Pädagogische Diagnostik und Differenzierung in der Grundschule

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2 Pädagogische Diagnostik

Diagnostik und diagnostisches Handeln sind zwei Begriffe, die etwa seit der Jahrtausendwende innerhalb der Diskussionen um die Gestaltung von Schule und (Fach-)Unterricht stark an Bedeutung gewonnen haben. Den einen Bezugspunkt stellt die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie der OECD, der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, kurz nach der Jahrtausendwende dar (Baumert et al. 2001), den zweiten der Gestaltungsauftrag einer inklusiven Schule und eines inklusiven Unterrichts, der seit 2010 im Anschluss an die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention durch Bund und Länder zunehmend Bedeutung erhalten hat.

PISA-Studien

Unter Verweis auf die PISA-Studie, deren Ergebnisse einer breiten Öffentlichkeit aufzeigten, dass die fachlichen Kompetenzen, die SchülerInnen im deutschen Schulsystem erreichen, nicht nur deutlich niedriger als erwartet liegen, sondern auch im Vergleich mit denen, die in den Schulsystemen anderer OECD-Staaten erreicht werden, unterdurchschnittlich sind, wurde nach Erklärungen für diese ernüchternden Ergebnisse gesucht. Eine mögliche Ursache wird in der wenig entwickelten diagnostischen Kompetenz der Lehrpersonen vermutet (Helmke 2012, 127f.). Hieran schließt sich die Forderung an, Diagnostik in den unterschiedlichen Fächern der Lehramtsstudiengänge ebenso wie in der Fort- und Weiterbildung stärker zu thematisieren, da gelingende Lehr-Lernprozesse ein zentrales Qualitätsmerkmal des Schul- und Bildungssystems darstellen (Schuck 2004, 351).

Inklusion

Den zweiten Bezugspunkt stellt Inklusion dar. Es werden neue diagnostische Herangehensweisen gefordert, die unter der Programmatik einer inklusiven Diagnostik aufgerufen werden (z. B. Amrhein 2016; Schäfer / Rittmeyer 2015). Das Ziel dieses Anliegens ist es, der veränderten schulischen und unterrichtlichen Situation auch im diagnostischen Handeln zu begegnen. Schuck warnte bereits 1990 – konfrontiert mit dem Plädoyer einer integrativen Diagnostik – davor, diagnostische Überlegungen losgelöst von pädagogischen Konzepten zu diskutieren, da sich methodische, strategische und strukturelle Fragen diagnostischen Handelns nicht ohne das jeweils zugrunde liegende pädagogische Konzept, dem sie dienen sollen, betrachten lassen (Schuck 1990).

Förder- und pädagogische Diagnostik

Hierin kommt der zentrale Bezugspunkt einer Abkehr von einer selektionsbezogenen Diagnostik zum Ausdruck, ähnlich, wie er sich auch in dem Begriff der Förderdiagnostik findet, der in den 1970er- und 1980er-Jahren innerhalb der Behinderten- und Sonderpädagogik diskutiert und geprägt wurde. Förderung verweist dabei auf das diagnostische Ziel, konkrete Perspektiven für die pädagogische Arbeit mit den SchülerInnen aus der Diagnostik erarbeiten zu können, sie erschöpft sich also nicht in der Zuweisung zu einer spezifischen Schulart. Die Bezeichnung Förderdiagnostik ist selbst in die Kritik geraten, da sie sich am Begriff der Förderung festmacht und so verstanden werden kann, dass vor allem die Lehrperson im förderdiagnostischen Prozess aktiv ist, während der / die SchülerIn passiv bleibt. Diese Kritik mündete in die Bezeichnung der pädagogischen Diagnostik. Weiter wird kritisiert, dass der Begriff Förderdiagnostik impliziert, dass Förderung direkt aus der Diagnostik abzuleiten wäre.

Diagnostik als unterrichtliche Aufgabe

Die Gestaltung eines inklusiven Unterrichts geht zugleich mit veränderten professionellen Aufgaben einher. Waren vorher Grundschullehrpersonen für den Unterricht und die Lehr-Lernprozesse in der sogenannten Regelgrundschule verantwortlich, wurde den SonderpädagogInnen eine parallele Verantwortung in Sonder- und Förderschulen zuteil. Im Kontext von Inklusion arbeiten sie nun gemeinsam und teilen die Verantwortung für den Unterricht und für alle SchülerInnen, die an ihm teilnehmen. Diagnostik ist ein fester Bestandteil ihres kooperativen pädagogischen Handelns. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf dem möglichst frühzeitigen Erkennen von Schwierigkeiten, um das weitere Lernen nicht zu behindern und Teilhabe an Lern- und Bildungsprozessen zu eröffnen, sondern der Auftrag ist umfänglicher und grundsätzlicher zu verstehen. Er umfasst die Aufgabe, die jeweiligen Lern- und (fachlichen) Entwicklungsstände der SchülerInnen zu kennen und diese zum Ausgangspunkt für die Gestaltung adäquater und angemessener Lehr-Lern-Arrangements heranzuziehen, die es den SchülerInnen ermöglichen sollen, ihre aktuellen Verständnisse der sozialen und materialen Welt zu erweitern. Das heißt, der Gegenstand und das Vorhaben von Diagnostik gehen deutlich über die Analyse jener Situationen hinaus, in denen ‚lernen scheitert‘ bzw. in denen die Leistungsanforderungen und normativen Erwartungen, die Schule und Unterricht an die SchülerInnen (einer bestimmten Klassenstufe) stellen, mithilfe der bisherigen pädagogischen Erziehungs- und Bildungsbemühungen nicht erfolgreich erreicht werden. Vielmehr bezieht sie sich grundsätzlich auf alle schulischen und unterrichtlichen Lehr- und Lernprozesse (Schuck 2007, 145).

Um die unterschiedlichen Perspektiven auf Diagnostik im Kontext unterrichtlicher Lehr-Lernprozesse und die damit verbundenen Anforderungen, die aktuell an das diagnostische Handeln von Lehrpersonen gestellt werden, nachvollziehen zu können, sollen in diesem Kapitel zunächst die zwei Begriffe Behinderung und Inklusion vorgestellt werden. Mit beiden ist die Entwicklung des aktuellen Verständnisses eng verbunden. War es lange Zeit v.a. die Sonderpädagogik, die sich mit diagnostischen Fragestellungen in der Schule auseinandergesetzt hat, stellt dies heute ein Themenfeld aller in Schulen tätigen Lehrpersonen dar. An diese Ausführungen anschließend wird Diagnostik als die Lernprozesse beschreibende und verstehende Tätigkeit von Lehrpersonen erläutert, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Bildungs- und Lehr-Lernbemühungen steht. Hierfür wird auf die differenzierten Ausarbeitungen der Sonder- und Behindertenpädagogik zurückgegriffen, die sich seit den 1970er-Jahren intensiv und kontrovers mit dem Begriff auseinandersetzt. Anhand eines von Schuck (2000) erarbeiteten Modells werden unterschiedliche diagnostische Herangehensweisen, die ihrerseits in verschiedenen theoretischen Perspektiven verankert sind, dargelegt und miteinander verglichen. Das Kapitel schließt mit einem zusammenfassenden Resümee und Perspektiven sowie mit ausgewählten Verständnisfragen.

2.1 Behinderung und Inklusion – zwei zentrale Bezüge pädagogischer Diagnostik

Inklusion ist, wie skizziert, ein zentraler Bezugspunkt in der Diskussion um Diagnostik in Schule und Unterricht. Der Diskurs um Inklusion ist – ebenso wie der zu pädagogischer Diagnostik – wesentlich durch den zu Behinderung geprägt. Letztgenannter wird hier zuerst eingeführt, bevor näher auf Inklusion eingegangen wird.

2.1.1 Behinderung

Behinderung ist ein Begriff, der alltagssprachlich ebenso Verwendung findet wie in wissenschaftlichen und sozialrechtlichen Diskursen. Innerhalb der sonder- und behindertenpädagogischen Theoriebildung stellt er einen zentralen Begriff dar. Im Zusammenhang mit der Diskussion um schulische Inklusion wird er zunehmend auch in schulpädagogischen und fachdidaktischen Zusammenhängen aufgegriffen und rezipiert – meist in Form seiner schulischen Variante, dem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf. Sowohl in der Behinderten- bzw. Sonderpädagogik als auch in den Disability Studies, einer interdisziplinär ausgerichteten Forschungsrichtung, die Behinderung als soziale, kulturelle und gesellschaftliche Konstruktion versteht, wird seit den 1980er-Jahren ein intensiver Diskurs zum Behinderungsverständnis geführt (z. B. Eberwein 1998a; Köbsell 2015).

Alltags- und Fachbegriffe

Wie andere erziehungs- und sozialwissenschaftliche Fachbegriffe auch unterscheiden sich wissenschaftlich gebräuchliche Behinderungsbegriffe von ihrer alltagssprachlichen Verwendung. Erstgenannte differenzieren sich zudem je nach theoretischer Perspektive, aus der heraus sie definiert werden.


Eine Übersicht über die Verwendung in erziehungswissenschaftlichen Zusammenhängen haben Moser und Sasse (2008) vorgelegt. Diskussionen aus den Disability Studies finden sich u.a. bei Köbsell (2015) und Waldschmidt (2012).

Grob lassen sich in den deutschsprachigen erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Diskursen – zu letzteren zählen auch die Disability Studies – zwei Verständnisse von Behinderung unterscheiden: eins, das als medizinisches oder ontologisches bezeichnet wird, und eines, das sozialwissenschaftlich fundiert ist. Beide Perspektiven sind nicht nur in verschiedenen historischen Kontexten entwickelt worden, sondern auch mit unterschiedlichen Zielsetzungen formuliert.

medizinische Sichtweise

Die medizinische Sichtweise steht für ein Konzept von Behinderung, in dem diese als körperliche oder psychische Schädigung verstanden wird. Behinderung stellt dabei ein Merkmal oder eine Eigenschaft einer Person dar und ist dem Körper entsprechend inhärent, also ihm innewohnend. Die Schädigung, die mit einer Behinderung gleichgesetzt wird, behindert die Betroffenen daran, vollwertig am gesellschaftlichen Leben partizipieren zu können. Das, was eine Behinderung bzw. eine Schädigung ist, wird durch einen Vergleich zu anderen Körpern und ihren Funktionen ermittelt und bestimmt, die als nichtbehindert gelten. Weicht eine Person bzw. ein Körper von dieser konstruierten Norm ab, gilt sie als behindert. Eine Behinderung liegt z. B. vor, wenn jemand drei statt vier Gliedmaßen hat oder seine Hörorgane nicht in der Lage sind, Schall in elektrische Impulse umzuwandeln, die dann als Höreindruck vom Gehirn verarbeitet werden. Behinderung, die in diesem Modell als Merkmal der Person betrachtet wird, ihr also essentialisierend zugeschrieben wird, begründet die Andersartigkeit von Menschen meist losgelöst von Kultur und Gesellschaft. Jetter (1985) kritisierte dieses Verständnis von Behinderung bereits in den 1980er-Jahren wie folgt:

 

„Es kann nicht hilfreich für einen Menschen sein, wenn man ihn charakterisiert anhand seiner Unzulänglichkeiten, seiner Normabweichungen, fehlender Tugenden, einer Fülle von Unverständlichkeiten und nur pauschaler Weise auf gerade noch Akzeptierbares“ (Jetter 1985, 286).

Eine ausschließliche medizinische Perspektive, wie sie hier skizziert wird, findet sich heute kaum noch. Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO 2005) hat für die International Classification of Functioning, Disability and Health, kurz ICF, ein Modell entwickelt, in dem Schädigungen im Wechselspiel mit sozialen Bedingungen als Behinderungen konzeptualisiert werden (Langner 2017). Behinderungen werden dabei nicht allein in funktionaler Hinsicht, sondern in Relation zur sozialen und materialen Umwelt der Individuen konzipiert. Beispielhaft kann angeführt werden, ob öffentliche Gebäude und Einrichtungen barrierefrei gestaltet sind und / oder Gebärdensprachdolmetschende für gehörlose Personen zur Verfügung stehen. Trotz dieser Erweiterung des medizinischen Modells um soziale und psychische Aspekte lässt sich Behinderung, so eine zentrale Kritik an der ICF-Konzeption, nur entlang eines Verständnisses von Normalität definieren. Behinderung stellt dabei die Abweichung von Normalität dar und steht damit letztlich für ‚Anormalität‘ oder ‚unnormal sein‘ (Hirschberg 2003, 177f.). Ein weiterer Kritikpunkt an diesem ontologischen Modell von Behinderung ist sein dichotomer Charakter, also eine Entweder-oder-Verwendung von Behinderung / Nicht-Behinderung. Der Behinderung wird das (vermeintlich) Normale, das Nicht-behindert-Sein gegenübergestellt – meist ohne, dass dieses Normale selbst thematisiert wird. Die ausschließende und exkludierende Bedeutung von Normalität in diesem Zusammenhang ist im Ansatz des Ableism differenziert untersucht worden. Vergleichbar einem rassismuskritischen Ansatz liegt dem Ableism-Ansatz (able, englisch für fähig) ein analytisches und emanzipativ ausgerichtetes Erkenntnisinteresse zugrunde. Der Ansatz ermöglicht die Analyse und Beschreibung jener expliziten und impliziten Annahmen über allgemeine menschliche Fähigkeiten, die – durch die Allgemeinheit der Annahmen – Menschen ausschließen (Köbsell 2015; Rommelspacher 1999). Bezogen auf Schule und Unterricht wären dies z. B. altershomogene Annahmen über die kindliche Entwicklung.

In der deutschsprachigen Schweiz wird die ICF im schulisch-unterrichtlichen Kontext herangezogen, wenn diagnostische Prozesse im Rahmen schulischer Standortgespräche, vergleichbar der Feststellung von Förderbedarf und der damit verbundenen Entwicklung eines Förderplans, vorgenommen werden (z. B. für den Kanton Zürich: Hollenweger / Lienhard 2010).

sozialwissenschaftliche Perspektive

Konträr zu dieser askriptiven, also Behinderung als individuelles Merkmal zuschreibenden Perspektive und auch aus der Kritik an dieser wurde ein sozialwissenschaftliches Verständnis von Behinderung entwickelt, das anschlussfähig an die von den Vereinten Nationen formulierte menschenrechtliche Perspektive ist (Bielefeldt 2010). Ein zentraler Unterschied gegenüber dem essentialisierenden Ansatz liegt darin, dass Schädigungen und Behinderungen getrennt voneinander konzipiert werden; d. h. eine (körperliche) Schädigung ist nicht identisch mit einer erfahrenen Behinderung. Behinderungen finden in sozialen Interaktionen und Situationen statt, wenn die soziale Teilhabe – die über die physische Anwesenheit hinausgeht – für eine oder mehrere Personen nicht möglich ist bzw. sie nicht teilhaben dürfen oder können. Ein Beispiel hierfür stellen eine Vielzahl architektonischer Barrieren dar – wie fehlende Rampen, elektrische Türöffner und Fahrstühle – die Menschen, die sich im Rollstuhl fortbewegen, daran behindern, selbstständig Gebäude aufzusuchen und an den Geschehnissen darin teilzunehmen. Öffentliche Einrichtungen, wie Schulen, Universitäten und Ämter, sind hiervon (bisher) nicht durchgängig ausgenommen. Das sozialwissenschaftliche Verständnis lässt sich wie folgt auf den Punkt bringen:


Menschen sind nicht behindert, sondern sie werden durch gesellschaftliche Rahmenbedingungen und Zusammenhänge behindert.

Neben architektonischen Bedingungen umfasst dieses Verständnis weitere gesellschaftliche Normen und Erwartungen, wie z. B. sich in die Arbeitswelt einzubringen, schulische Leistungsanforderungen (möglichst selbstständig) zu erfüllen und / oder sich in spezifische Formen der Kommunikationsgestaltung zu integrieren (Kap. 3).

Bezieht man dieses soziale Verständnis von Behinderung auf Schule und Unterricht, so entstehen Behinderungen v.a. dann, wenn SchülerInnen die an sie gestellten Erwartungen in dem dafür vorgesehenen Zeitrahmen und mit den ihnen gewährten pädagogisch-didaktischen Unterstützungen nicht erfüllen (können). Die Normen und Erwartungen beziehen sich dabei auch auf die didaktischen Prinzipien, mit denen unterrichtliche Gegenstände vermittelt werden, und damit letztlich auf eine gelungene adaptive Unterrichtsgestaltung. Behinderungen liegen vor, wenn zwischen den expliziten und impliziten Erwartungen und der Fähigkeit Einzelner eine Diskrepanz vorliegt (Weisser 2018). Hier wird Behinderung relational verstanden; entsprechend ist ihre Genese v.a. in den historischen, kulturellen und sozialen Begebenheiten, in denen der / die SchülerIn lebt und sozialisiert ist, zu suchen und nicht im Individuum (Haas 2012, 405).

Die Erklärungen für diese Diskrepanzen sind vielfältig und je nach Einzelfall zu betrachten und zu analysieren. Besonders gefährdet, schulisch zu scheitern oder kaum Erfolg zu haben, sind in den deutschsprachigen Ländern Kinder aus sozial-ökonomisch benachteiligten Familien. In ihrer Lebenswelt, die vielfach von Armut geprägt ist, erfahren sie Perspektiven auf die materiale und soziale Welt, auf Schule und Bildung, die sich von den Erwartungen unterscheidet, die Schule als gesellschaftliche Organisation an sie als Lernende stellt (z. B. Chassé et al. 2007; Jünger 2008).

sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf

In der Erziehungswissenschaft hat sich das sozialwissenschaftliche Modell weitestgehend durchgesetzt. Bildungspolitisch wird Behinderung – bzw. der schuleigene Begriff des sonderpädagogischen Unterstützungsbedarfs – hingegen, wenn auch nicht durchgehend, aber überwiegend individuell verwendet. So sind es nach wie vor die SchülerInnen, die diesen Bedarf attestiert bekommen – anstelle der Schule oder des Unterrichts. Dies hat auch verwaltungstechnische Gründe, da im Sinne eines Nachteilsausgleichs den so klassifizierten SchülerInnen zusätzliche (pädagogische) Ressourcen gewährt werden. Der damit einhergehende Konflikt wird als „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ (Kornmann 1994) bezeichnet. Die kategorisierende Zuschreibung steht zugleich für das Recht auf zusätzliche Unterstützung; ein Verzicht auf dieses käme einem Verlust des Anspruchs gleich (Katzenbach 2015a). Hiervon wären insbesondere gesellschaftlich benachteiligte SchülerInnen betroffen (Herz 2010).

Das jeweilige Verständnis von Behinderung, das der schulischen Organisation formal zugrunde liegt, ist in Relation zu den schulpädagogischen und fachdidaktischen Überlegungen zu betrachten und zu reflektieren, wie weiter unten mit Bezug auf die Diagnostik aufgezeigt wird.

2.1.2 Inklusion

zentraler Begriff

Inklusion ist im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends zu einem zentralen Leitbegriff der Diskussionen um Schule und Unterricht geworden. Dass Inklusion ein derart stark verhandelter Begriff werden konnte, kann wesentlich auf die Ratifizierung der UN-BRK zurückgeführt werden, die ihrerseits bildungspolitische Reformen zur Folge hat. Damit ist es gelungen, Forderungen und Bemühungen, die seit Jahrzehnten von Eltern und WissenschaftlerInnen formuliert wurden, in das Recht auf gemeinsame Beschulung zu transformieren, das – so sieht es die UN-BRK vor – nicht mehr unter Ressourcenvorbehalt gestellt werden darf. Der Diskurs wird nicht nur in der Schul- und Sonderpädagogik, sondern auch innerhalb der Fachdidaktiken geführt. Diese vielfältigen Diskussionen verweisen nicht nur auf viele unterschiedliche Positionen, die verhandelt werden, sondern fordern auch dazu auf, die jeweiligen zugrunde liegenden theoretischen Perspektiven in den Blick zu nehmen.

Doch Inklusion – alltagssprachlich meist verstanden als gemeinsamer Unterricht von SchülerInnen mit und ohne zugeschriebenem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf – ist ein Themenfeld, das seit den 1970er-Jahren intensiv in der Erziehungswissenschaft diskutiert wird, lange Zeit unter dem Begriff der Integration (z. B. Eberwein 1998a; Schöler 1993). Schulische Integration wurde dabei als Forderung und Reformidee in bildungspolitischen, in erziehungswissenschaftlichen und in fachdidaktischen Diskursen kaum oder nur als Randthema wahrgenommen.


Überblick zur Entwicklung des Diskurses: Müller 2018; Schnell 2003


Der Diskurs zu Integration wurde wesentlich entlang des Verständnisses sonderpädagogischer Diagnostik geführt. Die Entwicklung der Integrationspädagogik (z. B. Eberwein 1998c; Feuser 1995) erfolgte im Zusammenhang mit der sozialwissenschaftlichen Fundierung des Verständnisses von Behinderung und findet seinen Ausdruck auch in einer intensiv und kontrovers geführten Debatte zum Auftrag und Verständnis sonderpädagogischer Diagnostik (z. B. Jetter 1985; Schlee 1985b).

Im Rückblick lassen sich die Entwicklungen als Kritik am „deterministischen Menschenbild der Psychologie“ (Haas 2016, 119) zusammenfassen.

Die Diskussion erfolgte wesentlich durch VertreterInnen der Sonder- bzw. Behindertenpädagogik, die sich gegenüber medizinischen und schulformzuweisenden Perspektiven abgrenzten (Sturm 2016b). Der veränderte Behinderungsbegriff hatte nicht nur entscheidende Bedeutung für die Gestaltung diagnostischer Prozesse, die nicht mehr allein darauf gerichtet sein sollten, „defizitäre Entwicklungsniveau[s] von Kindern festzustellen, um sie an Sonderschulen zu unterrichten“ (Ricken / Schuck 2011, 110). Die Gliederung des Schulsystems – insbesondere mit Blick auf die Sonderschulen – wurde scharf kritisiert. Die wissenschaftlichen Ausarbeitungen stützten die Forderungen v.a. von Eltern behinderter Kinder, deren Recht auf gemeinsame Beschulung umzusetzen (Schnell 2003, 33ff.). Es ist das Verdienst dieser elterlichen Inititativen, die seinerzeit und unter gänzlich anderen bildungspolitischen Rahmenbedingungen als heute agierten, dass Integration resp. Inklusion, wenn auch zunächst nur in Form von Schulversuchen, eingeführt wurde (Böhm et al. 2018; Moser 2017).

 

Im europäischen und internationalen Vergleich haben viele Schulsysteme Mitte der 1970er-Jahre Integration als leitendes Prinzip ihres Schulsystems eingeführt, wie z. B. Norwegen (Nilsen 2010), Italien (Bräu et al. 2011) und die USA (Johnson 2012).

Mit der Ratifizierung der UN-BRK durch Bundestag und Bundesrat verpflichten sich der Bund und die Länder nun zur Gestaltung eines „inklusiven Bildungssystems auf allen Ebenen“ (United Nations 2006; 2008, Artikel 24, 1) sowie zu einer adaptiven, an den Bedürfnissen der einzelnen SchülerInnen ausgerichteten Unterrichtsgestaltung (United Nations 2006; 2008, Artikel 24, 1c).

Integration und Inklusion

Bis zur Jahrtausendwende wurde im deutschsprachigen Kontext der Begriff Integration zur Beschreibung verwendet. In der Auseinandersetzung mit dem englischsprachigen Fachdiskurs sowie mit den bildungspolitischen Initiativen, wie z. B. der Salamanca-Erklärung, Aktionsrahmen zur Pädagogik für besondere Bedürfnisse der UNESCO (1994), hielt der Begriff Inklusion Einzug in den deutschsprachigen Diskurs. Wenngleich es Perspektiven wie bspw. die von Hinz (2002) gibt, die zwischen den Begriffen Integration und Inklusion einen qualitativen Unterschied markieren, spricht viel dafür, die Begriffe mit Lütje-Klose und Urban (2014) in theoretischer Kontinuität zueinander zu betrachten bzw. sich die jeweiligen theoretischen Bezugnahmen der Definitionen und Beschreibungen sehr genau anzusehen (auch Wocken 2010).

Wie bei anderen sozialwissenschaftlichen Fachbegriffen – und zu so einem ist Inklusion in den letzten Jahren geworden – gibt es nicht eine allgemeingültige Definition. Vielmehr lassen sich viele Lesarten von Inklusion unterscheiden. Katzenbach (2015b) konstatiert, dass die vermehrte Verwendung des Inklusionsbegriffs zu einer „Unschärfe im Gebrauch“ (Katzenbach 2015b, 21) geführt hat. Trotz dieser Kritik plädiert er dafür, weiter an dem Begriff festzuhalten, wenn Fragen von Behinderung, ihrer Bearbeitung und Überwindung im Kontext von Schule und Unterricht beschrieben und Handlungsalternativen aufgeworfen werden.

Die unterschiedlichen Verwendungsweisen finden sich gleichermaßen in den bildungspolitischen wie auch in den wissenschaftlichen Diskursen zu Schule und Unterricht – v.a. den schul- und sonderpädagogischen sowie den fachdidaktischen. Beide, bildungspolitische und wissenschaftliche Diskurse, können an dieser Stelle nur grob und – dies ist auch eine Folge der zunehmend breit geführten Diskussion – knapp skizziert werden.

KMK-Empfehlungen

Neben den Schulgesetzen der einzelnen Bundesländer und den Konzepten und Leitlinien zur LehrerInnenbildung finden die Überlegungen zu Inklusion ihren Ausdruck auch in den Empfehlungen der Kultusministerkonferenz. Die KMK-Empfehlungen von 2011 mit dem Titel „Inklusive Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen in Schulen“ enthalten das Primat der Inklusion – gegenüber dem der Separation –, ohne einen Ressourcenvorbehalt zu formulieren, wie er in den Empfehlungen von 1994 noch zu finden ist. Entsprechende Umgestaltungen haben in den einzelnen Bundesländern begonnen. Dabei richten sich die Bemühungen zu Inklusion wesentlich auf SchülerInnen mit attestiertem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf, die gemeinsam mit SchülerInnen ohne einen solchen unterrichtet werden. Die Aufgabe schulischer Inklusion wird als eine aller Schulen verstanden.

Förderquote: bezeichnet jenen Anteil der SchülerInnen an der Gesamtschülerschaft, die einen sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf (ehemals sonderpädagogischer Förderbedarf) zugeschrieben haben.

Inklusionsquote: bezeichnet den Anteil der SchülerInnen mit attestiertem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, die inklusiv beschult werden.

Exklusionsquote: beschreibt den Anteil der SchülerInnen mit attestiertem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, die Sonder- bzw. Förderschulen besuchen.

statistische Angaben

Fokussiert wird in den Ländern v.a. die Gruppe von SchülerInnen, die die Förderschwerpunkte Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung attestiert bekommen. Der Ausbau inklusiver schulischer Settings, der bildungspolitisch mit einer gestiegenen Inklusionsquote ausgewiesen wird, ist zwischen 2011 und 2016 von 25% auf knapp 40% gestiegen (KMK 2018, 5). Trotz dieser Erhöhung inklusiv beschulter SchülerInnen, gemessen am attestiertem Unterstützungsbedarf, bleibt die absolute Zahl der Schülergruppe, die an Sonderschulen unterrichtet wird, nahezu stabil. Entsprechend ist der Anteil von SchülerInnen mit attestiertem sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf, die sogenannte Förderquote, von 5,7% der Gesamtschülerschaft im Jahr 2007 auf 7% im Jahr 2016 gestiegen (KMK 2018, 4). An dieser Stelle lässt sich nur vermuten, worauf diese Entwicklungen zurückzuführen sind. Denkbar ist, dass die diskriminierenden Potenziale der Zuschreibung von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf geringer sind, wenn die so attestierten Kinder und Jugendlichen in der Lerngruppe und Schule verbleiben können, anstatt in eine Sonderschule zu wechseln und entsprechend mehr SchülerInnen zum Überprüfungsverfahren gemeldet werden.

Inklusion und mehrgliedriges Schulsystem

Bezeichnend ist, dass die Gestaltung einer inklusiven Schule bildungspolitisch im Einklang mit dem mehrgliedrigen Schulsystem gesehen wird. Das sich durch Selektion und Separation auszeichnende Prinzip der Mehrgliedrigkeit wird bildungspolitisch mehrheitlich nicht infrage gestellt bzw. wenn, dann nur in Bezug auf den sonderpädagogischen Bildungszweig. Damit stehen diagnostische Handlungen im Kontext von Inklusion nach wie vor auch im Verwertungszusammenhang eines die SchülerInnen zuordnenden Schulsystems. Die Umsetzung von Inklusion entlang dieser Maßgaben ist je nach Bundesland unterschiedlich fortgeschritten und findet je spezifische Bedingungen vor. Grundsätzlich wird Inklusion eher in der Primarstufe als in den Sekundarstufen I und II umgesetzt; beispielhaft lässt sich dies anhand der Zahlen aus Nordrhein-Westfalen, dem bevölkerungsstärksten Bundesland zeigen: Im Schuljahr 2012 / 13 lag der Inklusionsanteil in der Primarstufe bei knapp 40%, während er in der Sekundarstufe I lediglich bei 20% lag (Bellenberg / Reintjes 2014, 26).

Nicht nur in bildungspolitischen Dokumenten, sondern auch in Programmatiken, wie z. B. Schulprogrammen, findet sich Inklusion als eine ideale und normative Leitidee, die proklamiert, dass von nun an alle dazugehören. Nicht selten wird sie in Form von Appellen und Aktionsplänen formuliert, die sich insbesondere an Schulleitungen und Lehrpersonen richten (z. B. MAIS 2012; BMAS 2011), während die schulstrukturelle Mehrgliedrigkeit, normierte Anforderungen sowie das praktizierte Leistungsprinzip (Sturm 2015a), die als Barrieren einer inklusiven Schulgestaltung gelten, erhalten bleiben. Insbesondere die Mehrgliedrigkeit, die das deutsche ebenso wie das österreichische und den deutschsprachigen Teil des schweizerischen Schulsystems prägen, fordert kontinuierliche Vergleiche der SchülerInnen mit- und untereinander ein und bringt so Hierarchien im Sinne von besser / schlechter (Luhmann 2002, 64) hervor. Dies begrenzt die pädagogischen Möglichkeiten des Abbaus behindernder und benachteiligender Strukturen und Praxen, die mithilfe diagnostischer Prozesse erkannt werden.

Inklusion als analytischer Begriff

Auch in den wissenschaftlichen Diskursen gibt es, wie angedeutet, eine Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven und Definitionen von Inklusion. Von Interesse sind hier v.a. jene, die sich deutlich von den bildungspolitischen und programmatischen unterscheiden. Dies sind insbesondere solche, deren theoretische Fundierung sich durch einen deskriptiv-analytischen Zugang auszeichnet. Auch dieser ist nicht gänzlich losgelöst von dem normativen Bezug, da er, wie z. B. Katzenbach (2015b) in seinen Ausführungen zur Kritischen Theorie deutlich macht, in „emanzipatorischer Absicht“ (Katzenbach 2015b, 19) formuliert wird. Zu den deskriptiv-analytischen Zugängen gehören neben dem genannten auch systemtheoretisch fundierte, wie der von Dederich (2017), die in der Praxeologischen Wissenssoziologie verankerten (z. B. Sturm 2015b; Wagener 2018; Wagner-Willi / Sturm 2012) sowie zahlreiche weitere (z. B. Budde / Hummrich 2013; Fritzsche 2018). Sie zeichnen sich durch einen Bezug zu sozialwissenschaftlichen bzw. soziologischen Theorien aus und ihnen ist gemeinsam, dass Inklusion relational zu Exklusion konzipiert wird. Damit eröffnen sich analytische und beschreibende Möglichkeiten in theoretischer und / oder empirischer Hinsicht. Diese beziehen die Komplexität der Gestaltung inklusiver Schulen in einer ihrerseits durch Widersprüche gekennzeichneten Gesellschaft in ihre Überlegungen ein.

Kritische Erziehungswissenschaft

Katzenbachs (2015b) Ausführungen sollen hier exemplarisch herangezogen werden. Mit der Bezugnahme auf eine Kritische Erziehungswissenschaft erhebt Katzenbach den Anspruch, die gesellschaftlichen Zusammenhänge, in denen das – unspezifisch bleibende – Vorhaben ‚Inklusion‘ angesiedelt ist, differenziert und reflexiv in seine Überlegungen einzubeziehen. Damit grenzt er sich von einer Perspektive ab, die davon ausgeht, durch die Bereitstellung vermeintlich richtiger Mittel und Methoden das programmatisch gesetzte Ziel der Inklusion zu erreichen. Eine solche Perspektive, so seine Kritik, blendet die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, Konflikte und Widersprüche aus, die Schule und Unterricht charakterisieren. Seine Überlegungen sind an der Idee der Emanzipation, d. h. der Befreiung aus unterdrückenden und abhängigen Verhältnissen, ausgerichtet, also am Abbau bestehender Benachteiligungen, Behinderungen und Ungleichheiten. Damit ist die Perspektive der Kritischen Theorie gegenüber anderen Sichtweisen keine wertneutrale Wissenschaft, sondern am letztlich normativen Ziel der Emanzipation ausgerichtet. Entsprechend ist in die Reflexionen einzubeziehen, dass auch die Wissenschaft selbst in Sachzwänge und gesellschaftliche Widersprüche eingebunden ist. Diese resultieren wesentlich aus dem Spannungsfeld zwischen einer kapitalistischen, marktorientierten Wirtschaftsweise und den sie hervorbringenden Formen hierarchischer und sozialer Ungleichheit einerseits und demokratischen, solidarischen Prämissen andererseits. Vor diesem Hintergrund entfaltet sich das Vorhaben, mittels wissenschaftlicher Analysen die Bedingungen zu erkennen und zu beschreiben, die Abhängigkeits- und Ungleichheitsverhältnisse hervorbringen und die vielfach als unveränderlich erlebt werden. Orientiert wird sich an dem Ziel, die Herrschaft von Menschen über Menschen zu reduzieren (Koller 2017, 226ff.).