruppen aufgeteilt – HF und Grundbildung –, dort zwar ähnliche Themen bearbeitet, nur vielleicht nicht aufs Rauchen oder Kiffen fokussiert, sondern auf den Umgang mit Stress oder ähnliche Themen.

Man wird in einem solchen Studium halt wieder zum Schüler, obwohl man selber unterrichtet, das ist schon speziell. Ich bin übrigens eine Lernende, wie ich sie als Lehrperson nicht sonderlich schätzen würde. Sobald ich den Eindruck habe, ich kenne etwas schon, beschäftige ich mich mit anderem. Wenn ich denke: Oh, spannend, kenne ich nicht, bin ich hoch aufmerksam. Aber es kann ja nicht sein, dass an einem Schultag alles neu und interessant ist. Und dann denke ich jeweils: Yvonne, du könntest dich zusammenreissen, du würdest sich über solche Studierende aufregen. Aber hmm, ich war schon immer so.

Strafaufgaben habe ich deswegen nicht häufig bekommen, aber Ermahnungen. Die Leistungen stimmten, aber beim Verhalten ... Ich bin wohl etwas unruhig, kann mich nicht so lange auf etwas konzentrieren, bin mit meinen Gedanken immer schon einen oder zwei Schritte weiter. Ich muss ständig aufpassen, dass ich einmal etwas fertig mache. Am Ende wird alles fertig ... Das schon.

 

Wenn ich aufmerksamer und konzentrierter wäre, könnte ich vielleicht noch etwas mehr herausholen ... Wenn ich allerdings nicht aufmerksam bin, schaut auch etwas dabei heraus, ich folge dann meinen eigenen Gedankengängen, verarbeite, konstruiere für mich.

Und was machen Sie mit Schülerinnen oder Studierenden, die so sind wie Sie?

Ich spreche es an. Ich frage, ob es etwas gibt, was sie der ganzen Klasse mitteilen möchten ... Meist reicht das, sie merken, dass das nicht geht. Auch bei mir reicht es meist, wenn man nachfragt.

Sie haben aber eigentlich etwas anderes beschrieben: Dass Sie nicht aufmerksam sind, wenn Sie etwas schon kennen oder zu kennen glauben oder wenn etwas Sie nicht interessiert. Das ist doch eine normale, auch legitime Reaktion? Natürlich muss man sich fragen, ob es sich auch wirklich so verhält, ob man es tatsächlich schon kennt ...

Ja, und das kann ich ja gar nicht einschätzen, wenn ich nicht zuhöre. – Es kann aber auch sein, dass die Studierenden überfordert sind und deshalb nicht zuhören.

Als Unterrichtende muss ich stets überlegen, wo die Studierenden stehen; wenn ich sie unterfordere, immer mit denselben Themen belästige, dann ist klar, dass sie nicht mehr zuhören mögen. Das ist ein generelles Problem in der Berufsbildung, die mangelnde Individualisierung. Auch als Lehrerin bemühe ich mich zu wenig darum. Alle Lernenden machen im Unterricht dasselbe, egal, welche Voraussetzungen und Vorkenntnisse sie mitbringen. Wir könnten viel mehr mit dem Vorwissen der Studierenden arbeiten. Man kann sie zum Beispiel vorzeigen lassen, schauen, wo es noch Korrekturen braucht und was schon gut ist.

Es ist allerdings schwierig, im Klassenverband auf jeden Einzelnen einzugehen, jedem das zu geben, was er braucht. Das braucht viel Zeit, und weil man immer wieder andere Gruppen hat, ist es noch schwieriger.

Auch Gruppenprozesse in der Ausbildung müsste man besser begleiten. Aber dadurch, dass niemand bei uns für eine Gruppe die Hauptverantwortung hat, ist es immer die einzelne Lehrperson in der konkreten Situation, die auf ein Problem reagieren muss. Aber wer begleitet und betreut den Prozess dann weiter? Das ist ein grosses Problem, für das wir noch keine Lösung haben.

Die Passion für das Andere – Stephan Leiser


Die Passion für das Andere

Stephan Leiser, ehemaliger CEO der Noser Young Professionals (Noser-Gruppe), seit 2014 selbstständiger Berater und Coach für Bildungsprojekte

Obwohl sich in der Informatikausbildung in den letzten beiden Jahrzehnten vieles auf «normale Bahnen» eingespurt hat, sind Informatiker immer noch oft Quereinsteiger. In dieser Hinsicht ist Stephan Leisers Werdegang nicht untypisch. Alles andere an Leiser mutet eher aussergewöhnlich an, auch die Firma, die er aufgebaut und drei Jahre lang geleitet hat: Die Noser Young Professionals (NYP) in Worblaufen bei Bern, wo das Gespräch im Juni 2012 stattfand, ist eine Aktiengesellschaft, die durchaus nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen funktioniert. Allerdings sind unter den neunzehn Personen, die das Unternehmen beschäftigt, nur drei Ausgelernte, die andern sind Lernende, die sich hier ihren Beruf in der Praxis aneignen.

Leiser selbst hat einst im bernischen Oberaargau eine Lehre als Elektromonteur absolviert. Nach dem HTL-Abschluss als Elektroingenieur stieg er erst als Softwareentwickler beim Druckmaschinenhersteller WIFAG in Bern ein – ohne über tiefere Kenntnisse im Programmieren zu verfügen; die eignete er sich erst im Laufe der Zeit durch Erfahrung und Studium an. Inzwischen war er allerdings längst zum Reisenden geworden, für den die Menschen und «das ganz Andere» mindestens so viel Anziehungskraft hatten wie Technologie, Maschinen und die beharrliche Entwicklung neuer Programmcodes. So stieg er nach einem längeren Auslandaufenthalt in die Lehrlingsausbildung ein und hat u. a. auch ein Psychologiestudium an einer Fachhochschule abgeschlossen. Seit 2012 ist die Noser Young Professionals um einen weiteren Standort in Zürich gewachsen und beschäftigt inzwischen sechs Ausgelernte und über vierzig Lernende. Leiser ist allerdings seit Juli 2013 wieder auf Reisen und engagiert sich in Berufsbildungsprojekten in Albanien und Kolumbien.


Meine erste Anstellung als Ingenieur fand ich bei der WIFAG in Bern, damals ein führender Zeitungsrotationsmaschinen-Hersteller. Ich hatte mich vorher nur am Rande mit Programmieren beschäftigt, bei der WIFAG entwickelte ich nun drei Jahre lang Software für Druckmaschinen und war viel unterwegs – überall da, wo unsere Maschinen aufgestellt und in Betrieb genommen wurden.

Damals haben mich die physikalischen Prozesse beim Druckvorgang fasziniert, die Technologie, die Präzision, aber die Umstände waren mörderisch: Siebentagewoche und sehr viel Nachtarbeit. Nach drei Jahren musste ich einsehen, dass ich einen solchen Rhythmus nicht ein ganzes Leben lang würde durchhalten können.

Ich reichte also die Kündigung ein und reiste anderthalb Jahre durch Südamerika; da habe ich meine Passion für «das Andere» entdeckt – für fremde Kulturen, andere Herangehensweisen. Seither bin ich ein Reisender geblieben und habe mir mein Leben immer so eingerichtet, dass ich unterwegs sein kann.

In Lateinamerika habe ich auch erkannt, dass mich die Technologie zwar nach wie vor faszinierte, aber viel mehr noch die Menschen. Was lag da näher, als in die Ausbildung zu wechseln? Als ich zurückkam, begann ich beim Regionalen Ausbildungszentrum im zürcherischen Au (RAU), erst als Berufsbildner, später wurde ich Teamleader der Informatikausbildung, am Ende Stellvertreter des Geschäftsführers. Das RAU war ein ziemlich grosser Laden damals, jedes Jahr betreuten wir rund siebzig neue Lernende. Parallel dazu, um fachlich up to date zu sein, habe ich in Rapperswil am Technikum Softwareengineering studiert.

Am RAU blieb ich fast zehn Jahre. Ich sass damals auch in der zürcherischen Prüfungskommission für Informatikberufe. Das war die Zeit, als das Berufsbild der Informatiker überarbeitet und die Ausbildung gänzlich modularisiert und auf Handlungsorientierung ausgerichtet wurde. Meine Aufgabe in der Kommission war es, die Kompetenznachweise zu validieren; das war spannend, weil wir auf Prüfungsseite völlig neue Wege beschritten und neue Konzepte und Prüfungsformen einführten.

Dass ich dann nach Bern zurückgekehrt bin, hat persönliche Gründe. Vor etwa sechs Jahren habe ich meine Frau kennengelernt. Gute Frauen lernt man in der Heimat kennen, nicht in der Fremde. Irgendwann musste ich mich entscheiden, Pendeln lag nicht mehr drin. Ich kündige also am RAU, heiratete, ging einmal mehr für mehrere Monaten auf Reisen und sah mich danach im Bernischen nach einer neuen Aufgabe um. Wie es der Zufall wollte, waren die Verantwortlichen der Noser-Gruppe gerade auf der Suche nach neuen Ausbildungsmodellen. Im Mai 2010 starteten wir mit den Noser Young Professionals (NYP).

Sie haben als Elektromonteur angefangen, dann eine Technikum-Ausbildung zum Elektroingenieur absolviert. Reichte das damals, um in die Softwareentwicklung einzusteigen?

Das Elektroningenieur-Studium war recht breit angelegt – von der Hochspannungstechnik bis zur Mikroelektronik, ein paar Informatik-Grundlagen gehörten selbstverständlich dazu. Die Anstellung bei der WIFAG erhielt ich allerdings, ohne dass ich klare Vorstellungen und spezielle Kenntnisse in der Softwareentwicklung gehabt hätte. Ich hatte eigentlich auch kein konkretes Bild von dem, was man von mir erwartete, auch von Druckprozessen hatte ich keine Ahnung. Aber offenbar war ich dem Teamleader sympathisch – und er mir. Er sagte mir einfach, er brauche jemanden, der ins Team passe und Funktionen beschreiben könne, und das traute ich mir zu, denn schreiben konnte ich recht gut. Am ersten Arbeitstag zeigte man mir eine Steuerung, sagte, da stecke ein Mikrocontroller drin und übergab mir vier Ordner mit Listings. Mein Vorgänger, der das alles programmiert hatte, habe vor drei Wochen seinen Letzten gehabt: «Übernimm nun du.» Nach wenigen Wochen war ich «der Spezialist», ich wusste zwar immer noch wenig, aber bei Weitem mehr als mein ganzes Umfeld. Damals habe ich gelernt, dass ich neue Herausforderungen meistern konnte, wenn ich mit Offenheit, positiver Energie, Systematik, Hartnäckigkeit und Willen an die Sache heranging.

Informatiker war nie mein konkreter Berufswunsch gewesen. Die Informatikvorlesungen während des Studiums hatte ich nie besonders spannend gefunden, das war mir viel zu abstrakt, ich ging lieber jassen. Softwareentwickler bin ich letztlich also durch Zufall geworden.

Wäre ein solcher Einstieg in die Informatik heute noch möglich?

Kaum. Heute sind die Ausbildungen durchstrukturiert. Es gibt formalisierte Berufslehren für Generalisten, Applikationsentwickler, Supporter, Systemtechniker, von den Hochschulausbildungen nicht zu reden ...

Das erste Reglement für Informatik als klassische Berufslehre ist aber erst Anfang der Neunzigerjahre entstanden. In den Folgejahren gab es eine erste, grundlegende Reform des Berufs, die Ausbildung wurde neu strukturiert und systematisiert und sämtliche Partner in der Ausbildung einbezogen – das war der Stand, als ich 1999 ans RAU kam.

Die Computertechnologie hat sich ja in den letzten Jahrzehnten extrem gewandelt. In dem Buchverteilzentrum, wo ich in meine Lehre als Buchhändler gemacht habe, standen noch massive Fakturierungsanlagen, die mit Lochkarten funktionierten, die Operateure lernten ihren Beruf noch alle on the job ... Das war in den Siebzigern, und der PC hat sich ja erst seit den Achtzigerjahren allmählich durchgesetzt ...

… die technologische, auch die gesellschaftliche Entwicklung erzwingt natürlich eine ständige Anpassung der Ausbildung, aber unser Berufsbildungssystem hinkt der beruflichen Wirklichkeit immer hinterher. Die Erneuerungszyklen sind lang – wenn man sich vorstellt, dass die aktuelle Reform seit etwa 2011 läuft und wir davon ausgehen, dass sie wohl erst 2015 in Kraft treten kann. Das sind in der Informatik gefühlte Jahrzehnte, denn was die Informatik gegenüber anderen Berufen unterscheidet, ist der viel schnellere Wandel – bei Bäckern, Gärtnern oder Malern sind die Inhalte viel langlebiger. Genau deshalb sind unsere Ausbildungsinhalte auch als austauschbare Module abgebildet, in denen möglichst generisch und technologieunabhängig Kompetenzen beschrieben werden. Wir bemühen uns sehr darum, den jungen Leuten vor allem Strategien und Methoden zu vermitteln, damit sie auch künftige Herausforderungen und Probleme erfolgreich meistern können. Dass unsere Ausbildung auf Kompetenzen ausgerichtet sein muss, ergibt sich so fast zwingend.

Bei NYP gehört es auch zur Kultur, dass der Berufsbildner vieles selber nicht weiss. Ich bin in erster Linie der Coach, der die Rahmenbedingungen gestaltet, damit die Lernenden selbst in einem mehr oder weniger geordneten Umfeld die nötigen Lösungsschritte vollziehen können.

Beim Problemlösen erleiden Informatiker oft Schiffbruch, das gehört zum Job. Dass man aus begangenen Fehlern lernen soll, ist bei uns deshalb nicht einfach ein Ausbildungs- oder Lernkonzept, sondern ohnehin allgegenwärtig: Wenn ich einen Machbarkeitstest durchführen soll oder wenn ich eine Problemstellung vor mir habe, bei der ich Neuland betrete, gehören Überlegungen dazu, wie das Umfeld abzusichern ist, damit mein Handeln keine negativen Konsequenzen hat. Ich muss absichern, muss mir eine Testumgebung aufbauen, muss strukturiert ausprobieren, ob meine Lösung zum Ziel führt oder nicht.

Das Ziel selbst kennt aber niemand. Wir wissen nicht, mit welchen Mitteln es erreicht werden kann. Bei den Lösungen gibt es wenig messbare Kriterien, es gibt selten Richtig oder Falsch, immer sind verschiedene Varianten möglich. Entscheidend sind letztlich die Erwartungen des Kunden.

Ich muss also Vor- und Nachteile einer Lösung abwägen und aufzeigen können, damit ich anschliessend entscheiden kann, was ich realisieren will. All das gehört auch für die Lernenden immer zum Lernprozess dazu.

 

Menschen, die klare Strukturen, eindeutige Rezepte und geregelte Verhältnisse mögen, die ein hohes Sicherheitsbedürfnis haben, solchen Menschen ist es bei uns in der Regel nicht wohl. Unsere Lernenden müssen in der Lage sein, mit unscharfen Grenzen umzugehen. Natürlich gibt es in der Informatik auch viele grundlegende Konzepte, die zeitlich länger überdauern. Deshalb hat Konzeptwissen in unserer Ausbildung gegenüber Produktwissen einen viel höheren Stellenwert. Wenn eine neue Version von Windows auf den Markt kommt, haben Normalverbraucher ja oft den Eindruck, sie seien mit einem völlig neuen Produkt konfrontiert. Aber das täuscht, es ist bei Weitem nicht alles daran neu und revolutionär, hinter neuen Produkten verbergen sich in Wirklichkeit meist bekannte Konzepte. Die sollen unsere Lernenden erkennen können.

NYP sind nicht einfach ein Betrieb, der Lernende ausbildet – euer Unternehmen wird hauptsächlich von den Lernenden getragen, das ist speziell ...

Genau – wir sind eine Aktiengesellschaft, die den Lohn für ihre derzeit drei Angestellten und sechzehn Lernenden aus eigener Kraft erwirtschaften muss, ohne Quersubventionen. Das schaffen wir vor allem dank der produktiven Arbeitsleistung der Lernenden. Die Kompetenzorientierung der Ausbildung hilft uns da sehr, wobei die sogenannte Fachkompetenz nur die halbe Miete ausmacht.

Wenn wir als Firma eine Dienstleistung erbringen, genügt es nicht, dass wir eine Aufgabe oder ein Projekt fachlich bewältigen können. Wenn ich Lernende ins Feld schicke, müssen sie die Dienstleistung auch zur Zufriedenheit des Kunden erbringen, dazu brauchen sie ein gewisses Auftreten, sie müssen zuverlässig sein, müssen planen und kommunizieren können, anders gesagt: Es braucht Sozialkompetenzen und Selbstkompetenzen, sonst verdienen wir mit unserer Arbeit keinen roten Rappen. Diese Dinge gewichte ich in der Ausbildung wesentlich höher als Fachkompetenz. Klar will ich die Lernenden auch dazu befähigen, dass sie fachlich über die nötigen Werkzeuge verfügen, um auch in zwei, drei oder vier Jahren dem technologischen Wandel folgen können, aber im Zentrum stehen die Selbst- und Sozialkompetenzen.

Wie ist es zur Gründung von NYP gekommen?

Zur Noser-Gruppe zählen acht Firmen in der Schweiz, davon drei im Raum Bern. Die Lehrlingsausbildung hat in diesen Firmen eine lange Tradition. Allerdings ist es in der Informatik und insbesondere in der Software-, der Applikationsentwicklung so, dass sich Lernende aufgrund der Komplexität der Aufgabe recht lange nicht produktiv einsetzen lassen. Man muss zu Beginn der Lehre viel investieren – Zeit, Ausbildung, Begleitung –, bis sich Lernende in realen Kundenprojekten gewinnbringend einsetzen lassen. Deshalb kommt es in der Branche auch immer wieder zu Diskussionen, ob die Softwareentwicklung überhaupt für eine traditionelle Berufslehre geeignet ist.

Wenn man neuere Studien liest, kann man davon ausgehen, dass die Informatiklehre für die Betriebe tatsächlich kaum rentabel ist, die meisten legen drauf, anders als zum Beispiel beim KV. Anderseits kostet auch die Besetzung einer neuen Stelle, von der Ausschreibung bis zur Einarbeitung, viel Geld, und wenn ich das berücksichtige, kann berufliche Grundbildung sogar finanziell attraktiv sein.

Wie auch immer: Auch bei den Noser-Firmen war man in der Vergangenheit in der Ausbildung von Lernenden an Grenzen gestossen, ein weiteres Engagement in der Berufsbildung war infrage gestellt. Die Betreuung von Lernenden band zu viel teure Ressourcen – Softwareingenieure, die eher in den Projekten als in der Betreuung von Lernenden gebraucht wurden. Auf der anderen Seite bestand auch bei Noser die permanente Nachfrage nach gut qualifiziertem beruflichem Nachwuchs, den der Markt in der Schweiz nicht hergab. Aus diesem Dilemma entstand die Idee, eine neue Firma zu gründen, eben die Noser Young Professionals, als Kompetenzzentrum für die Berufsbildung und zur Sicherung des beruflichen Nachwuchses innerhalb der Gruppe. Mit einem Aktienkapital von 100 000 Franken und der Vorgabe, künftig selbsttragend zu wirtschaften, sind wir dann 2010 gestartet.

Jetzt erbringen wir Leistungen in vier Geschäftsbereichen: Ausbildung, Projekte, Infrastruktur für die Noser-Gruppe und so etwas wie Personalvermittlung.

Im Bereich Ausbildung führen wir mit Lernenden im ersten Lehrjahr eine Basisausbildung durch, die wir auch externen Kunden anbieten.

Im Projektbereich entwickeln wir bereits mit Lernenden ab dem zweiten Lehrjahr Software für Websites, Content Management und Portallösungen. Der schnelle Übertritt der Lernenden in die Anwendung ist ganz wesentlich für unser Ausbildungsmodell. Im ersten Jahr eignen sie sich vorwiegend individuell Kenntnisse an, aber schon im zweiten Jahr arbeiten sie unter Anleitung von Ausgelernten in kleinen Teams an realen Kundenprojekten.

Menschen können nicht alles autodidaktisch lernen, vor allem die Qualität, die am Markt verlangt wird, könnten wir ohne Begleitung nicht garantieren. Mit der Entwicklung von Applikationen verdienen wir übrigens recht gutes Geld.

Der dritte Geschäftsbereich besteht darin, dass unsere Lernenden innerhalb der Gruppe zentralisierte Infrastrukturaufgaben übernehmen. Wenn zum Beispiel bei einer Noser-Firma ein neuer Mitarbeiter anfängt, wird bei uns für ihn der Laptop aufgesetzt. Wir betreuen und überwachen firmenübergreifende Netzwerke und führen auch eine Hotline, auf die Noser-Mitarbeitende bei Computerproblemen anrufen.

Als vierten Geschäftsbereich betreiben wir einen Lehrbetriebsverbund. Ähnlich wie eine Personalvermittlung stellen wir den Firmen Ressourcen, meistens Lernende im dritten oder vierten Lehrjahr, für Produktiveinsätze und Projekte in ihren Firmen zur Verfügung und verrechnen die geleisteten Einsatztage.

Wie sieht denn bei euch das erste Lehrjahr genau aus, etwa im Unterschied zu Schule bzw. zum konventionellen Basislehrjahr?

Der grösste Unterschied zur Schule bzw. zu einem klassischen Basislehrjahr besteht darin, dass wir in wesentlich kleineren Gruppen arbeiten als ein Klassenverband, wir haben nur fünf bis sechs Lernende im ersten Lehrjahr. Stoffmässig greifen wir der Schule in der Regel weit vor, weil wir die Lernenden ja möglichst schnell für die Praxis und unsere Bedürfnisse vorbereiten wollen. Zunächst gibt es Inputs von unserer Seite, aber dann beginnen die Lernenden rasch, anhand von konkreten Fragen und Problemstellungen erarbeitetes Wissen anzuwenden. In den ersten zwei, drei Monaten erstrecken sich diese Sequenzen auf Halbtage oder mehrere Stunden, bald werden sie immer umfangreicher und immer mehr in Eigenregie von den Lernenden gesteuert. Weil es für uns Berufsbildner bei sechs oder sieben Lernenden gar nicht möglich wäre, alles, was erarbeitet wird, persönlich zu verifizieren, haben wir Kontrollmechanismen eingebaut, Reviews, bei denen sich die Lernenden gegenseitig im Team austauschen. Den ersten Einstieg versucht jeder selbst zu finden, damit auch eine möglichst breite Auswahl von Lösungsansätzen vorliegt, aber in einer zweiten Phase diskutieren sie die verschiedenen Vorschläge miteinander. Überhaupt versuchen wir, eine Kultur des Miteinanders zu etablieren. Wie schon gesagt, es gibt in der Informatik ja oft nicht nur eine mögliche Lösung, es soll sich also jede und jeder seine Gedanken machen, weil alle diese Beiträge für einen Prozess oder ein Produkt bereichernd sein können.

Ausserdem arbeiten wir konsequent ohne zeitliche Vorgaben, anders als in der Schule. Viele Jugendliche können ihre Leistungsfähigkeit nach der Schule ja oft überhaupt nicht einschätzen, sie erwarten dann von den Vorgesetzten wie von den Lehrern, dass sie ihnen Zeitvorgaben machen. Wenn sie schneller sind, lassen sie die «Beine hängen», und wenn es ihnen in der vorgegebenen Frist nicht reicht, wird das Ergebnis auf Kosten der Qualität «hingemurkst». Bei uns müssen die Lernenden von Anfang an selber abschätzen, wie lange sie für eine Arbeit benötigen. Wenn ich für einen Auftraggeber eine Offerte schreiben muss, bin ich darauf angewiesen, dass mir jemand eine realistische Zeiteinschätzung liefern kann.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?