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SS-Seilschaften im Einsatz

Die Geschichte des BND ist geprägt von persönlichen und ideologischen Kontinuitäten aus der NS-Zeit. Innerhalb der „Organisation Gehlen“ und später im BND dominieren von Anfang an Reinhard Gehlens Kriegskameraden aus der Abteilung „Fremde Heere Ost“ und aus der Abwehr, dem Militärgeheimdienst der Wehrmacht. Gleichzeitig werden aber auch überproportional viele Personen verpflichtet, die zuvor in Institutionen des NS-Regimes und -Staates tätig gewesen waren, etwa in der Gestapo (Geheime Staatspolizei), in der SS (Schutzstaffel) oder im „Sicherheitsdienst des Reichsführers SS“ (SD), also dem Geheimdienst der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) und der SS. Viele von ihnen hatten sich auch an Kriegsverbrechen beteiligt. Heute geht man davon aus, dass bis in die 1960er-Jahre über 50 Prozent der BND-Mitarbeiter aus diesem Personenkreis stammten.28 Diese ideologische Schlagseite findet man deckungsgleich auch unter den Zuträgern und Informanten des deutschen Nachrichtendienstes. Im Nachhinein lassen sich ganze Seilschaften von SS- und SD-Leuten innerhalb des BND ausmachen, die von der Leitungsebene bis zur operativen Beschaffung reichen. Dass gerade in diesen Seilschaften ein ganz besonderes Interesse und eine Affinität zu Südtirol bestehen, ergibt sich aus der ideologischen Überhöhung der deutschen Volksgemeinschaft durch die Nazis und der Tatsache, dass das deutschsprachige Südtirol auch für den deutschen Nachrichtendienst das Einfallstor für Italien ist. Dazu kommt, dass die während der Kriegsjahre geknüpften Beziehungen und Freundschaften zu Südtiroler SS- und SD-Männern jetzt in diesen Kreisen für die operative Nachrichtenbeschaffung hergenommen werden.

In genau dieses Schema fällt auch die BND-Seilschaft um Hartmann Lauterbacher. Hartmann Lauterbacher (1909–1988) wird in Reutte in Tirol als Sohn eines Tierarztes geboren. Bereits als Gymnasiast ist er von den Nationalsozialisten begeistert. Laut eigener Darstellung begegnet er am 19. April 1925 als 16-Jähriger in Rosenheim erstmals Adolf Hitler. 1927 beginnt Lauterbacher eine Ausbildung zum Drogisten in Braunschweig. Er tritt dort der NSDAP bei und baut ab 1929 die Hitlerjugend (HJ) des Gaus Süd-Hannover-Braunschweig auf. Lauterbacher macht innerhalb der HJ eine steile Karriere. 1934 wird er zum HJ-Stabsführer und Stellvertreter von Reichsjugendführer Baldur von Schirach ernannt. Welche prominente Rolle der Tiroler in der NS-Hierarchie damit einnimmt, wird deutlich, wenn man bedenkt, wer ein Jahr später sein Trauzeuge ist: Josef Goebbels.

Ehemaliger Gauleiter Hartmann Lauterbacher: Mitarbeiter und Verbindungsführer im BND.

1940 verlässt Lauterbacher die HJ und tritt der SS bei, wo er bis zum Obergruppenführer aufsteigt. Der fanatische Nationalsozialist wird im Dezember 1940 zum Gauleiter des Gaus Süd-Hannover-Braunschweig ernannt. In dieser Funktion ist er führend an der Ghettoisierung und an der Deportation der jüdischen Gemeinde von Hannover beteiligt. Zu Kriegsende flieht Hartmann Lauterbacher nach Österreich und wird schließlich in Kärnten von den Briten verhaftet. In den Jahren danach werden insgesamt acht Verfahren gegen den SS-Mann eingeleitet, die allesamt ergebnislos enden. 1948 kann er aus einem US-Kriegsgefangenenlager in Norddeutschland fliehen und sich nach Rom absetzen. Dort lebt und arbeitet er in den nächsten Jahren zusammen mit seinem Bruder Hans.

Sicher ist, dass Hartmann Lauterbacher bereits damals im Dienst des amerikanischen Militärnachrichtendienstes „Counter Intelligence Corps“ (CIC) steht. Er soll für das CIC eine „internationale anti-bolschewistische Organisation“ in Ungarn aufbauen. Auch in Rom ist Lauterbacher nachrichtendienstlich tätig. Lauterbacher lebt in der italienischen Hauptstadt unter dem Decknamen „Leo Bauer“, verkehrt in neofaschistischen Kreisen und beteiligt sich an der Ausschleusung führender Nazis über die sogenannte Rattenlinie nach Südamerika. Gleichzeitig fungiert er als Agent des Leiters der römischen SIFAR-Zentrale Eugenio Piccardo und liefert dem italienischen Nachrichtendienst Informationen aus diesen Kreisen. Der SIFAR hält dafür schützend seine Hand über den ehemaligen SS-Mann.29

Ansuchen Lauterbachers: Genehmigung einer Reise nach Südtirol für „V-6300“.

Dennoch wird Lauterbacher im April 1950 von den italienischen Sicherheitsbehörden verhaftet und als „unerwünschter Ausländer“ im Lager Le Fraschette in der Nähe von Rom interniert. Auch dort gelingt ihm schließlich die Flucht und er schafft es, mit Südtiroler Hilfe – einer der Helfer dürfte der Brixner Willy Acherer (1920–2016) gewesen sein − nach Deutschland zu gelangen.

Obwohl Hartmann Lauterbacher keine gültigen Papiere hat, findet er schon bald in Deutschland einen neuen Arbeitgeber. 1950 wird er von der „Organisation Gehlen“ eingestellt. Der „Tipper“, so heißt ein Mitarbeiter, der einen neuen Kandidaten für einen Nachrichtendienst vorschlägt und anwirbt, ist in diesem Fall Hans Lutz (DN „Roth“ „V-4100“). Der Oberst gehört zur Gründermannschaft der Org. und leitet damals die „Generalvertretung G“ in Frankfurt, die vor allem in der Spionage gegen die DDR tätig ist. Hartmann Lauterbacher erhält die V-Nummer „6300“ (später in „V-6400“ geändert) und den DN „Leonhard“ sowie die Tarnziffer „586“. Er ist danach 14 Jahre lang hauptberuflich für den deutschen Nachrichtendienst tätig. Auch sein Bruder Hans arbeitet für die „Organisation Gehlen“. Hartmann Lauterbacher leitet in der Org. zuerst die Unterabteilung „Rohproduktionsgenossenschaft“ (RPG) und wird im BND 1957 dann in die Abteilung 27/VK „Politische Beschaffung“ unter der Leitung von Kurt Weiß alias „Winterstein“ versetzt. Sowohl die Org. wie der BND decken ihre Außenstellen jahrelang als Unternehmen ab. Das heißt, es werden Firmen gegründet, die Angestellte, Büros und formal auch eine Geschäftstätigkeit haben. In Wirklichkeit sind dies aber BND-Filialen, wie etwa die genannte „Rohproduktionsgenossenschaft“. Am 5. Jänner 1952 gründet Lauterbachers Bruder Hans zusammen mit dem damals ebenfalls für die Org. tätigen Fritz von Bomhard („V-4430“) in München die „Labora Außenhandelsgesellschaft Hans Lauterbacher & Co“. Die Firma, offiziell im Import und Export von technischen Geräten tätig, ist ebenfalls ein Tarnunternehmen der Org. und später des BND. Als Hans Lauterbacher 1955 stirbt, tritt Hartmann an die Stelle des verstorbenen Bruders. Auch Hartmann Lauterbachers Frau wird Teilhaberin des Unternehmens. 1959 wird die Firma dann in „Forschungsinstitut für zwischenstaatliche Wirtschaftsfragen GmbH“ umbenannt.30

Hartmann Lauterbacher baut für den deutschen Nachrichtendienst ein Informationsnetz aus ehemaligen SS-Männern auf. Dabei wird er nicht nur im Nahen Osten oder in Tunesien tätig, sondern in seiner nachrichtendienstlichen Arbeit gibt es immer wieder auch Berührungspunkte zu Südtirol.

Bereits im Frühjahr 1950 wirbt Hartmann Lauterbacher einen ehemaligen Südtiroler SS-Mann für die Org. an. Der Neumarkter Otto Casagrande (1919–1990) dürfte einer jener Helfer gewesen sein, die Lauterbacher nach seiner Flucht aus Le Fraschette nach Deutschland geschleust haben. Casagrandes Lebensgeschichte, die von seinem Sohn Thomas Casagrande in einem hervorragenden Buch aufgezeichnet wurde, ist ein Musterbeispiel für Tausende junge Südtiroler, die sich zwischen 1939 und 1944 freiwillig zur Wehrmacht oder zur SS gemeldet haben.31 Otto Casagrande, der in der Jugend des „Völkischen Kampfringes Südtirol“ (VKS) ideologisch für das „Reich“ indoktriniert wird, optiert 1939 für Deutschland und meldet sich zusammen mit einer ganzen Gruppe Gleichaltriger als Freiwilliger zur Waffen-SS. Nach der Ausbildung in München kommt Casagrande zuerst an die Ostfront und dann nach einer Verwundung in die SS-Junkerschule nach Bad Tölz zu einer Sonderausbildung. Zum SS-Untersturmführer befördert, wird Casagrande ab Sommer 1944 zur italienischen Waffen-SS versetzt. Dort wird er Adjutant des Südtiroler SS-Hauptsturmführers Alois Thaler, der ursprünglich für die Ausbildung italienischer Waffen-SS-Soldaten zuständig ist. Ab 1944 kommt diese Ausbildung aber zum Erliegen und die SS-Einheit, die zuerst in Cremona und dann in Rodengo-Saiano in der Nähe von Brescia stationiert ist, wird zunehmend in der Partisanenbekämpfung eingesetzt. Im Frühjahr 1945 richtet die SS-Mannschaft unter dem Befehl Thalers in Rodengo-Saiano mehrere Massaker an. Als die Amerikaner anrücken, können die Partisanen Alois Thaler verhaften. Er wird am 2. Mai 1945 von den Partisanen hingerichtet.

Südtiroler BND-Mitarbeiter Otto Casagrande: Von Hermann Lauterbacher angeworben.

Seinem Adjutanten Otto Casagrande gelingt hingegen die Flucht. Er schlägt sich nach Neumarkt durch, wo er sich versteckt hält und von Freunden und Verwandten versorgt wird. Weil er von den Amerikanern gesucht wird, flieht er weiter bis nach Innsbruck, wo er im Dezember 1945 von den Franzosen zuerst verhaftet und dann wieder freigelassen wird. Anfang 1946 kehrt Otto Casagrande illegal über die Grenze nach Südtirol zurück. Am 23. Januar 1947 wird er vom CIC in Bozen verhaftet. Verhört wird er dabei in Bozen ausgerechnet von jenem CIC-Mann, den wir bestens aus dem ersten Band dieses Werkes kennen: Joseph Peter Luongo.32

 

Otto Casagrande bleibt vom April bis September 1947 im Kriegsgefangenenlager Rimini interniert. Er kehrt nach seiner Freilassung nach Neumarkt zurück, wo er zwei Jahre lang für eine italienische Firma tätig ist. Offiziell als „Deutscher im Ausland“ sucht er 1948 um die Wiedererlangung der italienischen Staatsbürgerschaft an. Weil ihm diese aber wegen seiner Zugehörigkeit zur Waffen-SS verweigert wird, will er zuerst – wie viele belastete SS-Männer − nach Südamerika auswandern, ändert dann aber seine Meinung und geht nach Deutschland, wo er sich im Rhein-Main Gebiet niederlässt. Dort trifft der Südtiroler SS-Mann wieder auf Hartmann Lauterbacher, den er mit großer Wahrscheinlichkeit bereits 1947 im Kriegsgefangenenlager Rimini kennengelernt hatte. Lauterbacher kontaktiert Casagrande für die Org. und wirbt ihn schließlich an. Otto Casagrande wird als „V-6301“ im August 1951 formal in Pullach als Mitarbeiter der „Generalvertretung G“ in Frankfurt registriert. „Geworben von 6300“ steht auf seiner Karteikarte, also von Hartmann Lauterbacher. Als Einsatzgebiet ist handschriftlich vermerkt: „III, FDJ“.33 Unter dem Signum III versteht man im Nachrichtendienst die sogenannte Gegenspionage und Spionageabwehr. Der Hauptzweck dieser Abteilung: staatsfeindliche Umtriebe aufzudecken und Gruppen oder Personen, die für ausländische Dienste tätig sind, zu überwachen. Dazu passt auch die zweite Bezeichnung: FDJ steht für „Freie Deutsche Jugend“, die kommunistische Jugendorganisation der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED). Die FDJ war damals in der Bundesrepublik verboten und wurde vom BND akribisch beobachtet. Unter anderem auch von Hartmann Lauterbacher.

Otto Casagrandes Laufbahn im Nachrichtendienst ist nur von kurzer Dauer. Laut Karteikarte wird der Neumarkter SS-Mann am 1. August 1953 „abgeschaltet“, das heißt als Mitarbeiter entlassen. Was „V-6301“ in den zwei Jahren seiner Tätigkeit genau für die Org. tut, lässt sich aus den bisher freigegebenen Akten nicht rekonstruieren. Dass Casagrande dabei aber durchaus auch mit Italien und Südtirol zu tun haben dürfte, legt ein Detail nahe. Gleichzeitig mit seiner Einstellung als „V-6301“ eröffnet Otto Casagrande im Juli 1951 in Wiesbaden eine eigene Firma, die „O. Casagrande Import-Export“ mit dem Unternehmenszweck „Vertretung italienischer Firmen für Möbel- und Dekorationsstoffe“. Es dürfte sich hier ebenfalls um eine Tarnfirma der Org. handeln, die in Richtung Italien operiert hat.

Hartmann Lauterbacher alias „Leonhard“ hingegen ist für den BND immer wieder in Sachen Südtirol tätig. Im Juli 1961 berichtet er unter dem Betreff „Sabotagen in Südtirol/Italien“ von einer persönlichen, privaten Begegnung in Wien. In dem Gespräch geht es sechs Wochen nach der Feuernacht um die Südtirol-Attentate und ihre Hintermänner. Gesprächspartner sind Funktionäre der Freiheitlichen Partei Österreichs FPÖ. Der Landesleitung der Wiener FPÖ ist angeblich bekannt, „dass die in Südtirol/Italien durchgeführten Anschläge auf die Initiative, die Ausbildung und den Einsatz einer östlichen Macht zurückgehen“.34

Das ist der Punkt, der den BND und seinen Mitarbeiter „Leonhard“ brennend interessiert. Der eigentlich anvisierte Gesprächspartner in Wien ist Friedrich Peter (1921–2005), Bundesobmann der FPÖ, der sich 1938 ebenfalls freiwillig zur Waffen-SS gemeldet und es dort bis zum Obersturmführer gebracht hatte. Weil Peter an diesem Tag verhindert ist, bespricht man das heikle Thema mit einem gewissen „Dr. Bandat“. Es handelt sich dabei um den Ehemann der FPÖ-Nationalratsabgeordneten Josefine Bandat (1902−1966). Neben Hartmann Lauterbacher ist beim Treffen in Wien ein Mann dabei, den „V-6400“ (inzwischen wurde Lauterbachers Nummer geändert) kurz vorher für den BND angeworben hat. Im Bericht an seinen Vorgesetzten im „Strategischen Dienst“ in Pullach schwärmt „Leonhard“:

SS-Brigadeführer und HIAG-Funktionär Karl Cerff: Einsatzgebiet Südtirol.

Bei dieser Gelegenheit bestätigte sich erneut die Annahme, dass [Name geschwärzt – Anm. d. Autors] ein guter nachrichtendienstlicher MA werden könnte.35

Der Mann, den Hartmann Lauterbacher so lobt, ist zu diesem Zeitpunkt beim BND als Mitarbeiter „V-6414“ bereits registriert. Hinter dieser Verwaltungsnummer verbirgt sich eine Person, die im Netzwerk der ehemaligen SS-Angehörigen eine führende Rolle spielt.

Karl Cerff (1907–1978) wächst in Heidelberg auf und tritt mit 15 Jahren bereits der SA und 1926 dann auch der NSDAP bei. 1928 wird er Führer der Hitlerjugend in Heidelberg und fungiert zwischen 1931 und 1932 als HJ-Propagandaleiter im Gau Baden. Ab 1933 ist Cerff in der Reichsjugendführung tätig, wo er die Abteilung Jugend- und Schulfunk leitet. Er steigt in der NS-Hierarchie bis zum Ministerialdirektor im Reichspropagandaministerium und zum Mitglied des persönlichen Stabs des Reichsführers der SS Heinrich Himmler auf. 1943 wird Cerff zum SS-Brigadeführer ernannt.

In der Nachkriegszeit arbeitet Cerff für den Europäischen Buchclub in Stuttgart. Doch seine Berufung liegt auf einem anderen Gebiet. 1951 wird in Deutschland die „Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der Angehörigen der ehemaligen Waffen-SS e. V.“ (HIAG) gegründet. Es ist ein Traditionsverband ehemaliger Angehöriger der Waffen-SS, der in seiner Hochzeit über 20.000 Mitglieder hat. Das zentrale Ziel der HIAG ist eine juridische und gesellschaftliche Rehabilitierung der Waffen-SS. In den Nürnberger Prozessen sind das Oberkommando der Wehrmacht aus formalen Gründen freigesprochen worden, während die SS zu einer „verbrecherischen Organisation“ erklärt wurde. In dieses Urteil sind nicht nur die Mitglieder der Allgemeinen SS und der SS-Totenkopfverbände eingeschlossen, die als Wachmannschaften in den KZs operierten, sondern auch die Mitglieder der Waffen-SS. Diese ist 1939/40 aus den bewaffneten Einheiten der SS-Verfügungstruppe hervorgegangen und während des Krieges zu einer Massenorganisation angewachsen, der insgesamt etwa 900.000 Männer angehörten. Nach dem Krieg echauffierten sich rund 250.000 ehemalige Mitglieder der Waffen-SS über die Ungleichbehandlung gegenüber der „sauberen Wehrmacht“. Weil die Mitglieder der Waffen-SS sich nicht nur gesellschaftlich als „verbrecherisch“ verleumdet sehen, sondern auch konkrete Nachteile in der Pensionsversorgung oder der Übernahme in den Staatsdienst hatten, formiert sich mit der HIAG eine mächtige Lobbyorganisation. Das Projekt „Reinwaschung“ geht am Ende auch auf. Weil die großen Parteien CDU, CSU, aber auch FDP und SPD auf das Wählerstimmenpotenzial dieser Gruppe schielen, werden der HIAG schon bald von der Politik Zugeständnisse gemacht. Und dies, obwohl schnell klar wird, dass der Verband recht offen rechtsextreme Positionen vertritt.36

Karl Cerff ist 25 Jahre lang führendes Mitglied in der HIAG. Er sitzt im Beirat des HIAG-Bundesvorstandes, wird 1962 dritter Bundessprecher und ab 1963 zweiter Bundessprecher des Verbandes. Cerff ist einer der einflussreichsten Unterhändler der HIAG und unterhält zahlreiche Kontakte zu Politikern und Wirtschaftskreisen. Dass Karl Cerff in dieser Position ab 1961 jahrelang als V-Mann für den BND arbeitet, weiß bis heute kaum jemand. Hartmann Lauterbacher hat mit der Anwerbung des HIAG-Mannes einen für den deutschen Nachrichtendienst strategisch wichtigen Schritt gemacht. Im SS-Traditionsverband tut sich ein weites Rekrutierungsfeld auf, das der BND weidlich nutzt. Das wird am Wiener Treffen deutlich, das ebenfalls im Rahmen der HIAG stattfindet. Zudem hat Karl Cerff alias „V-6414“ schon bald ein zweites Einsatzgebiet: Südtirol. So schreibt Hartmann Lauterbacher Anfang 1962 unter seiner neuen Tarnziffer „938“ an Hans Georg Langemann alias „Lückrath“:


Lauterbacher-Bericht über Karl Cerff: „Gute Legende, da ein Freund in der Nähe von Bozen ein Landhaus besitzt.“

V-6414 hat, wie er am 11.1.1962 in München mündlich darstellt, ohne weiteres die Möglichkeit in Bozen bzw. in Südtirol mit einer Anzahl von Persönlichkeiten zu sprechen, die über die Hintergründe der Attentatswelle mehr wissen, als in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist. […] V-6414 hat für Reisen nach Südtirol insofern eine gute Legende, als sein Freund, der Inhaber einer Fabrik in Karlsruhe, Rudolf Enseling (bekannt) in der Nähe von Bozen ein Landhaus besitzt, das von den beiden Familien häufig aufgesucht wird. 938 fragt, ob es unter Umständen für zweckmäßig angesehen wird, V-6414 hier einzusetzen. An Kosten würden für die Bahnfahrt Karlsruhe-Bozen und zurück und die Aufenthaltskosten für schätzungsweise 2−3 Tage entstehen.37

„Lückrath“ antwortet vier Tage später:

Vielen Dank für den Hinweis auf die Möglichkeiten des V-6414, an deren operationeller Nutzung hier Interesse besteht. Bezugnehmend auf Ihre Anfrage, wird daher gebeten entsprechende Maßnahmen für eine Reise des V-6414 zu treffen.

Vordringlich interessieren hier neben allen zu gewinnenden personellen Erkenntnissen, die im Zusammenhang mit der Südtirol-Krise getroffen werden können, Klärung:

•der Hintermänner der wegen Sprengstoffvergehens überführten Inhaftierten;

•Verbindungen zur KP Italiens;

•Hinweise auf Oststeuerung (Namen und Fakten);

•Namen von beteiligten deutschen Staatsangehörigen.

Um weiterhin laufende Berichterstattung wird gebeten.38

Dass Rudolf Enseling von Hartmann Lauterbacher als „bekannt“ apostrophiert wird, hat einen einfachen Hintergrund. Auch Enseling ist zu diesem Zeitpunkt ein Spitzenfunktionär der HIAG. Der damals stellvertretende HIAG-Bundessprecher ist bereits beim Gespräch in Wien dabei und eine der wichtigsten Unterquellen für Karl Cerff.

Der Karlsruher Unternehmer Rudolf Enseling (1914–1977), SS-Obersturmbannführer und mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichneter Panzerkommandant, hat ein Haus in Jenesien oberhalb von Bozen. In einem vertraulichen Bericht der Bozner Quästur heißt es:

In den vergangenen Tagen wurde diesem Amt die Meldung zugetragen, dass der deutsche Staatsbürger Enseling Rudolf, Präsident einer Vereinigung ehemaliger SS-Leute in Deutschland, seit einigen Jahren in der Gemeinde Jenesien kürzere Urlaubsperioden verbringt. Laut der Mitteilung hat Enseling, der von starken antiitalienischen Ressentiments erfüllt ist, Geldsummen für die in Italien inhaftierten Kriegsverbrecher überbracht, die in Deutschland gesammelt wurden. Zudem soll er Kleidung an die Bauern im Ort verteilt haben. […] Es wurde außerdem festgestellt, dass die genannte Person in dieser Gemeinde Besitzer der Villa Erika ist. Ein Haus, das aus zwei Wohnungen besteht, in dem während der sommerlichen Ferienzeit immer wieder auch Angestellte des genannten Unternehmens mit ihren Familien die Ferien verbringen. Dabei soll auch ein nicht näher bekannter Cerff Karl des „Hilfswerk für Südtirol“ [gemeint ist damit wohl das „Kulturwerk für Südtirol“ – Anm. d. Autors] zu Gast bei diesem Ausländer sein.39

Hartmann Lauterbacher meldet Anfang Februar 1962 an Kurt Weiß („Winterstein“), dass Cerff seine Erkundungsfahrt angetreten hat und vom 7. bis 9. Februar in Bozen sei. Schon Wochen zuvor legt der Karlsruher HIAG-Funktionär gegenüber dem BND seine Südtiroler Gesprächspartner offen, von denen er Informationen erhält.

Cerff trifft sich in Südtirol mehrmals mit Hermann Nicolussi-Leck (1913–1999). Der Kalterer Anwalt, der zwei Legislativen lang (1956–1960 und 1968–1973) für die SVP im Regionalrat sitzt, ist der Bruder des damals bekanntesten Südtiroler SS-Mannes: Karl Nicolussi-Leck (1917–2008). Der ehemalige SS-Hauptsturmführer war nach Kriegsende in der Fluchthilfe für die gesuchten Nationalsozialisten tätig und ging schließlich selbst unter falschem Namen nach Argentinien. Auch als Karl Nicolussi-Leck in den 1950er-Jahren nach Südtirol zurückkehrt, bleibt er wichtiger Teil eines weltweiten Netzes ehemaliger freiwilliger SS-Männer.40

Hermann Nicolussi-Leck hingegen war im Weltkrieg bei den Gebirgsjägern. Was ihn für den BND aber besonders interessant macht, ist die Tatsache, dass er der Verteidiger des inhaftierten Südtiroler BAS-Gründers Sepp Kerschbaumer ist. Der BND will über den Anwalt zu vertraulichen Informationen kommen. Dabei soll Cerff für den BND auch eine Verbindung Kerschbaumers nach Deutschland zu einem namentlich bekannten Busunternehmer abklären.