Totensteige

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

9



Sie nahm dem Catering-Buben mit den glasigen Augen eine Runde Schnäpse, Bier und Wein ab und schickte ihn heim. Dann saßen wir im toten Partysaal an einem Tisch und versuchten, auf einen Nenner zu bringen, was wir eben gesehen hatten. Ein Lehrstück für die junge Staatsanwältin. Es war nicht möglich, auch nur zwei in der Runde auf ein und dieselbe Wahrnehmung festzulegen. Was war zuerst gewesen? Der Knall oder das Licht? War Richards Apfelschorleglas auf der Brüstung zersprungen oder heruntergefallen? Am Schluss zerbröselte uns alles, und dankbar vertrauten wir uns Richards Plausibilitätssinn an. Vermutlich hatte ein Auto auf dem Spazierweg um den See zu wenden versucht, dabei war sein Scheinwerfer zwischen den Bäumen hindurch über den See geblitzt. Womöglich war er rückwärts gegen einen Stein oder eine Sitzbank gekracht. Was nachts knallt, klingt wie ein Kanonenschlag, wenn man sich im Halbschlaf oder in einer spiritistischen Sitzung befindet. Als es knallte, hatte Krautter sich umgedreht und dabei eines der Gläser gestreift, das auf der Brüstung stand.



Ich erzählte schließlich von Nina Kulagina, der Meisterin der Salzstreuer, von der Rache des Schachcomputers, dem träumenden PC und dem italienischen Dorf, in dem die elektrischen Geräte in Flammen aufgingen, obgleich sie keinen Strom hatten, und vom Rosenheim-Spuk.



Als wir endlich das Schloss über die Freitreppe verließen, fragte sich Meisner laut, wie man so einen nannte, der Salzstreuer bewegte. »Medium?« Dann wäre er Mittler zwischen Geisterwelt und gegenständlicher Welt. »Ein Übersinniger«, schlug ­Roswita Kallweit vor. »Psi-Agent«, meinte Richard, der seine auf Pumps taumelnde Kollegin fürsorglich am Ellbogen hielt. »Para­psychopath«, schlug ich vor. »Nein, ich hab’s, man nennt ihn ­Channeler«, trötete Meisner in die schwäbisch stille Nacht zwischen Schloss und Schlosshotel. Sie habe da mal was gelesen – ob zu privaten Zwecken eigener Bewusstseinserweiterung oder nicht, ließ sie offen. Channeln sei das Empfangen oder Senden von Nachrichten über einen geistigen Kanal, den es zu finden gelte, um der dichten, materiellen, niedrig schwingenden Erde in die feinstoffliche Sphäre geistiger Wahrheiten zu entkommen. »Da gibt es Ratgeber dafür! Huch!«



Richards Hand sicherte sie. »Ich fahre dich am besten nach Hause.«



Der Leitende Oberstaatsanwalt Krautter war noch nüchtern und vernünftig genug, sich daran zu erinnern, dass Meisners Heim eher an seinem als an Richards Weg lag, nämlich ganz andere Richtung aus Ludwigsburg hinaus, gen Markgröningen.



Erst in Richards Limousine fühlte ich mich wieder sicher in der Welt. Sie wird zuverlässig geordnet von Ampeln, Pfeilen auf Fahrbahnen, Schildermasten und Halte- und Parkverboten. Mehr braucht kein Mensch, um zu wissen, wo er verweilen darf und wo nicht, wohin seine Reise geht und dass ein U-Turn an dieser Stelle verboten, weiter vorn aber erlaubt ist.



Auf meinem Handy war, wie ich feststellte, ein Anruf eingegangen, und zwar schon gegen 21 Uhr. Es war eine Nummer mit einer Vorwahl, die ich nicht zuordnen konnte.



Wir passierten auf breiter Stadtschneise das Blühende Barock, das hinter feudalistischen Mauern und Pforten mit seiner riesigen Schlossanlage und dem Küfer Paul schlummerte, der die kleine Ecke zwischen Kirche, Fasskeller und Glockenstuhl bespukte.



»Die Vorwahl 07571, wo gehört die hin?«, fragte ich Richard.



»Sigmaringen.«



»Ich kenne niemanden in Sigmaringen!«, behauptete ich. »Nein, ich kenne da doch wen: Kitty zu Salm-Kyrburg.«



»Die Retterin Hohenzollerns.« Richard sprangen die Hirnschubladen wieder von alleine auf. »Amalie Zephyrine von Salm-Kyrburg, geboren 1790 in Paris, verstorben 1841 in Sigmaringen. Sie hat die Souveränität des Fürstentums Hohenzollern-Sigmaringen gegenüber Baden und Württemberg behauptet, übrigens auch die von Hohenzollern-Hechingen.« Richard war in Balingen im Schatten der Burg Hohenzollern aufgewachsen.



»Meine Geister-Kitty betreibt einen Schönheitssalon in Sigmaringen. Und sie kennt Juri Katzenjacob.«



»Hm.«



Es war zu spät für einen Rückruf, oder vielmehr zu früh.



»Aber erschrocken warst du schon auch?«, erkundigte ich mich, als die Häuser links und rechts der fürstlichen Stadt­autobahn, die Ludwigsburg zweiteilte, zurückblieben und wir ins Dunkel der Schnellstraße rollten.



»Ja!«, antwortete Richard freimütig. »Das war ganz großes Kino. Und weißt du, was mich am meisten erschreckt hat? Dass es irgendwie passte. Ich dachte nämlich gerade: Jetzt läuft alles auf Neuschwanstein raus. Auf König Ludwig und seinen mysteriösen Tod im Starnberger See. Und wenn jetzt Neuschwanstein rauskommt, dachte ich, dann ist das der Beweis, dass es nicht Rosenfelds Geist sein kann. Und bums, kam der Abbruch!«



»Ein arg verrückter Zufall!«



»Glaubst du, dass uns wirklich Rosenfelds Geist erschienen ist?«, erkundigte er sich.



»Nee! Quatsch! Das waren wir selber mit dem, was uns so im Kopf herumspukt. Was hätte Rosenfelds Geist im Seeschloss Monrepos verloren?«



»Eben. Und zufällig weiß ich, dass unser Vizegeneral Krautter Ende vergangenen Jahres Neuschwanstein besucht hat.«



Ah ja! Und genau das zu sagen, wenn unsere Séance vorbei war, hatte er sich vorgenommen, als es knallte und blitzte. Und zwar damit vor allem seine Vorzimmerdame Roswita Kallweit nicht in der ganzen Staatsanwaltschaft herumerzählte, sogar der immer so kühle und rationale Oberstaatsanwalt Weber sei hinterher von der Existenz der Geisterwelt überzeugt gewesen. Doch genau dieser Erklärungsbeweis war von einem zufällig in diesem ­Augenblick am Seeufer wendenden Auto vernichtet worden, bevor er entstanden war. Das war selbst schon wieder spukig.



»Aber das mit Edward Gurney …«



»Edmund!«



»Zum Teufel, das hast du erfunden! Ich glaube durchaus an dein Gedächtnis, aber ich weiiiigere mich zu glauben, dass es Randfiguren der britischen Geschichte mit einschließt.«



Richard warf mir einen zufriedenen Blick zu. »Freut mich, dich noch verblüffen zu können. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, die Edmund-Gurney-Stiftung ist mir in einem anderen Zusammenhang schon einmal untergekommen.« Wenn er so sprach, wollte er den Zusammenhang nicht nennen. Er lenkte auch sofort ab. »Übrigens ist dieser Gurney unter reichlich mysteriösen Umständen gestorben.«



»Richard, ich bin müde! Was für Umstände?«



Ich werde nie verstehen, wieso manche Menschen meinen, es sei alles gesagt, wenn über den Tod eines anderen Menschen gesagt wird, er sei nach langer oder kurzer schwerer Krankheit (welcher?) oder aber unter mysteriösen Umständen (welchen?) gestorben. Das hat nichts mit Neugierde zu tun, jedenfalls nichts mit meiner persönlichen. Es ist vielmehr ein soziales Recht zu wissen, woran und wie Mitmenschen sterben, damit man den gleichen Fehler vermeiden kann.



»Nun ja«, sagte Richard, »Gurney bekam einen Brief, der ihn nach Brighton rief. Ohne seiner Frau oder sonst wem Bescheid zu geben, ist er dorthin gereist und hat sich im Hotel Royal ­Albion eingemietet. Am nächsten Morgen war er tot. Man fand ihn mit einem Tuch auf dem Gesicht, das mit Chloroform getränkt war.«



»Mit Rosenkranz?«



»Nein, Lisa. Es ist nicht, wie du denkst. Alle haben damals mit Chloroform hantiert. Gurney soll es verwendet haben, um neuralgische Schmerzen zu betäuben. Ob sein Tod aber ein Unfall war oder Suizid, ist nicht geklärt.«



»Oder ob ihn der Unbekannte ermordet hat, von dem der Brief stammte.«



»Es gab Gründe für einen Suizid, Lisa. Gurney war zwar Freund etlicher berühmter Zeitgenossen, aber selbst nicht so erfolgreich, wie er es gern gewesen wäre. Er soll an einer Depression gelitten haben. Auch vermutet man, dass seine Ehe nicht glücklich war, denn seine Frau heiratete wenige Monate nach seinem Tod ein zweites Mal.«



»Na, die hat in der Tat nicht lang suchen müssen.«



»Das Datum seines Todes ist übrigens bemerkenswert. Er starb am 23. Juni, also im 6. Monat. Die Zahl 6 steht im Okkultismus für die Offenbarung des Johannes, also für Weltuntergang und den Antichrist, vor allem als 666. Und im griechischen Alphabet heißt der 23. Buchstabe Psi …«



Ich konnte das Lachen nicht unterdrücken.



»Allerdings«, fuhr Richard vergnügt fort, »wird die Bezeichnung Psi erst nach dem Zweiten Weltkrieg für paranormale Phänomene verwendet. Das mag der Grund sein, warum erst im zwanzigsten Jahrhundert die Zahl 23 zum Symbol für das Geheime und Zerstörerische wird, zur Zahl der Illuminaten.«



Es lachte aus mir heraus. Es war einfach zu viel. »Die Illuminaten! Jawoll! Vampire, Gespenster und Illuminaten!«



Es war einer der seltenen Momente, wo ich Richard feixen sah. »Gut, gell? Es gibt so wenige Ziffern und so viele Bedeutungen. Da landet man immer einen Treffer. Die Illuminaten sind übrigens keine Erfindung der Romanciers. Es gab sie wirklich in Ingolstadt in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als in Europa Könige und ihre Mätressen regierten. Die Illuminaten wollten Aufklärung und sittliche Verbesserung der Gesellschaft. Das verstanden die absolutistischen Despoten natürlich als Angriff auf sich selbst. Die Gruppe wurde verboten. Erst die Romanschreiber und Filmemacher haben sie zu erbitterten Feinden der katholischen Kirche und zu Agenten einer finsteren Weltverschwörung stilisiert.«



Mir flashte das Bild der Uhr am Giebel von Kalteneck ins Hirn. Drei nach acht. »Die Uhr!«, sagte ich. »Sie stand! Und zwar 20 Uhr 3 – 23!«



»Welche Uhr?«



»Das kann kein Zufall sein, Richard. So viele Zufälle gibt es nicht. Die Illuminaten haben den Mord an Rosenfeld angeordnet und von einem abergläubischen Adoptivkind aus Rumänien ausführen lassen.«

 



»Und zwar warum?«



»Weil … weil …« Plötzlich hatte ich es. »Weil Rosenfeld beim Kalteneck-Experiment Erfolg hatte.«



»Was für ein Experiment?«



»Die suchen nach dem, der es kann. Dafür haben sie eine Million Euro ausgelobt. Und Rosenfeld hat ihn gefunden. Den Mann, der anderen seine Gedanken aufzwingen kann, oder die Frau.«



»Unsinn, Lisa!«



»Na gut, dann kann er Gedanken lesen. Wem würde so was nützen? Geschäftsleuten, Drogenhändlern, Außenministern … Sie wüssten, was der Gegner denkt. Nein, das ist Pippikram. Es muss was Größeres sein. Eine Macht! Sie beeinflusst Maschinen, Computer, die Börse. Stell dir vor, es gäbe einen, der Flugzeuge abstürzen lassen könnte …«



»Bitte, Lisa!«



»… oder Atomkraftwerke zur Kernschmelze bringen! An so einem hätte die halbe Welt Interesse. Die USA, Russland, China, die Taliban, al-Kaida, jede verkrachte Oppositionsbewegung, Terroristen, ein Großkonzern, einfach alle, die Macht gewinnen wollen. Und die Israelis sowieso. Die fürchten sich vor ihrer Vernichtung. Sie haben doch erst kürzlich mit einem Computer­virus im Iran das Atomprogramm zu stören versucht.«



Darauf erwiderte Richard nichts mehr. Aber die Knöchel seiner Hand auf dem Lenker waren weiß geworden, obgleich sein servogelenktes Gefährt keine harte Hand verlangte.



»Sag, dass ich spinne, Richard! Sag, dass das Quatsch ist!«



»Natürlich ist das Quatsch, Lisa.«



»Aber wenn es so wäre, Richard. Nur mal angenommen. Dann hätte Rosenfeld sterben müssen, weil er den einen kannte, der es kann. Oder die eine. Weil er ihn entdeckt hat, aber den Namen niemandem mehr nennen sollte. Denn dieser eine ist längst entführt und befindet sich in den Händen derer, die mit seiner Hilfe irgendwas anrichten wollen, was ihnen immens nützt und anderen – uns – immens schadet.«



Richard ächzte. »So was hat man in den dreißiger Jahren geglaubt, Lisa. Die Nazis waren damit ganz vorn dran. Und die USA im Kalten Krieg. Mind-Control und so weiter. DerCIAhat im geheimen Projekt Stargate Hellseher beschäftigt, die sowjetische Militäranlagen im fernen Sibirien beschreiben sollten, die kein Westler je zu sehen bekam. In Einzelfällen soll es sogar gelungen sein, aber es ist niemals eine Dokumentation darüber erschienen, wie viele Fehlversuche es dabei gegeben hat und wie oft die Visio­nen falsch waren, falls man das überhaupt überprüfen konnte. Lisa, es geht nicht. Es gibt diesen einen – oder diese eine – nicht.«



Das Gelächter kehrte zurück und gluckerte in mir herum.



»Was gibt es da zu lachen?«



»Ich stelle mir nur … ge… hihi …rade vor, dass der Psi-Agent die Wahlmaschinen beeinflusst hat und wir … hihi … darum jetzt plötzlich eine grün-rote Landesregierung haben.«



»Darum haben wir in Deutschland keine Wahlcomputer, sondern machen unser Kreuzchen mit Bleistift auf Papier in der Kabine, Lisa. Genau darum.«



»Ach was, echt?«





10



»Schreib es auf!«, drängt mich Else wieder mal. »Fang einfach an. Denk nicht nach.«



»Aber es hört irgendwann von alleine auf«, sage ich. »Jede Abweichung von der Normalkurve findet ihr natürliches Ende. Wir befinden uns immer noch im Bereich der Wahrscheinlichkeit. Das ist das Gesetz der Serie, das kein Gesetz ist. Wenn ein Flugzeug abstürzt, stürzt kurz darauf noch eins ab.«



»Aber wir halten das nicht mehr lange aus, Lisa!«



In der Tat, zum ersten Mal wünschen sich die Regierungen der westlichen Welt, sie hätten der parapsychologischen Forschung in den vergangenen Jahrzehnten mehr Geld zur Verfügung gestellt. Dann hätte man vielleicht heute Erklärungen für das, was einen Menschen befähigt, Gegenstände zu bewegen und technische Systeme zu stören, ohne sie anzufassen. Dann hätte man vielleicht jetzt eine Ahnung, wie man dem Spuk beikommen kann.





11



Als ich am Sonntagnachmittag nach drei Bechern Kaffee und einem Spaziergang mit Cipión wieder zurechnungsfähig war, aktivierte ich auf meinem Handy den Rückruf meines Anrufs in Abwesenheit.



Es meldete sich mit schwäbischer Pausenanfälligkeit Kitty zu Salm-Kyrburg, Haunt Hunter’s Agency.



»Sie haben mich gestern Abend angerufen?«, eröffnete ich.



Pause. »Ja.« Pause.



»Und, was gibt es?«



»Janette hatte gestern Abend wieder ein Erlebnis.«



»Ah so, Rosenfeld ist ihr erschienen und hat von großen Gefahren gesprochen?«



Pause. »Ja. Aber Janette sagt, sie sei zu schwach dafür. Er braucht ein stärkeres Medium. Es müsse jemand sein, der … entschuldigen Sie … aber ich sage nur, was Janette mir gesagt hat … Es müsse jemand mit Narben sein.«



Ich lachte lauthals. »Wollen Sie mich verkackeiern?«



Stille. Mein Handyverstärker rauschte. Ich zündete mir eine Zigarette an. »Kann ein Geist eigentlich an zwei Orten gleichzeitig erscheinen?«



»Geister sind nicht unserer Zeit unterworfen.«



»Aber sie erscheinen immer nur nachts.«



»Nein. Wir wissen auch von Tagesspuks. Allerdings ist es nachts ruhiger, weniger Schwingungen. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Nachts schlafen die meisten Menschen. Da sind weniger Gedanken in der Luft, gewissermaßen. Und wir hören die Toten besser.«



»Aha!« Ich erzählte ihr von unserem Tischrücken.



Pause.



»Was sagen Sie dazu?«, schubste ich sie an.



»Nun … ich war nicht dabei. Daher lässt sich schwer sagen, ob Rosenfelds Geist tatsächlich präsent war oder ob es nur … verstehen Sie … So wie Sie es mir erzählt haben, war es eher ein Gesellschaftsspiel. Ein Partygag. Natürlich kann sich dabei auch etwas ereignen.«



»Und was halten Sie von dem Hinweis auf Neuschwanstein?«



»Wie gesagt …« Ihre Stimme versackte in Stille.



»Verstehe. Wären Sie und Ihre Truppe bereit, eine PU in Neuschwanstein zu machen?«



Jetzt lachte Kitty laut. »Was glauben Sie, wie oft wir schon versucht haben, nach Neuschwanstein reinzukommen? Ich meine, außerhalb der Besuchszeiten, nachts. Null Chance!«



Ich überlegte, ob ein Oberstaatsanwalt beim Stuttgarter Landgericht einen Richter bewegen konnte, einen Beschluss zu unterschreiben, der eine spiritistische Sitzung bei Nacht im Schloss Neuschwanstein anordnete. »Dann machen wir es eben bei laufendem Betrieb.«



»Waren Sie schon mal dort?«



»Nein. Ich interessiere mich nicht für Adelshäuser.«



Die Nachfahrin der Retterin von Hohenzollern-Sigmaringen schluckte. Vielleicht war es aber auch nur eine ihrer regulären Pausen. »Ohne Führung kommen Sie da nicht hinein. Und Sie dürfen nicht fotografieren oder filmen. Wir könnten keinerlei Messungen vornehmen und keine Daten sammeln.«



»Auf den elektronischen Beleg würde ich in diesem Fall verzichten. Wenn Rosenfeld dafür sein schreckliches Geheimnis preisgibt.«



Das Lustige war, dass ich Kitty gar nicht vom Sinn eines solchen Unternehmens überzeugen musste. Schwieriger würde das bei Richard werden. Und er musste mit. Denn wenn ein Physiker und Psychologe wie Rosenfeld ein Medium suchte, das ihm geistig gewachsen war, dann nicht mich, sondern einen Mann wie Richard mit starkem Verstand und kritischem Sinn, ein Skeptiker, der, wenn er erst einmal überzeugt war, nicht ablassen würde, bis das Rätsel gelöst war. Narben besaß auch er, nur weniger deutlich sichtbare. Sie lagen verborgen unter seiner textilen Schale von Eleganz und Lebensplan.



Dabei glaubte ich nicht daran. Ehrlich. Aber nach all den Jahren, die ich zuerst für das Emanzenblatt Amazone, dann für den Stuttgarter Anzeiger und jetzt für die Sonntagsbeilagen der Südwestpresse durchs süddeutsche Kuriositätenkabinett geturnt war, hatte ich begonnen, daran zu glauben, dass ich Journalistin war. Und für eine gute Show und eine krasse Story konnte ich meine persönlichen Überzeugungen auch einmal hintanstellen.



Vielleicht war das der Moment, wo ich Teil der Verschwörung wurde. Als ich nämlich einschwenkte und so tat, als hielte ich es für möglich, dass Rosenfelds Geist uns in Neuschwanstein das Geheimnis seines Todes eröffnen würde, obgleich ich eigentlich nur Richards neuronale Datenbanken anzapfen wollte. Denn insgeheim war ich überzeugt, dass er beim Stehtischrücken einen größeren Beitrag zur Verrätselung der Causa Rosenfeld geleistet hatte, als ihm selbst bewusst war. Statt des rationalen Wegs, ihn so lange zu löchern und zu piesacken, bis er mir verriet, was er bereits wusste, was er ahnte und was er befürchtete, schlug ich den irrationalen ein.



Den Rest des Nachmittags verbrachte ich im weltweiten Netz. Ich fragte meine Freunde in Facebook, was ihnen zu einer Leiche einfalle, die sich auf einer Wasserburg in einem verschlossenen Zimmer befand. Geheimtüren nicht bekannt, der Weg durch die Fenster nachweislich unmöglich, weil das Eis des Wassergrabens andernfalls hätte beschädigt sein müssen, der Weg durch die Tür ebenfalls verwehrt, weil die Füße des Toten sie versperrten.



Und ich fand heraus, dass es sich bei dem Flugzeugabsturz, von dessen spukhaften Begleiterscheinungen die junge Staatsanwältin erzählt hatte, um den von 1991 im Westen Thailands handeln musste. Am 26. Mai hatte sich bei einer Boeing von Lauda-Air nahe Bangkok wegen eines Systemfehlers beim Steigflug die Schubumkehr eingeschaltet. Die Maschine stürzte ab, alle 213 Insassen kamen ums Leben. Unter den Passagieren hatten sich hauptsächlich Österreicher, aber auch Deutsche befunden, denn das Flugzeug war auf dem Weg von Bangkok nach Wien gewesen. Ich stutzte. Hatte die junge Staatsanwältin uns nicht erzählt, die Maschine sei auf dem Flug nach Bangkok abgestürzt? Ein Erinnerungsfehler, der zur Schubumkehr für die ganze Geschichte wurde. Denn damit hatte die Tochter der verunglückten Familie nicht drei Nächte vor dem Unglück irgendwas geträumt, sondern – je nach Länge des Urlaubs – ein oder mehrere Wochen vorher.



Ich dachte an Karin Beckers Erkenntnis, dass sich bei all diesen Geschichten über seltsame Ereignisse die realen Daten in vielfältigen Widerspruch zueinander begaben und die Kraft des Narrativen die Regie übernahm.



Doch warum tradierte man in der Familie der jungen Staatsanwältin die Legende vom vorher geträumten Unglück? Am meisten aufgeregt hatte sie sich, als Richard in Zweifel zog, dass die Mutter wirklich die Frage gestellt hatte, ob die Schwägerin keine Angst habe, der Traum der Tochter könne sich bewahrheiten. Und ich wusste auf einmal, was er gemeint hatte: Schuldgefühle! Hinterbliebene neigen zu Schuldgefühlen, wenn ein Angehöriger stirbt. Die Mutter der jungen Staatsanwältin hatte sich auf originelle Weise schuldfrei gestellt. Sie hatte es gesagt, hatte den Bruder mit Hilfe der Schwägerin zu warnen versucht. Ja, hätte man nur auf sie gehört!



»Wie hieß eigentlich diese junge Staatsanwältin?«, fragte ich Richard, als er am Abend bei mir eintrudelte.



»Nadja Locher«, antwortete er. »Warum?«



»Das mit dem Flugzeugabsturz war doch ziemlich anders, als sie es in Erinnerung hat.«



Er nickte nur, langte mir um die Hüften und zog mich an sich. So nah besehen, zerfiel die milchkaffeebraune Iris seiner Augen in goldbraune radiale Streifen mit grünen und rotbraunen Einsprengseln. Man konnte erkennen, dass die Asymmetrie seines Blicks daher rührte, dass sein linkes Augenlid hing, was er auf eine Ohrfeige seines Vaters und eine partiale Lähmung zurückführte.



»Lisa«, sagte er und tippte mir gegen die Stirn. »Ich kann deine Gedanken lesen. Du willst, dass ich Einblick in die Dokumentation der Kalteneck-Experimente verlange.«



»So ungefähr.« Eigentlich wollte ich jetzt, dass wir nach Neuschwanstein fuhren.



»Aber man wird sie mir nicht gewähren, Lisa. Das weißt du. Ich bin durch nichts autorisiert.«



»Schick die Steuerfahndung hin.«



»Dazu gibt es keinen Anlass. Die Buchführung des Instituts ist glasklar und wegen ein paar vielleicht zu viel abgerechneter Klopapierrollen beantragt man keinen Durchsuchungsbeschluss.« Er hatte es sich also auch schon überlegt.



»Und die Stiftung?«, schlug ich vor. »Stiftungen haben einen Briefkasten in Liechtenstein und sind Steuerhinterziehungs­modelle.« Ich knibbelte den obersten Knopf seiner Weste auf.



»Diese nicht. Sie hat ihren Briefkasten in der Elbchaussee in Hamburg-Blankenese.«



»Und wer beaufsichtigt sie?«



»In Hamburg ist es die Justizbehörde. Ich habe mir die Unterlagen bereits schicken lassen.«



Brav. Ich knöpfte mich bis zum Gürtel hinunter.



»Der Satzung zufolge«, sagte er, »leistet die Edmund-Gurney-Stiftung Anschubfinanzierung für Projekte im Bereich der parapsychologischen Forschung, die ohne private Unterstützung nicht möglich wären, insoweit diese eine gewisse Aussicht eröffnen, die Existenz paranormaler Phänomene zu belegen oder zu beweisen.«

 



Juristische Satzschrauben gingen ihm immer locker von der Zunge.



»Sie schreibt europaweit Forschungsstipendien aus. Im vergangenen Jahr haben sechzehn Wissenschaftler von einschlägigen Instituten einen Antrag gestellt, vierzehn sind bewilligt worden, darunter eine Reise von Dr. Derya Barzani aus dem Insti­tut in Holzgerlingen ins südtürkische Hatay zur Untersuchung eines Reinkarnationsfalls bei den dort lebenden Aleviten.«



»Einer Wiedergeburt? Schräg!«



»Ja, anders als die Moslems glauben die Aleviten wie die Inder an die Seelenwanderung. Die Rechenschaftsberichte des Stiftungsvorstands an die Stiftungsaufsicht sehen über die Jahre immer ähnlich aus. Fünf Millionen Vermögen, Ausgaben in Höhe von rund anderthalb Millionen, denen Einnahmen aus Aktienfonds und einige kleinere Spenden in ähnlicher Höhe gegenüberstehen, so dass am Jahresende immer wieder eine 5 vorne steht. Alles sehr solide, Lisa. Sehr solide.«



»Und wer hat die Stiftung gegründet?«



»Gegründet wurde sie 1989 mit einer Einlage von damals 900 000 D-Mark aus dem Erbe einer Hamburgerin und Anhängerin des Spiritismus, der auch die Villa an der Elbchaussee gehörte. Die Einlage wurde 1997 aus dem Privatvermögen des Stiftungsvorsitzenden auf drei Millionen und 2009 durch eine Spende von Inter-Q-Orporate in Berlin auf die heutigen fünf Millionen erhöht. IQO vertreibt Kommunikationssysteme und ist eine Tochter des Flugzeug- und Rüstungskonzerns QarQ.«



»Oha!«



»Ja, Lisa.« Die Krawatte fuhr wie eine Schlange aus seinem Kragen. »Das sind die Bösen.«



Solche Abkürzungen zur Klassifizierung hochkomplexer wirtschaftlicher Verflechtungen erlaubte Richard sich selten. Aber QarQ war ein Sonderfall. Erst kürzlich hatte der Artikel eines Zeitungsjournalisten Aufsehen erregt, der in Spanien ein Tochterunternehmen von QarQ aufgespürt hatte, das Streubomben fertigte und an Despoten lieferte, die ihre Armeen bevorzugt die eigene Bevölkerung massakrieren ließen. Derzeit gerade in der arabischen Welt.



»Und warum gibt eine solche Firma Geld für parapsychologische Studien her?«, fragte ich. »Auch wenn zwei Millionen eher wenig sind.«



»Das hat der US-Flugzeugbauer Boeing schon in den dreißiger Jahren getan. Man wollte herausfinden, ob ein Mensch die In­strumente im Cockpit mental beeinflussen könnte.«



Ich zupfte ihm das Hemd aus dem Hosenbund. »Und ein Unternehmen wie QarQ, das sich mit Weltherrschaftsinstrumenten wie Internetkommunikation und Kriegstechnik befasst, will nun auch wissen, ob ein Mensch ihre Systeme manipulieren könnte.«



»Oder die der Konkurrenten.« Er langte zum anderen Handgelenk und fummelte den Manschettenknopf aus der Manschette.



»Hast du schon mal mit dem Gedanken gespielt«, erkundigte ich mich, »dich sonntags etwas knopfärmer anzuziehen?«



»Wozu den Anzug für morgen auf dem Kleiderbügel mitbringen, wenn ich ihn am Leib tragen kann.«



Knopflogisch! Ich fuhr ihm über den muskelgeribbelten Bauch. Er zuckte. Der Nachteil des Sixpacks war seine Härte, aber Richard hatte auch weiche Stellen, beispielsweise oberhalb der Hüfte. Sogar er!



Er schnurrte. »Im Kuratorium der Stiftung sitzen fünf Leute: ein Physiker, ein Chemiker, ein Psychologe, eine Krankenhausärztin, ein Neurologe und ein Betriebswirtschaftler. Als Vorstand firmiert Oiger Groschenkamp, bekannt als Börsenspekulant und Aufkäufer von Zeitungen und Fernsehsendern. Er ist der Neffe der Dame mit den spiritistischen Neigungen und hat die Villa in Blankenese geerbt. 2001 hat er Burg Kalteneck erworben und ins Stiftungsvermögen eingebracht. Groschenkamp hält Anteile bei QarQ und IQO. Andererseits vergibt er über seine Privatbank Kleinkredite an Existenzgründer und mittelständische Betriebe hauptsächlich im norddeutschen Raum.«



»Das ist aber jetzt nicht der Gute.«



Richard deutete ein Achselzucken an. »Schwer zu sagen. Es gab vor ein paar Jahren in Börsenkreisen mal ein bisschen Aufregung, weil man meinte, eine seiner Zeitungen habe das Gerücht gestreut, eine italienische Bank sei pleite, was zur Pleite dieser Bank führte. Aber dass er dahintersteckte, ließ sich nicht beweisen. Gr