Menschen, die Geschichte schrieben

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Z serii: marixwissen
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DER SCHWANENGLEICHE PROPHET LUTHER

Unter Luthers Glaubensanhängern gab es für die ersten drei Jahrhunderte bald ein kanonisiertes religionspolitisches Attribut seiner bildlichen Darstellungen, besonders beliebt in Kupferstichen und verbreitet zu den Reformationsjubiläen, aber auch in Öl für die üblich werdenden Luthergemälde in protestantischen Kirchen. Dort ist sein Bild neben den Emporen- und Aposteldarstellungen zu finden, Luther sozusagen als fünfter Evangelist. Zu Füßen des Reformators befindet sich oft ein weißer Schwan (s. Abb. S. 36). Heutzutage wird das Tier bisweilen falsch verstanden: als Gans, wegen des brauchtümlichen Gansbratens auf Martini, dem Geburts- und Tauftag Martin Luthers. Wir kennen den Schwan in dieser ikonographischen Funktion spätestens seit dem Urtypus dieser Lutherdarstellungen in Nordeuropa, speziell in der Hamburger Petrikirche von 1603. Doch schon vorher taucht das Attribut im protestantischen Schuldrama auf, z. B. im Lutherus Triumphator sive Reformationis Cygna: also „Schwan der Reformation“.

Die Zuschreibung stammt von Luther selbst und erfuhr deshalb autoritative Geltung: „S. Johannes Hus hat von mir geweissagt, da er aus dem gefengnis ynn behemerland schreib, Sie werden itzt eine gans braten (denn Hus heisst eine Gans). Aber uber hundert iaren, werden sie einen schwanen singen horen, Den sollen sie leiden. Da solls auch bey bleiben, ob Gott wil“6. Bildlich ist die direkte Abstammungslinie von Hus her durch den Cranach-Holzschnitt von 1551 als reformatorisches Gedächtnisbild monumentiert. Er stellt die Spendung des Abendmahls unter beiderlei Gestalten an die Wettiner Kurfürsten gemeinsam durch Luther und Hus dar und zwar mit eingetragenen Namensnennungen. Zehn Jahre später wurden daraus Luther und Melanchthon am Kreuzaltar in dem erst jüngst bekannt gewordenen Wettiner Bekenntnistriptychon aus der Cranach-Werkstatt von 1561. Es entstand aus Anlass des zweiten Naumburger Fürstentages mit der neuerlichen Unterschreibung der Confessio Augustana.

Für den bleibenden Bekanntheitsgrad der Hus-Vorläuferschaft bildet die erste Biographie Luthers aus der Feder eines seiner Wittenberger Schüler das literarische Quellenfundament. Dies war der schreibfreudige sächsische Prediger Johannes Mathesius (1504–1565), der sich als Ingolstädter Student 1527 der Reformation anschloss und an die Universität Wittenberg wechselte, um ab 1532 in der erzgebirgischen Bergbaugemeinde Joachimsthal zu wirken. Dort hielt er u. a. 17 Predigten, die 1566 erstmals zu Nürnberg im Druck erschienen unter dem Titel: Historien von des ehrwirdigen in Gott seligen thewren Manns Gottes D. Martini Lutheri Anfang, Lehr, Leben und Sterben. Sie bildeten mit ihren fünfzig(!) Auflagen fortan die wichtigste Quelle aller Forschungen zum Leben des Reformators. Mathesius hatte nochmals 1540/42 in Wittenberg studiert, um den Magistertitel zu erwerben und im Hause Luthers bisweilen zu den Tischgästen der später volkstümlich gewordenen Colloquia gezählt. Sie erschienen 1566, im selben Jahr wie seine richtungsweisenden Lutherhistorien, erstmals im Druck. Hier erhielt das imaginative Lutherbild seiner Anhänger im 16. Jahrhundert die endgültige Ausprägung.

Zu Beginn der Reformation waren es noch traditionell katholische Attribute der Bildpublizistik, die Luther, den Mönch oder Professor ordinarius, wie einen Heiligen im Angesicht der Dreifaltigkeit oder des Schmerzensmannes vorstellten. Es existiert sogar ein Porträt mit Nimbus, was zwar allseits Ärgernis erregte, aber noch um 1600 in Buchillustrationen nachwirkte. In den Predigten des Mathesius verfestigte sich schließlich das protestantische Bild vom „teuren Gottesmann“ aus einem Guß zur übergroßen Prophetennatur. Mathesius verfolgte die apologetische Absicht, den Beweis zu führen, dass Luther „ein rechter christlicher Doktor und Ausleger der heiligen Schrift“ gewesen sei. Er feierte ihn darum in Anlehnung an ein frühes Humanisten-Epitheton für den Reformator als dritten Elias, also Vorläufer Christi entsprechend dem Johannes Baptista als zweitem Elias. Dies war seit den Leichenreden auf Luther im Jahre 1546 zum stehenden Vergleich geworden. David, Simson und Moses hießen die Vorbilder. Luther wurde der „Prophet Deutschlands“ (was die nationale Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts wieder aufgreifen sollte), der „treue Prophet Gottes“, der vorhergesagt und nun mit einem Male aufgetreten war.

Die historischen Weissagungen und biblischen Rückverweise auf sein Kommen stammen alle schon aus der Frühzeit der Reformation. Mathesius hat sie zusammengefasst. Darunter ist der Bezug auf Hus erzählerisch besonders wirksam geworden. Luther hatte ihn selbst, wie wir schon gesehen haben, mehrfach hergestellt, was in der katholischen Ketzerpolemik deshalb zur Konstruktion einer leiblichen Verwandtschaft beider führte.

Zwar nannte Mathesius Luther „seliges Werkzeugk“ oder „auserwähltes Rüstzeug Gottes“, ja sogar „Wundermann“, doch das war keineswegs im Sinne eines altkirchlichen Thaumaturgos, eines heiligen Wundertäters, gemeint, vielmehr predigte Mathesius ausdrücklich: „Weil nun Doctor kein neue lehre, sonder der alten Patriarchen, Propheten und Apostel bestettigte lehre herfür bracht, hat diß gegründte und bekrefftigte wort keiner neuen wunderzeychen bedürfft“7. Aber es klingt auch bei Mathesius Wunderbares an, wo er von seinen persönlichen Beziehungen zwischen Wittenberg und Joachimsthal spricht. Matthias Flacius Illyricus (1520–75), der erste Verfasser einer neuen achtbändigen Kirchenhistorie (1559–74), legte den Grund für biblische Bezüge in Aus- und damit Ansprüchen. Seine Geschichtstheologie sieht die Fehlentwicklung des Christentums durch Satans Eingreifen schon bald nach der Apostelzeit. Damit erscheint dann das endliche Auftreten Luthers in einzigartigem Licht und belegt darum alle späteren Nuancierungen seiner Lehre mit dem Makel neuerlichen Abfalls als Irrlehre und teuflische Verdüsterungen. Es lag hierin der Ansatz zu einer lutherischen Orthodoxie. Luther wurde der vom Heiligen Geist gelenkte Proto-Interpret des Gotteswortes. Die Bibel und Luthers Theologie verschmolzen damit zur Einheit, und Luthers Gestalt wuchs ins Übermenschliche.

Die Folgen hat Ernst Walter Zeeden, der bahnbrechende Historiker der Konfessionsbildung, 1950/52 wie folgt benannt: „Noch stärker als im frühen war im späten 16. Jahrhundert das Lutherschrifttum von Legenden durchsetzt; es brachte Anekdoten, Geschichten und Wundererzählungen. Sie füllten und belebten die streng dogmatisch-eschatologische Konzeption, die man sich von der Reformation und dem Reformator gebildet hatte“8. In den Lutherpredigten des Cyriacus Spangenberg Cithara Lutheri, Mühlhausen 1570/71, finden sich die bei Mathesius noch nicht vorhandenen Epitheta: „Apostel, Evangelist, Paulus, Martyrer“. Georg Groccer deutete 1586 den Engel der Geheimen Offenbarung des Johannes (Apk. 14) auf Luther und sprach nun von ihm erstmals als einem Apostel, so dass bald auch die von katholischer Seite gerne aufgegriffene Kennzeichnung eines 5. Evangelisten in der Lehrpraxis Wirklichkeit wurde. Der Beweis seines göttlichen Ursprungs sollte schließlich sogar aus der Heiligen Schrift geführt werden, eben mit der weiter ausgebauten apokalyptischen Deutung vom Ende und der Erfüllung der Tage, worin sich der geschichtstheologisch gespannte Bogen zum System schloss.

Dies bedeutete nach Zeeden, „daß man Luther gar nicht beurteilte, sondern ihn (und das hieß vor allem seine Lehre) an einen Ort entrückte, wo man ihn gar nicht mehr kritisiert, sondern nur noch anbetet: ins Heiligtum und ins Geheimnis Gottes. Man war so weit gegangen, daß man nicht mehr aus derselben Quelle schöpfte wie der Reformator, sondern das Quellwasser nur durch seine Vermittlung empfing; ja daß man sogar alles verschmähte, was zuvor nicht durch seine Hände gelaufen war“.9 Dies erweisen alle um 1600 öffentlich monumentierten Schriftbelege, wenn sie stets in Lutherzitate eingebaut erscheinen, also von ihm nochmals legitimiert waren. Wir werden noch entsprechende Bekenntnisbilder dazu benennen. Das Konkordienbuch von 1580 vollendete diese Entwicklung: „Hier wie in dem herangezogenen Lutherschrifttum machte sich dasselbe Phänomen der Erhebung Luthers zum Kirchenvater bemerkbar. Seine Autorität wuchs ins Unantastbare. Das war der Beginn der Kanonisierung.“10 Mir hat vor knapp vierzig Jahren ein damals jüngerer Erlanger Exeget gesagt, er habe diese Konkordienformel als gültiges Corpus doctrinae, das heißt die dogmatische Autoritätsschrift beschwören müssen, um den Lehrstuhl in Besitz nehmen zu dürfen. Im reformierten Heidelberg wird das, wie wir zur Zeit am heftig diskutierten Fall des Exegeten Klaus Berger erleben, offenbar jahrzehntweise unterschiedlich gehandhabt.

DAS KATHOLISCHE LUTHERBILD DES 16./17. JAHRHUNDERTS IM GEGENSATZ ZUR KANONISIERTEN VITA

Wenn wir nun dagegen das katholische Lutherbild jener Zeit stellen, von dem wir bislang nur nebenbei einige Hinweise erwähnt haben, dann werden uns die Imaginationen der sogenannten Lutherlegende in ihrer literarischen Struktur noch deutlicher, denn sie ist ohne die verunglimpfenden Unterstellungen der Gegengeschichten nicht denkbar. Ich spreche bewusst nicht von Legenden im Plural oder im umgangssprachlichen Verständnis von unwahren Geschichten, sondern von der literarischen Gattung Legende, die „Heiligenvita“ meint. Mathesius hatte, wie wir gesehen haben, nicht ohne Grund in Kenntnis der Schriften des Cochläus den fortlaufenden, chronikalisch belegbaren Beweis, wie er selbst sagt, führen wollen, dass Leben und Werk des wahren Gottesmannes übereinstimmen, weil die Gegenseite in ihrer Ketzerpolemik eine in sich schlüssig erscheinende Dämonologie verbreitet hatte. „Apologia und Schutzrede“ nennt Mathesius daher seine Predigten.

 

Nun muss man allerdings für die generelle Beurteilung dieser wechselseitigen narrativen Auslassungen den Zeitgeist oder allgemeinen Umgangston jener Epoche in Mitteleuropa in Rechnung stellen. Beim sogenannten Grobianismus übertrafen sich gerade die intellektuell herausragenden Exponenten der streitenden Religionsparteien in besonderem Maße, allen voran Luther und Cochläus. Denn dies betraf, und das scheint mir wichtig, nicht allein den Gegensatz von Reformatoren versus Papstkirche, sondern seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch zunehmend die Kontroversen der Reformatoren untereinander. Alles, was sich Papsttreue und Lutheranhänger gegenseitig an den Kopf warfen, enthielt zugleich auch das reiche Motivreservoir an Verdächtigungen, Unterstellungen und entehrenden persönlichen Verunglimpfungen der Augustana-Unterzeichner gegen alle anderen und umgekehrt. Vom philologischen Standpunkt aus, also gattungsgeschichtlich gesprochen, gibt es da keinerlei Unterschiede.

In der Germanistik hat sich, unabhängig von der Reformationsgeschichte, seit mindestens vier Jahrzehnten die analytische Beschreibung des auch im Mittelalter nachweisbaren Genres „Antilegende“ durchgesetzt. Die Begriffsbezeichnung ist treffend, weil ihr strukturelles Bausystem exakt der Konstruktion von Heiligenviten folgt. Die volkskundliche Terminologie „Tendenzsage“ trifft nur die einzelnen Motive, und die Historiker-Benotung zu Kulturkampfzeiten mit Bezeichnungen wie „katholische Greuelmär“ benennt lediglich moralische Abscheu, analog zu Luthers eigener Einschätzung der spätmittelalterlichen Heiligenlegende als „Lügende“. Jedoch spätestens seit dem „linguistic turn“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften ist die in der Bibelexegese schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts geläufige Methode der Formengeschichte auch auf die Historiographie anwendbar. Mithin: Unter „Lutherlegende“ verstehen wir die chronologisch berichtende Lebensgeschichte des Reformators anhand von erzähltechnisch wirkungsvoll eingebauten Memorabilien, d. h. denkwürdigen Ereignissen oder exemplarischen Historien. Solche anschaulichen Verlebendigungen werden in der heutigen Fernsehdramaturgie Actions genannt.

Danach begleiten das Leben eines heiligen Helden und die Ausbreitung seiner Lehre oder seines Vorbildwirkens Bestätigungsund Bekehrungswunder. Er hält Verfolgungen aus und entgeht mancherlei Nachstellungen und Anschlägen. In der vollständigen „Heiligenvita“ Luthers, die bis ins 18. Jahrhundert weiter ausgeschmückt und auf Flugblättern in Comicweise szenisch aneinandergereiht wurde, lauten die typischen Bauelemente und inhaltlichen Versatzstücke: Vorgeburtliche Zeichen oder Prophezeihungen (bei Luther das angebliche Hus-Dictum), auffallendes Betragen eines Wunderkindes (der Kurrende singende Luther), signifikantes Bekehrungserlebnis (die Sage vom Blitzschlag und dem Tod des Freundes), die Offenbarungstat des bewusst die Reformation inaugurierenden Thesenanschlags (als himmlischem Wendepunkt der Weltgeschichte), heldenhafter Kampf mit den Mächten der Finsternis (Bannbulle und Reichsacht), Bewahrung vor dem Giftbecher (in Worms oder wie bei St. Johannes oder St. Benedikt), Schutz vor Gefangenschaft (Wartburg, Coburg) mit dortigen Anfechtungen des Teufels (Tintenfassanekdoten), schließlich beispielhaftes Alltagsleben (Wittenberger Familienidylle), Kirchenorganisation ohne Amt aus bloßer Autorität von Gott (nach Mathesius Beruf aus Berufung), Tröster der Kranken und Freunde (Gebet für Melanchthon und Mykonius). Luther hilft bei Feuer und Regen und erweist sich durch Vorhersagen und wirksame Verfluchungen böswilliger Orte als gottgesandt. Als Endpunkt steht dann sein seliges Sterben entgegen dem Faktum des unerwartet plötzlichen Todes auf einer Reise in Eisleben. Daher brachte Luthers Lebensende reichlich polemische wie apologetische Literatur hervor.

Die Antilegende fand im plötzlichen Tod ihr eigentliches Ziel: die Bestätigung der Höllenfahrt nach einem unheiligen Leben. Zum Genre der Antilegende zählen daher das Ende des Simon Magus aus der Apostelgeschichte, eines orientalischen Zauberers in Rom und das Ende des römischen Kaisers und abtrünnigen Christen Julian Apostata, der im 4. Jahrhundert das Heidentum wiederum gefördert hatte. Das gilt auch für die seit dem 9. Jahrhundert bekannte marianische Theophiluslegende mit dem Teufelsbündnermotiv, und es gilt für die Viten der literarischen Gegenhelden: Wittenberger Dr. Faustus und Fliegender Holländer.

Die katholische Antilegende Luthers existierte völlig parallel zur protestantischen Luther-Legende ebenfalls in der graphischen Form des Flugblatt-Comics (s. f. S.). Sie schildert die einzelnen Stationen des Reformators als Teufelsknecht und zwar aus der Überzeugung heraus, wer Falsches lehrt, kann auch persönlich nicht integer sein. Luther sei also ein Lotterbube zweifelhafter Herkunft gewesen, sein verballhornbarer Name stehe für ein Programm, vorgegeben durch die teuflische Verbindung einer liederlichen Mutter mit einem Totschläger. Historischer Aufhänger für letzteres dürfte der Bruder von Luthers Vater gewesen sein, der als händelsüchtiger Messerheld aktenkundig geworden ist. Vorverweis auf ein unheiliges Leben bot das Wandermotiv der Taufverweigerung durch angebliches „Scheißen“ des Kindes ins Taufbecken bei der Sakramentenspendung. Luther, der Fresser und Säufer, in der Flugblatt-Gegenpropaganda abgebildet mit Bauch oder riesigen Trinkgläsern, diente der Karikatur eines sogenannten epikureischen, das heißt genusssüchtigen Lebenswandels.

Derartige Details schließen die Vorstellung eines reformatorischen Hurenbocks und geilen Mönchs ein. Sie leiten sich deutlich vom angeblichen Huren- und Teufelssohn Luther ab. Die bis heute geläufigen Sexualverslein zu für wahr gehaltenen Aussagen und Praktiken des Dr. Martin Luther bilden einen späten Widerschein dieser einstigen Imaginationen auf katholischer Seite. Und wiederum haben sich den Gegnern Luthers in der tatsächlichen Vita Ansatzpunkte für Einzelheiten zum Bilde der Antilegende geboten. Selbst ein Mann wie Erasmus war nicht wenig entsetzt, als Luther im Jahre 1525 die ehemalige Zisterziensernonne Katharina von Bora ehelichte. Ein Brief aus seiner Feder machte dazu die Runde, wenngleich Erasmus an anderem Ort über die alte Fabel spottete, dass der Antichrist aus der Verbindung von Mönch und Nonne geboren würde. Weiteren Anstoß bot Luthers Schrift vom Ehestand und die von ihm gebilligte Entführung mehrerer Nonnen aus sächsischen Klöstern. War doch zu jener Zeit die Todesstrafe dafür nicht nur angedroht, sondern zum Exempel auch in jenen Jahren zu Dresden an einem Bürger mit dem Schwerte vollzogen und durch schimpfliche Leichenschändung verschärft worden.

Anders als Simon Magus vermochte Luther nicht einmal falsche Wunder zu wirken. Auch dies gehörte zur Beweisführung katholischer Kontroversisten, dass eben der Reformator keineswegs Gottes Prophet sein könne, wie seine Anhänger glaubten. Solche Argumentation ist auf lutherischer Seite sehr ernst genommen worden, was wir schon bei Mathesius bemerkt haben. Besonderes Aufsehen machte der angebliche Fall eines misslungenen Exorzismus. (Hierbei handelte es sich nicht um die protestantischerseits erzählten Geschichten von Wittenberger Studenten, die besessen oder dem Teufel ergeben waren und auf den Zuspruch Luthers wieder gesund wurden.) Luther hatte den altkirchlichen Ritus des Exorzierens für Teufelswerk erklärt. Der Konvertit Staphylus wollte jedoch Luther zu Wittenberg 1545 in Bedrängnis durch den Teufel gesehen haben, als er in der Sakristei versucht habe, mit Gebet ein besessenes Mädchen aus dem „Meißnischen“ von bösen Geistern zu befreien. Das sei ihm nicht gelungen, sondern er habe vielmehr vor dem Satan durchs Fenster fliehen müssen.


„Martinus Lutherus, ein Doctor der Gottlosigkeit“; Radierung um 1730

Wer vom Teufel gezeugt und wer durch ein wüstes Leben vom Teufel geführt worden war, musste auch im Tode durch den Teufel geholt werden. Das ist der konsequente Ausgang jeder Antilegende und sollte daher für Luther im 16. Jahrhundert nicht anders lauten. Er verstarb demnach im Vollrausch ohne jegliche Möglichkeit zur Reue. Also brate er nun in der Hölle. Bei der Überführung seines Leichnams von Eisleben nach Wittenberg hätten Schwärme schwarzer Vögel den Sarg verfolgt. Schreckliche Todesnachrichten über konfessionelle Gegner pflegen im 16. Jahrhundert alle Parteien zu verbreiten, einschließlich Luther selbst, der z. B. Zwinglis Landsknechtstod in der Feldschlacht als Gottesgericht wertete. Der Jesuit Nikolaus Paulus hat 1898 in seinem Buch über Luthers Lebensende 55 Seiten mit Zeugnissen dieser Art gefüllt. Solche grassierenden Verleumdungskampagnen aller gegen alle mit Hilfe von Tendenzsagen bilden den Hintergrund, vor dem die Erzählungen über Luthers angeblich elenden Tod beurteilt werden müssen.

LUTHER ALS HAUPT DER AUGSBURGER CONFESSIONS-VERWANDTEN

So durchgängig im Gattungsschema komponiert wie die Antilegende ist die positive Lutherlegende nicht. Dagegen stand Luthers eindeutige Theologie und persönliche Haltung als Wittenberger Lehrperson, die alle kirchlichen Administrierungen an die weltliche Macht delegiert hatte. Deshalb erscheint auf den Bekenntnisgraphiken seine eigene Gestalt in der Regel gemeinsam mit der des jeweiligen herrschenden christlichen Fürsten als neuem obersten Bischof (summus episcopus). Das gilt selbst für das Titelblatt des Kleinen Katechismus von 1529 oder findet sich ab 1546 im Titelholzschnitt für die Wittenberger Drucke des Neuen Testaments. Zu den Jubiläen 1617 und 1630 feierten sich sowohl die Wettiner Häuser wie die Räte der protestantischen Reichsstädte stets selbst als Bekennerfamilien angesichts ihres Reformators.

Kurfürst Johann von Sachsen und Martin Luther zu Füßen des Gekreuzigten; Holzschnitt v. Lucas Cranach d. J., Wittenberg 1546

Gedenkblatt zur Verlesung und Überreichung der Confessio Augustana 1530; Kupferstich v. Johann Dürr, Dresden 1630

Wir können zusammenfassen: Luther ist im 16./17. Jahrhundert nicht wie im 19. Jahrhundert der deutsche Heros gegen welschen Ungeist, sondern der von Hus geweissagte Prophet evangelischer Territorialkirchen Augsburger Konfession, der Erneuerer einer Theologie, für die allein sein authentisches Wort und sein Porträt als Hinweis auf ihre Rechtmäßigkeit stehen. Dies lässt sich für deren Bekenner am genauesten in Spendung und Verständnis des Abendmahls demonstrativ liturgisch ausdrücken. Hierfür sind Gemälde und deren druckgraphische Verbreitung in Franken und Thüringen/Sachsen aus der Zeit 1599 bis 1630 einschlägige Zeugnisse.

Aus dem schon erwähnten dogmatischen Lehrbild von 1561 aus Anlass des Naumburger Fürstentages mit der Spendung des Abendmahls durch Luther und Melanchthon an die sächsischen Kurfürsten ist kurz vor 1600 in Nürnberg ein spezieller Typus des protestantischen Bekenntnisbildes entwickelt worden und hat weitere dreißig Jahre später zu einer oft reproduzierten thüringisch-sächsischen Variante gefunden. Beide Fassungen stellen sowohl die Übergabe der Confessio Augustana dar wie in zahlreichen Einzelszenen die dort festgeschriebenen kirchlichen Gebräuche (s. o.). Zentral aber insistieren sie um den Mittelpunkt des Kreuzaltares auf die „echte“ lutherische Orthodoxie des Sakramentsglaubens. Dies geschieht im Zeitalter der sogenannten zweiten Reformation durch den Heidelberger Katechismus der Reformierten, weshalb immer wieder Luthers Person erkennbar eingebaut ist oder diejenigen Reformatoren namentlich, bisweilen gar in dargestellter Person als Ketzer gebrandmarkt werden, die an der lutherischen „Ubiquität“ der Gegenwart Christi im Abendmahl zweifeln. Luther selbst hatte sie ausgrenzend „Sakramentarier“ geheißen. Vor allem aber ist Luthers Wort in den im lehrhaften Gemälde aufscheinenden, z. T. als ausgedruckte Zettel eingeklebten vielen textreichen Beschriftungen gegenwärtig. Seine Auslegungen der Heiligen Schrift und seine Anleitungen für den Gottesdienst besitzen in dieser Monumentierung absolute Autorität. Auf manchen Bildern teilt er nicht nur das lutherische Abendmahl persönlich aus, er steht bisweilen auch neben Paulus und den Evangelisten, um die „Abendmahlstafeln“ mit den Einsetzungsworten zu halten, die es dann als tatsächliches liturgisches Gerät parallel zu den Kanontafeln der Katholiken auch für Lutheraner gab oder sogenannte Schriftaltäre zierte.

 

Lateinischer Lebenslauf Luthers mit Bildnis; Holzschnitt v. Johannes Meder, Ulm 1616

Im katechetischen Bekenntnisbild erscheint das Endstadium eines Verfestigungsprozesses zu neuer Kirchlichkeit, zu dem, was wir Konfession nennen und womit die Historiker gegenwärtig eine ganze Epoche, die der Konfessionalisierung (aller Religionsgemeinschaften) bezeichnen. Sie begreifen diesen Prozess strukturell als einen gesellschaftlichen Modernisierungsschritt auf unsere Gegenwart hin und damit als ein grundlegendes Organisationselement für die Ordnung und allmähliche Einübung unserer heutigen sozialen Lebensbedingungen.

Hierfür bildete auf protestantischer Seite der Mythos Luther die wirksame Imagination für das Selbstverständnis der deutschen Reformation, die sich auf die Jahre 1517, Thesenanschlag, und 1530, Confessio Augustana, fokussieren ließ entgegen allen anderen Meinungen, Abweichungen und schließlich entstehenden Denominationen. Luther wurde von seinen Anhängern nicht als Deutscher (deutsches Land gab es damals nur sprachlich), höchstens als gebürtiger Sachse wahrgenommen, vielmehr als Mann Gottes, als heiliger Prophet, als neuer Paulus und damit als letzte Instanz für die Auslegung von Bibel und Fundamentierung der neuen Kirchlichkeit. Seine legendenhaft akzentuierte Vita gewann kanonische Geltung und lebt bis auf den heutigen Tag in dieser Form als Teil des kulturellen Gedächtnisses der „verspäteten Nation“ fort, wenn auch überformt von weitergehenden bürgerlichen Imaginationen des 19. Jahrhunderts und politischen Manipulationen völkischer Ideologen.

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