Konstruktives Interkulturelles Management

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Die meisten Kritiken zielen auf eine unzureichend komplexe Sicht der Dinge ab: So werden weder die Komplexität des gesellschaftlichen und ökonomischen Umfelds noch die Komplexität des Kulturbegriffs noch die Komplexität der inhärenten Interdisziplinarität ausreichend erfasst.

Dies beginnt mit der Dominanz des funktionalistischen Kulturparadigmas. Lange Zeit wurde die Interkulturelle Managementforschung von positivistischen und funktionalen Paradigmen bestimmt, die Kultur und interkulturelle Beziehungen als messbar und als von außen deterministisch gestaltbar ansehen. An ihre Stelle treten nun zunehmend interpretative und postmoderne Paradigmen europäischer und nicht-westlicher Forschung. Diese Ansätze nehmen Interkulturalität, die sich lange Zeit nur auf Nationalkultur bezog, wesentlich differenzierter und mehrschichtiger wahr. So werden zunehmend sozialhistorische Kontexte berücksichtigt (D’Iribarne 2003; Ybema/Byun 2009; Dupuis 2014). Nach und nach – wenn bisher auch eher vereinzelt – beeinflussen postkoloniale und Gender-Studien, die schon lange in den Kultur- und Sozialwissenschaften Einzug gehalten haben, die Interkulturelle Managementforschung (z. B. Jack/Westwood 2009; Primecz et al. 2016; Mahadevan 2017). In den Vordergrund rücken auch ungleich verteilte, von Beteiligten nicht immer bewusst wahrgenommene Macht- und Dominanzstrukturen von Akteuren, Organisationen oder ganzen Gesellschaften. Bislang dominieren »die Mächtigen« »die Schwachen« und setzen infolgedessen ihre Interessen, Themen und Entscheidungen durch. Doch interkulturelle Beziehungen sind in bestimmte Kontexte eingebunden, in denen Interessen und Strukturen der Macht asymmetrisch wirken, was die Betrachtung der unterschiedlichen Sichtweisen und divergierenden Erwartungen der beteiligten Akteure erfordert. Die Differenzierung zwischen tendenziell monokulturell ausgerichteten Situationen und interkulturellen Situationen ist zukünftig noch deutlicher zu differenzieren.

Die kulturelle Prägung – konkreter, die westliche Perspektive – der Interkulturellen Managementforschung zu überwinden, ist eine große Zukunftsaufgabe. Ein Blick in die Forschungsgeschichte zeigt, dass ihre Wurzeln in westlichen Gesellschaften liegen (Saussois 1994): in der deutschen Soziologie in der Tradition Max Webers, in den französischen Impulsen seit Henri Fayol, in der US-amerikanischen Managementpraxis seit Frederick Winslow Taylor. Wie stark ein großer Teil der Managementpraxis von den USA geprägt ist, darauf verweisen unzählige Methoden und Instrumente in Organisationen wie Change-Management, Knowledge Management, Matrix-Organisation, Corporate Values, MBO, Feedback, 360°-Feedback, Empowerment, Assessment Center, Coaching, Diversity Management, Corporate Social Responsibility, Work-Life-Balance, Compliance. Der Eindruck der US-amerikanischen Hegemonie (z. B. Frenkel/Shenhav 2003; Schmid/Oesterle 2009; Tietze/Dick 2013) resultiert zum Teil aus der Dominanz der englischen Sprache, mit der auch (US-amerikanische) Normen auf Management- und Wissenschaftspraktiken übertragen werden (z. B. Archer 2000; Tietze 2004; Gmür 2007; Davoine/Gmür 2012; Chanlat 2014). Hinzu kommt ein Oligopol aus fünf dominierenden Wissenschaftsverlagen (Elsevier, Taylor & Francis, Wiley-Blackwell, SAGE Publications, Springer Nature), die weltweit mehr als die Hälfte der internationalen Journal-Publikationen herausgeben (Larivière et al. 2015). Die Folge ist eine weltweite Harmonisierung der Zugänge zu Forschung (Adler/Harzing 2009) und Standardisierung der Publikationsformate, die bei Zugrundelegung einer universellen Wissenschaftsauffassung funktional erscheint. Jedoch ist kritisch zu hinterfragen, ob die US-amerikanisch dominierte Interkulturelle Managementforschung den konkurrierenden Forschungstraditionen anderer Länder tatsächlich qualitativ überlegen ist (Barmeyer/Ivens 2011). Und der norwegische Friedensforscher Johan Galtung (1981, 1983) hat bereits in einem amüsanten und vielbeachteten Essay zu intellektuellen Stilen thematisiert, dass Wissenschaftslogiken nicht universell sind, sondern ihre Spezifika – er unterscheidet teutonische, gallische, sachsonische und nipponische – aufweisen. Es ist an der Zeit, die Internationalität der Interkulturellen Managementforschung in den Blick zu nehmen, indem der Forschung von Forschern aus nicht-westlichen Ländern, in nicht-englischer Sprache und mit Bezug auf nicht-westliche Kulturen ein höherer Stellenwert eingeräumt wird (D’Iribarne 2007; Jack/Westwood 2009).

Eine weitere, vermutlich nur langfristig lösbare Herausforderung ist, Theorie und Praxis der Interkulturellen Managementforschung stärker miteinander zu verzahnen. Beide liegen relativ weit auseinander, es existieren nur wenige Berührungspunkte zwischen diesen beiden Welten und beide Welten scheinen sich sogar noch voneinander zu entfernen: »Praktiker misstrauen den wissenschaftlichen Konstrukten der Theoretiker, diese wiederum misstrauen den typologisierend-pragmatischen Ansätzen der Praktiker. Im Interkulturellen Management müssen Beratungsfirmen notgedrungen mit Generalisierungen arbeiten, um die Komplexität kultureller Systeme für Trainingsteilnehmer verständlich zu machen« (Barmeyer 2000, 100). Hinzu kommt, dass die Interkulturelle Managementforschung Folgerungen für ein zielrationales Verhalten vor dem Hintergrund einer multidimensionalen Kultureffektivität ableiten will, wohingegen die Interkulturelle Managementpraxis eine viel engere ökonomische Effektivität in den Vordergrund rückt (Keller 1982). Während die Forschung fragt: »Wie können wir Kulturspezifika und ihren Einfluss auf Organisationen und Arbeitsverhalten analysieren?« oder »Müssen starre und hermetische Kulturannahmen zugunsten multipler Kulturen abgelöst werden?«, interessiert sich die Praxis für Fragen wie »Wie können wir pragmatisch und zielführend mit Kulturunterschieden umgehen?« oder »Was können wir verbessern?«. Im Kern spiegelt sich auch hier der zentrale Unterschied im Umgang mit Komplexität wider: Die Forschung erkennt Komplexität als Chance und will sie nutzen, die Praxis erkennt Komplexität als Risiko und will sie reduzieren. Diese Entkopplung zwischen Theorie und Praxis gilt es zu überwinden: mittels Überwindung der Selbstreferentialität beider Bereiche sowie mittels Betonung der Komplementarität von Forschung und Praxis: »Die Forschung kann durch die Anwendungsbezogenheit der Praxis neue Impulse und Entwicklungen bekommen; die Praxis kann von den Forschungsergebnissen der Wissenschaft profitieren und sie auf den Beratungsalltag übertragen.« (Barmeyer 2000, 101). Für ein Konstruktives Interkulturelles Management müssten daher immer wieder Gelegenheiten der Begegnung und des Dialogs geschaffen werden, in gemeinsamen Institutionen und mit grenzüberschreitenden Akteuren, die sich zwischen dem Forschungs- und dem Praxissystem hin- und her bewegen.

Eine weitere Herausforderung der Interkulturellen Managementforschung betrifft die ausgeprägte Problemorientierung (Cameron 2017; Chanlat/Pierre 2018), die einseitig auf Unterschiede fokussiert. Zu diesem Ergebnis kommen auch Stahl und Tung (2015). Sie zeigen anhand einer Inhaltsanalyse von 244 Artikeln des Journal of International Business Studies (JIBS) über 24 Jahre hinweg sowie anhand von 400 Artikeln des Cross Cultural Management: An International Journal (CCM) über 18 Jahre hinweg, wie negative Aspekte von Interkulturalität betont werden, positive jedoch weitgehend unbeachtet bleiben: Probleme, Hindernisse und Konflikte, die durch kulturelle Unterschiede hervorgerufen werden, stehen im Fokus, wohingegen die positiven Dynamiken und Resultate kultureller Unterschiede außen vor bleiben (Tab. 15).

»While there are suggestions in the literature that cultural diversity can offer meaningful positive opportunities to individuals, groups, and organizations, we argue – and demonstrate empirically – that the problem-focused view of cultural diversity is by far predominant in research on culture in International Business. In other words, we know much less about the positive dynamics and outcomes associated with cultural differences than we know about the problems, obstacles, and conflicts caused by them.« (Stahl/Tung 2015, 393)


Effekte kultureller UnterschiedlichkeitTheoretische ArtikelEmpirische Artikel mit theoretischen AnnahmenEmpirische Artikel mit empirischen Ergebnissen
Journal of International Business Studies (JIBS)
negativ69 %75 %53 %
neutral/ausgewogen27 %20 %40 %
positiv4 %5 %7 %
Cross-Cultural Management: An International Journal (CCM)
negativ50 %42 %10 %
neutral/ausgewogen48 %58 %90 %
positiv2 %0 %0 %

Tab. 15: Ergebnisse der Inhaltsanalyse für theoretische und empirische Artikel in JIBS und CCM (Stahl/Tung 2015, 396, 397, unsere Übersetzung)

Diese Sicht kultureller Unterschiedlichkeit als negativ und als Problem lässt sich vielfach begründen (Barmeyer/Davoine 2016) – beispielsweise dadurch, dass

–Wissenschaftler eher auf negative Phänomene mit stärkerem oder zumindest sichtbarerem Einfluss auf soziale Systeme und Interaktionen reagieren als auf positive (Cameron 2008, 2017),

–das Praxisinteresse an negativen Erfahrungen in der Managementpraxis größer ist als an Positiverfahrungen (Margolis/Walsh 2003)

–es in der Natur der westlich geprägten Dialektik liegt, Kontraste und Polaritäten (gut versus schlecht) zu betonen (Fang 2012).

Stahl et al. (2017) empfehlen, dass die Interkulturelle Managementforschung zunehmend den Blick auf positive Effekte kultureller Unterschiedlichkeit lenkt, um konstruktive Interkulturalität zu fördern. Das wird sie insofern auch müssen, als sich in Zukunft die Interkulturelle Managementforschung verstärkt mit Themen wie dem Management in Schwellenländern oder Integration kulturell diverser Personen in Organisationen und Gesellschaften befassen muss – was unter dem Blickwinkel des Negativen sicherlich nicht lösbar sein wird.

 

Durch die zahlreichen gesellschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und technologischen Umbrüche und Entwicklungen hat sich der Kontext, in dem Organisationen agieren, dramatisch geändert. Somit müssen auf die komplexen neuen Herausforderungen auch entsprechende differenzierte Antworten gefunden werden, wie es Phillips und Sackmann (2015, 16) betonen: »If the discipline is to be helpful and flourish, scholars will need to investigate adequately the multifaced nature of culture in organizational settings, to share this well-grounded knowledge with practitioners, and to provide them with more differentiated framework and language.« Hierzu gehören etwa die stärkere Berücksichtigung der Kontextgebundenheit von Situationen und die Anwendung pluralistischer Forschungsmethoden (Barmeyer 2004a).

Es ist an der Zeit, Interkulturelle Managementforschung neu zu denken: Interkulturelle Herausforderungen von Organisationen lassen sich weder mit simplifizierenden und dekontextualisierten Handlungsanleitungen in Form von dos und don’ts noch mit deterministischen starren Kulturverständnissen meistern, sondern mit Bewusstsein und Wissen über die Bedeutung von Interkulturalität, multiplen Kulturen und dynamischer Interkultur. Somit versteht sich die zukünftige Interkulturelle Managementforschung als strategischer Ansatz zur Gestaltung konstruktiver Interkulturalität.

Kultur(en) und Kulturdimensionen

Kulturkonzepte der Interkulturellen Managementforschung

Interkulturelles Management geht davon aus, dass Kultur für Organisationen und Arbeitsverhalten bedeutsam ist. Dabei steht der Einfluss von Kultur auf Akteursund Organisationspraktiken im Vordergrund, d. h. die Wirkung von Kultur auf Strategien, Strukturen und Prozesse in Organisationen, sowie resultierende Muster und Effekte. Ein Wissen über Logik und Funktionsweisen von Kultur ist insofern zentraler Bestandteil und gleichzeitig Grundlage Konstruktiven Interkulturellen Managements.

Kultur als Konzept ist seit vielen Jahrzehnten zentraler Diskussionspunkt sozialwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Forschung (Busch 2014; Treichel/Mayer 2011). Ausgelöst durch gesellschaftliche Entwicklungen wie Internationalisierung, Migration und Diversität findet ein Paradigmenwechsel bezüglich des Kulturbegriffs statt: In der neueren Forschung wird der sogenannte hermetische Kulturbegriff, der soziale Systeme als »geschlossene Container« (Läpple 1991, 194; Beck 1997, 115) betrachtet und von einer bestimmten Determiniertheit menschlichen Verhaltens ausgeht, zunehmend von einem pluralistischen Kulturbegriff überlagert, der multiple Kulturen und Identitäten explizit untersucht (Fang 2006; Nathan 2015). Heutzutage stehen sich verschiedene Positionen bezüglich der Konstrukte Kultur und Interkulturalität und ihrer Einflussnahme auf (Arbeits-)Verhalten und Organisationen gegenüber:

1. Kultur-Negation: Bis heute wird von vielen Praktikern und Wissenschaftlern der Einfluss von Kultur auf Organisationen nicht wahrgenommen oder unterschätzt. Diese ethnozentrische Haltung findet sich umso stärker bei Akteuren, die sich in übergeordneten Positionen befinden, die also in wirtschaftlich einflussreichen Ländern oder in Großunternehmen agieren. In ähnlicher Weise ist auch die Wissenschaft betroffen, etwa hinsichtlich der Dominanz des angloamerikanischen Wissenschaftssystems, das zunehmend andere Wissenschaftssysteme und deren Traditionen, Denkschulen und Sprachen verdrängt (Locke 1989; Tietze/Dick 2013; Chanlat 2014).

2. Kultur-Akzeptanz: Zunehmend hat sich durch interkulturelle Forschung und Praxis seit den 1960er Jahren eine ethnorelativistische Position verbreitet, die Kultur und Interkulturalität einen besonderen, teilweise herausragenden, Stellenwert einräumt (Barmeyer 2000). Vertreter der Kultur-Akzeptanz nehmen Kultur als Einflussvariable wahr und nutzen diese zur Gestaltung von Gesellschaften und Organisationen.

3. Kultur-Dekonstruktion: Diese Position entstand als Reaktion auf die Überbewertung von (national-)kulturellen Einflüssen und Interkulturalität von Vertretern der Kultur-Akzeptanz. Die Dekonstruktion von Kultur entledigt sich in gewisser Weise ihrem Objekt, und räumt ihm im Vergleich zu anderen kontextuellen, persönlichen oder situativen Variablen nur einen geringen Stellenwert ein.

Dieses Buch legt den Schwerpunkt auf die Kultur-Akzeptanz, da davon ausgegangen wird, dass Kultur und Interkulturalität Einfluss auf Arbeitsverhalten und Organisationen nehmen. Es ist ein Anliegen, diesen Einfluss zu verstehen und stärker ins Bewusstsein zu rücken, um die vielfältigen komplexen interkulturellen Arbeitsund Führungssituationen in Organisationen – deren Bewältigung die beteiligten Akteure oft viel Energie und Zeit kostet – konstruktiv zu gestalten.

Kulturkonzepte spielten in den Anfängen der US-amerikanischen Managementforschung, die vor allem seit Mitte des 20. Jahrhundert eine Pionierrolle in den angewandten Sozialwissenschaften einnahm, keine Rolle (Adler 1983). Mit fortschreitender Internationalisierung jedoch wurde deutlich, dass Managementansätze einer Gesellschaft nicht einfach auf andere Kontexte übertragen werden konnten, wie es US-amerikanische Ansätze zeigten (Javidan et al. 2006). Das Interesse an kultureller Forschung stieg insbesondere mit Hofstedes Werk Culture’s Consequences: International Differences in Work-Related Values aus dem Jahr 1980 (Nakata 2009). Seither beschäftigen sich verschiedene Ansätze und Wissenschaftsdisziplinen mit dem Einfluss von Kultur auf Management und Organisationen.

Je nach Wissenschaftstradition und -disziplin haben sich zahlreiche Kulturdefinitionen herausgebildet (Kroeber/Kluckhohn 1954). Jedoch können sich die verschiedenen Fachvertreter – entsprechend der Vielfalt der Wissenschaftsdisziplinen – auf keinen einheitlichen Kulturbegriff einigen (van Maanen 2011). Dies ist kaum zu kritisieren, da der Kulturbegriff a) als abstraktes Konzept, wie viele sozial- und geisteswissenschaftliche Begriffe, schwer greifbar ist und sein Inhalt je nach Kontext variieren kann, b) in den unterschiedlichen Disziplinen einen anderen Stellenwert einnimmt und c) unterschiedlich genutzt wird (Geertz 1973). Zu bemängeln ist jedoch vielmehr, dass die jeweiligen Fachvertreter im Sinne einer interdisziplinären Verständigung entweder ihren Kulturbegriff nicht genug deutlich machen (Caprar et al. 2015) oder aber den der anderen Fachvertreter nicht kennen oder nicht akzeptieren. Entsprechend der konstruktiven Ausrichtung dieses Buches werden die divergierenden Begriffe jedoch nicht als konträr, sondern vielmehr als komplementär aufgefasst.

Kultur wird verstanden als »erlerntes Orientierungs- und Referenzsystem von Werten und Praktiken, das von Angehörigen einer bestimmten Gruppe oder Gesellschaft kollektiv gelebt und tradiert wird.« (Barmeyer 2011b, 13–14). Dabei ermöglicht jede Kultur ihren Mitgliedern, gemeinsames und individuelles Handeln zu gestalten. Wichtig ist, dass sich diese Definition nicht nur auf nationale Kontexte und Gemeinschaften beschränkt, sondern auf alle Formen sozialer Systeme wie Regionalkulturen, Organisationskulturen, Bereichskulturen, Berufskulturen oder »Geschlechterkulturen« Anwendung finden kann.

Der Kulturbegriff als zentraler Gegenstand des Interkulturellen Managements fungiert dabei als Konstrukt, welches Konkretisierung und Komplexitätsreduzierung ermöglicht (D’Iribarne 1994, 92).

Kultur bildet sich in spezifischen Sozialisationskontexten heraus (Durkheim 1911; Parsons 1937, 1952). Dabei geht es nicht darum, Kultur essentialistisch oder deterministisch auf eine Nation oder Ethnie zu reduzieren. Es geht vielmehr darum, einen bestimmten Erfahrungsraum zu erfassen, in dem Menschen durch Sozialisation und Enkulturation prägende Lebenserfahrungen machen, d. h. in welchen Räumen und zu welcher Zeit unter welchen Bedingungen Werte und Normen vermittelt und aufgenommen werden, sowie Bedeutungen und (Verhaltens-)weisen/Praktiken beobachtet und erlernt werden. Diese konstituieren ein emotionales und kognitives System, das unbewusst als Haltungen, Lebensregeln und Werte gespeichert wird (Kluckhohn/Strodtbeck 1961; Hofstede 2001; Inglehart/Welzel 2005; Schwartz 2011).

Vorstellungen über Vertrauen, Freiheit, Gleichheit, Unterordnung oder ›richtigem‹ Verhalten in Arbeits- und Führungssituationen sind Ergebnisse der Sozialisation (Baumgart 2008). Diese vollzieht sich in familiären und persönlichen Institutionen, wie Eltern, Großeltern, Freunde sowie in öffentlichen Institutionen, wie Kindergarten Schule oder Hochschule (Barmeyer 2000). Gegenüber kurzfristigen Veränderungen weisen diese Institutionen eine relative Kontinuität und Stabilität auf (Elias 1979; Ammon 1989).

Der Einfluss des Bildungssystems ist in bestimmten Gesellschaften bedeutend: Schule und Hochschule sind zentrale Orte der Sozialisation, an denen in der Gemeinschaft Wissen erworben sowie Normen und soziales Verhalten erlernt werden (Johnson/Tuttle 1989). In diesem zeitlich und räumlich begrenzten Rahmen findet zwischen Akteuren Kommunikation und Interaktion statt, es werden also Denk- und Verhaltensweisen, die etwa Autoritäten oder Problemlösungsstrategien betreffen, konditioniert, die für die jeweilige Gesellschaft charakteristisch sind. Aus den vielen Stufen des Bildungssystems wird exemplarisch die frühkindliche herausgegriffen, da davon ausgegangen wird, dass das Individuum in dieser Phase eine besondere kulturspezifische Prägung erfährt (Hofstede 1980).

Bildungssystem: ›Kindergarten‹ versus ›Ecole maternelle‹

»Im Rahmen des Sozialisationsprozesses wird Sozialverhalten und Autoritätsverständnis in Kindergarten und Ecole Maternelle erlernt. Die Bezeichnungen geben hierüber Auskunft: Die Ecole Maternelle ist eine ›Schule‹, also eine Institution, die dem französischen Bildungsministerium untersteht und landesweit Wissen (Mathematik, Sprechen, Lesen und Schreiben, Malen) vermittelt, auch wenn es spielerisch geschieht. Tagesablauf und Aktivitäten werden durch die Institutrice, die Erzieherin, strukturiert. Sie stellt eine personalisierte Autorität dar, die über das Sozialverhalten der Kinder ›wacht‹ und gegebenenfalls regulierend eingreift. Die Förderung intellektueller Leistung, auch durch Noten, führt zu individualistischem Konkurrenzverhalten. In der deutschen Bezeichnung Kindergarten steht das ›Kind‹ im Vordergrund, das im ›Garten‹, einem privaten oder halbprivaten Raum Zeit verbringt. Das Kind hat Gelegenheit mit seinesgleichen in Gruppen zu spielen, Regeln und Verhaltensweisen in der Gemeinschaft, als in einer Art soziales Laboratorium, zu erproben, auszuhandeln und sich zu integrieren. Deutsche Kinder entdecken somit spielend Freiheit und Grenzen in der Gruppe. Lernprozesse finden spielerisch und vor allem freiwillig ohne die Regulierung einer übergeordneten Autorität statt. Anders als das französische Kind, das den ganzen Tag in ein institutionelles System eingebunden ist, kann das deutsche Kind seine Zeit relativ eigenverantwortlich einteilen, um z. B. Aktivitäten in frei gewählten Gemeinschaften nachzugehen.«

Quelle: (Barmeyer 2013, 277)

Kultur, entstanden und entwickelt in Sozialisationskontexten, berücksichtigt auch multiple Kulturen und Identitäten. Denn bikulturelle Menschen haben verschiedene kulturelle Orientierungssysteme verinnerlicht (Brannen/Thomas 2010), weil sich ihre prägenden Sozialisationskontexte etwa durch Migration verändert haben oder weil sie durch unterschiedliche Sozialisationskontexte geprägt wurden, etwa weil ihre Eltern und das gesellschaftliche Umfeld kulturell unterschiedlich sind.

Drei komplementäre Kulturkonzepte

Im Folgenden werden drei komplementäre Kulturkonzepte präsentiert (Tab. 16), die sich in der Interkulturellen Managementforschung und -praxis zur Analyse bewährt haben (Barmeyer 2011b). Sie lassen sich mit den von Sorge (2004a) dargestellten drei Ansätzen (Kulturalismus, Symbolischer Interaktionismus und Institutionalismus) der kulturvergleichenden Organisationsforschung zuordnen.


Kultur alsAusrichtungAnsätze
1. Wertesystem, das Denken, Fühlen und Handeln beeinflusstNormativ: Was wird als gut und böse, richtig und falsch, erstrebenswert und verwerflich, etc. erachtet?Kulturalismus
2. Referenz- und Bedeutungssystem, das sinnvolle Interpretationen der Wirklichkeit ermöglichtInterpretativ: Welche Bedeutung haben Praktiken und Artefakte und welche Interpretationen werden ihnen zugeschrieben?Symbolischer Interaktionismus
3. System der Problembewältigung und Zielerreichung, das bestimmte Lösungen bevorzugt und integriertAktionsorientiert: Wie werden Herausforderungen angegangen, Probleme gelöst und Ziele erreicht?Institutionalismus

Tab. 16: Drei komplementäre Kulturkonzepte

 

Kultur als Wertesystem

Einen besonderen Stellenwert nehmen Werte ein. Sie beeinflussen menschliches Verhalten, auch Arbeits- und Organisationspraktiken (Smith et al. 2002). Samovar und Porter (1991, 15) definieren Werte als »a set of organized rules for making choices, reducing uncertainty, and reducing conflicts within a given society. Cultural values also specify which behaviors are important and which should be avoided within a culture.« Werte sind erlernte, kulturrelative, wünschenswerte Leitvorstellungen, Handlungsprinzipien und verhaltenssteuernde Entscheidungsregeln (Parsons 1952). Häufig handelt es sich um ethische, religiöse oder humanistische Leitbilder einer Gesellschaft, wie z. B. Sicherheit, Fleiß, Ordnung oder Pflichterfüllung (Weber 2006). Werte beeinflussen und organisieren als Maßstäbe und Präferenzen das Verhalten, werden also in sozialen Interaktionen sichtbar und bringen Vorstellungen über ›richtige‹ bzw. wünschenswerte Formen des Zusammenlebens zum Ausdruck (Genkova 2012).

Werte werden jedoch nicht als verhaltensdeterminierende Einengungen verstanden, sondern vielmehr schlagen sie Lösungen und Verhaltensweisen vor, die sich bewährt haben (Inglehart et al. 2005). Jedoch verändern sich Werte langsamer als Institutionen und Strukturen und können eine hohe Kontinuität aufweisen (Münch 1986). Werte beeinflussen wiederum Strukturen und Institutionen (Braudel 1990; Todd 1990; Whitley 1992b).

Verschiedene internationale Studien erheben vergleichend Werte und Wertewandel, wie die World Values Survey, Eurobarometer, die Shell Jugendstudie, die Studie von Schwartz (1992, 2006) oder arbeitsbezogene Werte wie die GLOBE Studie (House et al. 2004, 2014). Auch die Studie von Hofstede (1980, 2001) orientiert sich an Werten, die in Kulturdimensionen Eingang finden.

Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Ronald Inglehart zeigt in seinen Untersuchungen zu Werten anhand des World Values Survey (WVS), dass in Gesellschaften ein stetiger Wertewandel stattfindet – etwa durch gesellschaftliche Modernisierung (Inglehart/Baker 2000). In der Umfrage, die von einem Netzwerk aus Sozialwissenschaftlern durchgeführt und in regelmäßigen Abständen aktualisiert wird, werden Weltanschauungen und Überzeugungen von Menschen auf der ganzen Welt erhoben und verglichen. Die Werte betreffen die Vorstellung von Leben, Umwelt, Arbeit, Gesellschaft, Religion und Moral und nationaler Identität. Die Forschergruppe untersucht hierbei, inwiefern wirtschaftliche Entwicklung zu einer kulturellen Modernisierung und Werteverschiebung führt (Inglehart/Welzel 2005; Norris/Inglehart 2009, 2012). Tab. 17 zeigt anhand der WVS exemplarisch die Ausprägung ausgewählter arbeitsbezogener Werte einzelner Länder.


Tab. 17: Arbeitsbezogene Werte ausgewählter Länder der World Values Survey, 6. Erhebungswelle 2010–2014 (V = Variablen Nummer)

Die WVS stellt Werteausprägungen von Gesellschaften dar. Dazu dienen zwei Achsen: traditionell vs. säkular-rationale Werte sowie Überlebens- vs. Selbstentfaltungs-Werte (Abb. 1).

Durch kulturelle Dynamik lassen sich in den meisten Gesellschaften Werteverschiebungen konstatieren. Nach Inglehart (1997) wandeln sich Werte von materialistischen in postmaterialistische, sobald ein gewisser Lebensstandard erreicht ist. Materielle Werte beziehen sich auf die ›Aufrechterhaltung der Ordnung‹ oder wirtschaftliches Wachstum‹, während sich postmaterielle Werte in ›Partizipation in Politik und Arbeit‹ oder ›Schutz der freien Meinungsäußerung‹ ausdrücken. Bestimmen Überlebensnöte nicht mehr den Alltag, so wenden sich Menschen der Selbstverwirklichung zu. Ebenso stellt die WVS einen Wertewandel von traditionellen Werten zu säkular-rationalen weltlichen Werten fest. Dies hat etwa zur Folge, dass in sich modernisierenden Gesellschaften eine größere Toleranz gegenüber Randgruppen, wie Ausländern und Homosexuellen besteht und ein größeres Bewusstsein für das subjektive Wohlbefinden entsteht, das Vertrauen und politische Mäßigung fördert (Inglehart/Baker 2000).


Abb. 1: Cultural map – World Values Survey Wave 6 (2010–2014), http://www.worldvaluessurvey.org/images/Culture_Map_2017_conclusive.png

Werte und ihre Unterschiede beziehen sich jedoch nicht nur auf Nationalkulturen, sondern betreffen genauso Organisationen, Generationen (Smola/Sutton 2002; Sackmann/Phillips 2004; Scholz 2014b) oder Lebensstile wie den LOHAS (Lifestyle of Health and Sustainability), eine Personengruppe, die eine nachhaltige Ausrichtung ihres Lebens verfolgt (Ray/Anderson 2000).

Für das Konstruktive Interkulturelle Management ist von Bedeutung, dass sich Werte nicht nur auf der Ebene der Nationalkultur, sondern auch innerhalb einer Nationalkultur auf der Organisations- und Branchenebene situieren. Dies zeigen z. B. Studien in brasilianischen (Arellano et al. 2013), italienischen (Canhilal et al. 2013) oder spanischen (Esteve et al. 2013) Verwaltungen. Als theoretischer Bezugsrahmen dient Dolans (et al. 2004) Drei-Achsen-Modell. Dieses lässt eine Kategorisierung und Priorisierung von Werten zu und verhilft zum besseren Verständnis bezüglich organisationaler Werte. Das Modell teilt in drei Werte-Achsen ein:

–Ethisch-soziale Achse: Umfasst Werte vor allem in Bezug auf Gruppen und Verhaltensweisen in Gesellschaften. Zugeordnet sind ihr beispielsweise Großzügigkeit, Ehrlichkeit und Transparenz.

–Ökonomisch-pragmatische Achse: Umfasst Werte vor allem in Bezug auf Planung, Erfolg und Qualität der Arbeit. Zugeordnet sind ihr beispielsweise Effizienz, Ordnung, Pünktlichkeit und Disziplin.

–Emotionale Entwicklungsachse: Umfasst Werte vor allem in Bezug auf ein erfülltes, ausgestaltetes Leben. Zugeordnet sind ihr beispielsweise Kreativität, Autonomie, Anpassungsfähigkeit und Freude.

Tab. 18 zeigt das Ergebnis der Achsen-Zuordnung (als Säulen) der Werte der Studie zur Verwaltung in Italien (Canhilal et al. 2013).


Ethisch-sozialÖkonomisch-pragmatischEmotionale Entwicklung
Authentizität, Zugehörigkeit, Mitgefühl, Glaubwürdigkeit, Ehrlichkeit, Integrität, Respekt, Vertrauen, VerständnisGenauigkeit, Engagement, Beitrag, Effektivität, Effizienz, Wissen, Logik, Vorbereitung, Professionalität, Pünktlichkeit, Realismus, Struktur, Synergie, Teamarbeit, NützlichkeitAnerkennung, Abenteuer, Herausforderung, Kreativität, Kompetenz, Wachstum, Glück, Motivation, Aufgeschlossenheit, Optimismus, Leidenschaft, Freude, Zufriedenheit

Tab. 18: Klassifizierung von Werten in der italienischen Verwaltung (Canhilal et al. 2013, 548, Auszug, eigene Übersetzung)

Neben zusätzlichen Analysen zu Alter, Geschlecht, Beziehungsstatus oder Verantwortungsebene können somit weitere Erkenntnisse bezüglich Wertetendenzen in Abhängigkeit der demografischen Variablen entsprechender Organisationen gewonnen werden.

Kultur als Referenz- und Bedeutungssystem

Trotz aller Einmaligkeit und Individualität verfügen Menschen nach Thomas (2004, 145) über ein gewisses »Repertoire an Gemeinsamkeiten«, um miteinander zu kommunizieren, also durch Zeichen Bedeutungen auszutauschen und sinnvoll zu interagieren, wie es Max Weber (1904) bereits Anfang des 20. Jahrhundert vertrat.

»[…] keine Erkenntnis von Kulturvorgängen [ist] anders denkbar […], als auf der Grundlage der Bedeutung, welche die stets individuell geartete Wirklichkeit des Lebens in bestimmten einzelnen Beziehungen zum Inhalt hat. In welchem Sinn und in welchen Beziehungen dies der Fall ist, enthüllt uns aber kein Gesetz, denn das entscheidet sich nach den Werteideen unter denen wir die ›Kultur‹ jeweils im einzelnen Falle betrachten. Kultur ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus einer sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.« (Weber 1904, 55)