Lesekompetenz fördern

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

[18]1.2 Das Sozialisationsmodell der Lesekompetenz

Dass ein für Testzwecke entwickeltes Modell von Lesekompetenz nicht unbedingt geeignet ist, um den Erwerb von Lesekompetenz im Prozess des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen wirksam zu unterstützen, haben Leseforscher und Lesedidaktiker in Deutschland vielfach unterstrichen. Die Lesesozialisationsforschung hat darum ein anderes Modell von Lesekompetenz entwickelt, das sich einem ganzheitlichen Ansatz verpflichtet weiß und weitere Dimensionen umfasst. In der kritischen Auseinandersetzung mit der Konzeption von Lesekompetenz in PISA 2000 forderte Bettina Hurrelmann bereits kurz nach Erscheinen der ersten PISA-Studie, einen weiter gefassten Lesebegriff einzuführen, der die Beweggründe für das Lesen, die Gefühle beim Lesen und die Gespräche über Gelesenes selbst als Bestandteile von Lesekompetenz begreift und nicht nur als »Hintergrundvariablen« wie bei PISA (vgl. Hurrelmann 2002). Auch andere Leseforscher und Deutschdidaktiker haben sich in diese Diskussion eingeschaltet, und so entstand im Rahmen einer Forschungsgruppe zum Thema »Lesesozialisation in der Mediengesellschaft« ein alternatives Modell von Lesekompetenz, das das Verstehen von Texten in einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung verortet. Dieses Modell erweitert die kognitiven und reflexiven Aspekte der Lesekompetenz im PISA-Modell um drei weitere wichtige Aspekte, nämlich Motivationen, Emotionen und schließlich alle lesebezogenen Interaktionen, heute meist Anschlusskommunikation genannt (vgl. Hurrelmann 2007).


Abb. 3: Lesekompetenz im Sozialisationskontext (nach Hurrelmann 2002, S. 16)

Leitend ist hier die Idee eines allseits gebildeten »gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekts«, dem das Lesen nicht nur zu instrumentellen Zwecken wichtig ist, also im Zusammenhang mit Ausbildung oder Arbeitsplatz oder anderen zweckorientierten Aufgaben, sondern darüber hinaus als Medium der [19]Persönlichkeitsbildung und Weltorientierung. »Es ist leicht zu erkennen, dass in diesem Ideal Annahmen über die Wirkungen speziell des literarischen Lesens eine erhebliche Rolle spielen, die uns aus Literaturtheorie und Literaturdidaktik vertraut sind – während sich das Literacy-Konzept eher auf die Folgefunktionen von Informationslektüre konzentriert.« (Hurrelmann 2007, S. 22 f.)

Über die kognitiven Anforderungen des Textverstehens hinaus betont das Modell der Lesesozialisation die Bedeutung von positiven Emotionen und Motivationen für eine gelingende Leseentwicklung bei Heranwachsenden. Die Lesemotivation ist elementar für die Bereitschaft zu lesen und den Leseprozess entsprechend den jeweiligen Textanforderungen zu gestalten. Dazu gehören auch die Fähigkeit, Lesen für unterschiedliche [20]subjektive Ziele einzusetzen, sowie die Fähigkeit, Lesebedürfnisse und -angebote aufeinander abzustimmen, oder die Entscheidung, einen aktuellen Leseprozess weiterzuführen oder abzubrechen. Die emotionale Dimension beschreibt die Fähigkeit zum Erleben positiver oder negativer Gefühle während der Lektüre sowie die Fähigkeit, mit diesen Gefühlen angemessen umzugehen und die Lesemotivation aufrechtzuerhalten. Es geht hier sowohl um Emotionen, die den Inhalt des Gelesenen betreffen, als auch um Emotionen, die mit der Wahrnehmung des eigenen Lesens und der eigenen Lesekompetenz zu tun haben.

Die Anschlusskommunikation zielt auf die soziale Dimension von Lesekompetenz: Das Aushandeln von Textbedeutungen in sozialer Interaktion ist von den frühen Vorlesedialogen zwischen Eltern und Kind beim gemeinsamen Bilderbuchlesen bis zum Literaturunterricht in der Schule ein zentrales Element der Lesekompetenz (vgl. Garbe 2010a). Einerseits geht es im Gespräch mit Freunden oder Eltern, aber auch im Deutsch- oder Fachunterricht um das Bewusstwerden und Überprüfen der eigenen Bedeutungskonstruktionen und Deutungen eines Textes, andererseits geht es auch um eine kritisch-wertende Auseinandersetzung mit Textinhalten und schließlich um Selbstreflexion durch Rückbezug des Gelesenen auf die eigene Lebenssituation.

1.3 Das didaktische Mehrebenenmodell der Lesekompetenz

Cornelia Rosebrock und Daniel Nix bauen in ihren »Grundlagen der Lesedidaktik« (2008, 8. Aufl. 2017) auf dem sozialisationstheoretisch fundierten Modell auf. Auch sie betonen, dass man für das Messen von Leseverstehensleistungen (bei PISA, IGLU u. a.) ein anderes Modell benötigt als für die Diagnose von Leseschwächen und die Gestaltung von Leselernprozessen [21]im Unterricht. Gerade im Hinblick auf eine Systematisierung der Handlungsdimensionen von Leseförderung wird ein detailliertes Modell benötigt, das eine Zuordnung einzelner Fördermethoden zu den verschiedenen Aspekten von Lesekompetenz erlaubt.


Abb. 4: Mehrebenenmodell des Lesens (nach Rosebrock & Nix 2017, S. 15)

Rosebrock & Nix stellen ein »Mehrebenenmodell des Lesens« vor, das visualisiert ist als kegelförmiger Ausschnitt aus drei konzentrischen Kreisen: Der Innenkreis beschreibt die Prozessebene des Lesens und umfasst vor allem die kognitiven [22]Anforderungen des Leseaktes. Dazu gehören insgesamt fünf Anforderungsdimensionen, die von den hierarchieniedrigen zu den hierarchiehöheren Prozessen voranschreiten: a) Buchstaben-, Wort- und Satzerkennung; b) lokale Kohärenzbildung durch Verknüpfung von Satzfolgen sowie Einbezug von Sprach- und Weltwissen; c) globale Kohärenzherstellung über Thema und Inhalt des gesamten Textes; d) Einordnen eines Textes in »Superstrukturen«, das heißt Textsortenmuster, die zum Verständnis des Textes herangezogen werden, und e) Aufbau eines mentalen Modells und Identifikation von (formalen) Darstellungsstrategien und Erzählkonventionen (vgl. Rosebrock & Nix 2017, S. 17 ff.).

Der mittlere konzentrische Kreis(ausschnitt) beschreibt die Subjektebene, der äußere konzentrische Kreis(ausschnitt) die soziale Ebene (vgl. ebd., S. 20 ff.). Die Subjektebene umfasst vor allem die Dimensionen, die im sozialisationstheoretischen Modell Motivationen, Emotionen und Reflexionen heißen; an die Stelle des Terminus »Emotionen« tritt hier der Terminus »innere Beteiligung«, der eine umfassendere Bedeutung hat. Ferner ist ergänzt die Dimension des subjektiven Weltwissens und das »Selbstkonzept als (Nicht-)Leser/in«, in dem sich alle Aspekte der Subjektebene bündeln. Die aktuellen Selbstwirksamkeitsüberzeugungen eines Subjekts – zum Beispiel im Hinblick auf das Lesen – sind das Ergebnis einer langen Lerngeschichte, bei der positive wie negative Erfahrungen in einer bestimmten Weise interpretiert (»attribuiert«) wurden. Dieses Selbstkonzept als (Nicht-)Leser/in dürfte einen starken Einfluss auf die je aktuelle Lesemotivation haben; dies haben insbesondere Möller & Schiefele (2004) hervorgehoben (vgl. Kap. 3 in diesem Band).

Die soziale Ebene umfasst verschiedene Sozialisationsinstanzen (Familie, Schule, Peergroup) sowie im weitesten Sinne das kulturelle Leben und beschreibt die Dimension der [23]Anschlusskommunikation (vgl. ebd., S. 23 ff.). Damit ist gemeint, dass der gesamte Prozess des Erwerbs von Lesekompetenz in Kindheit und Jugend besonders intensiv auf stützende soziale Kontexte angewiesen ist. Von den frühen Vorlesegesprächen im Kleinkindalter bis zum »Literarischen Gespräch« im Deutschunterricht, von der Buchempfehlung im Freundeskreis bis zum Lektürezirkel im akademischen Betrieb gilt: Lesen ist keine »einsame Tätigkeit«; die lebensgeschichtliche Ausbildung einer stabilen Lesepraxis ist auf personale Beziehungen angewiesen.

Im Vergleich mit dem sozialisationstheoretischen Modell von Hurrelmann systematisieren Rosebrock & Nix stärker unter didaktischen Aspekten, an welchen Dimensionen von Lesekompetenz einzelne Maßnahmen der Leseförderung ansetzen. In ihrem Buch »Grundlagen der Lesedidaktik und der systematischen schulischen Leseförderung« beschreiben sie sechs Verfahren der Leseförderung im weiterführenden Leseunterricht5, die geeignet sind, jeweils eine oder mehrere Dimensionen der in dem Modell ausdifferenzierten kognitiven, subjektiven und sozialen Aspekte der Lesekompetenz gezielt zu fördern. Für ein systematisches Lesecurriculum in der Schule ist zu beachten, dass diese Verfahren einander ergänzend eingesetzt werden müssen, um alle Aspekte der Lesekompetenz, Lesefreude und Lesemotivation angemessen zu fördern.

[24]1.4 Die drei Säulen der Leseförderung

Nach dem PISA-Schock von 2001 war das Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) eine der ersten Lehrer(fort)bildungseinrichtungen der Bundesrepublik, die sich intensiv dem Thema Leseförderung als Bestandteil von Schulentwicklung gewidmet haben. In diesem Zusammenhang wurde das Modell der »drei Säulen der Leseförderung« entwickelt, das als Grundlage für die Einführung eines systematischen Lesecurriculums an Schulen dienen sollte. »Die drei Säulen der Leseförderung stellen die Bereiche dar, die für eine systematische schulische Leseförderung von Bedeutung sind. Während das Mehrebenenmodell [von Rosebrock & Nix] vom lesenden Subjekt ausgeht, markieren die Säulen die Arbeitsbereiche der Institution Schule. Erfolgreich ist eine Schule dann, wenn sie nicht nur im Unterricht die Lesekompetenz fördert, sondern in allen Bereichen leseförderliche [25]Maßnahmen ergreift. Die Säulen ergänzen das Mehrebenenmodell durch den veränderten Blickwinkel. Beide Modelle unterstützen die schulische Entwicklungsarbeit.« (LISUM 2013, S. 13)

 


Abb. 5: Säulen der schulischen Leseförderung (nach LISUM 2013, S. 13)

Die drei Säulen der Leseförderung

»Die Säule ›Lesen im Unterricht‹ steht für die unterrichtlichen Maßnahmen der Leseförderung. Der Deutschunterricht nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Die systematische Entwicklung der Lesekompetenz braucht aber die Beteiligung aller Fächer. Weil das Lernen mit und aus Texten großen Raum einnimmt, sind leseförderliche Maßnahmen und die Unterstützung der (Sachtext-)Lektüre im jeweiligen Fachunterricht maßgeblich für den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler.

Die Säule ›Lesen in der Schule‹ verdeutlicht, dass eine systematische schulische Leseförderung über den Unterricht hinausgeht und durch lesekulturelle Aktivitäten ergänzt wird, die das Lesen zum sozialen Ereignis machen. Viele Maßnahmen der außerunterrichtlichen Leseförderung haben die für die Entwicklung der Lesekompetenz wichtige Lesemotivation im Blick. Dabei ist die Schulbibliothek ein zentraler Ort, der allen Schülerinnen und Schülern einen unkomplizierten Zugang zu Texten und Medien ermöglicht. Außerdem gilt es, die Eltern als Partner der Leseförderung einzubeziehen – auch noch in der Sekundarstufe I.

Die Säule ›Kooperationen‹ öffnet den Blick in den außerschulischen Raum. Es gibt eine Reihe von regionalen und überregionalen Institutionen und Einrichtungen, die Schulen bei der Leseförderung unterstützen. Sie bringen Menschen in die Schulen – z. B. Lesepaten, Autoren, Literaturvermittler – oder stellen Material zur Verfügung – z. B. Zeitschriften, Bücher usw. Sehr wichtige Partner sind die öffentlichen Bibliotheken mit ihrem speziell auf Lerngruppen aller Schulstufen zugeschnittenen Angebot. Schulen mit dem Schwerpunkt Leseförderung nutzen das Know-how von außerschulischen Partnern.«

LISUM 2013, S. 13. – © Landesinstitut für Schule und Medien Berlin Brandenburg (LISUM), August 2013.

[27]2 Förderung der kognitiven Komponenten von Lesekompetenz – Leseflüssigkeit und Textverstehen
2.1 Leseflüssigkeit
Leseflüssigkeit: die Brücke zwischen Dekodieren und Textverstehen

Wenn die elementaren Lesefertigkeiten im Prozess des Schriftspracherwerbs erlernt wurden,6 geht es um die Automatisierung des Lesevorgangs durch die Ausbildung einer angemessenen Leseflüssigkeit; diese ist eine grundlegende Voraussetzung für Textverstehen und für Lesefreude. Nach Rosebrock & Nix, die insbesondere die angelsächsische Forschung und Praxis zu diesem Thema umfassend aufgearbeitet haben, beinhaltet Leseflüssigkeit vier Dimensionen: »auf der Wortebene Genauigkeit beim Dekodieren von Wörtern; die Automatisierung der Worterkennung; auf der Satzebene eine angemessen schnelle Lesegeschwindigkeit; die Fähigkeit zur sinngemäßen Sequenzierung der Sätze«, also zu einem ausdrucksstarken Vorlesen (Rosebrock & Nix 2017, S. 40).

Genauigkeit des Dekodierens bedeutet dabei nicht nur die exakte Entschlüsselung des Wortes, inklusive der ggf. notwendigen Korrektur von Verlesungen, sondern auch die Verknüpfung mit einer im Satzkontext angemessenen Bedeutung unter Rückgriff auf das eigene ›mentale Lexikon‹; beides sind elementare Voraussetzungen für das Verstehen des Gelesenen. Dieser Vorgang lässt sich gut bei Leseanfängern beobachten, wenn sie zunächst die einzelnen Buchstaben lautieren, z. B. »B – Aa – Uu – [28]M«, und dann plötzlich erkennen, dass hier das ihnen bekannte Wort »Baum« gemeint ist. Bei ungeübten Lesern kann man umgekehrt oft beobachten, dass sie die falsche Dekodierung eines Wortes – in diesem Beispiel etwa »Raum« statt »Baum« – selbst gar nicht bemerken und so auch nicht korrigieren können, weshalb sich ihnen der Sinn des Gelesenen nicht erschließt.

Mit der Automatisierung der Worterkennung ist der allmähliche Aufbau eines immer größeren ›Sichtwortschatzes‹ gemeint, so dass ein Wort nicht durch das mühsame lautliche Rekodieren der einzelnen Buchstaben erschlossen werden muss, wie oben am Beispiel »Baum« gezeigt, sondern auf einen Blick erfasst werden kann. (Vgl. zum sog. »Zwei-Wege-Modell des Lesens« sowie seiner Kritik Holle 2009, S. 109 ff. sowie Gold 2018.) Dieses automatische Erkennen einer wachsenden Zahl von Wörtern, die in Texten häufig vorkommen (insbesondere der sog. ›Funktionswörter‹), führt sowohl zu einer Erhöhung der Lesegeschwindigkeit als auch zur Entlastung des Arbeitsgedächtnisses, das seine Ressourcen nicht mehr oder kaum noch für das Dekodieren der einzelnen Wörter einsetzen muss und sich somit auf das Verstehen des Gelesenen konzentrieren kann. Es leuchtet ein, dass eine solche Automatisierung der elementaren Lesevorgänge nur durch konstantes Üben und Praktizieren zu erreichen ist, wie wir dies auch kennen vom Erlernen des Autofahrens, eines Musikinstrumentes oder einer Sportart. Auch hier kann man sich erst den anspruchsvolleren Herausforderungen zuwenden – bei Autofahren etwa der Aufmerksamkeit auf den Verkehr, die Verkehrsschilder oder der Unterhaltung mit den Mitfahrern –, wenn man die elementaren Prozesse (Gas geben, schalten, bremsen, lenken usw.) sicher beherrscht.

Die dritte wichtige Komponente der Leseflüssigkeit ist die Lesegeschwindigkeit. Sie ist am einfachsten zu erfassen, denn hier gilt die Maßeinheit WpM (gelesene Wörter pro Minute) [29]oder RWpM (Anzahl richtig gelesener Wörter pro Minute, vgl. Holle 2009, S. 147 ff.). Die (angelsächsische) Forschung geht davon aus, »dass das Lesetempo beim lauten Lesen gegen Ende der Grundschule dem normalen Sprechtempo gleichkommen und damit für geübte LeserInnen über 200 Wörter pro Minute betragen sollte.« (Holle 2009, S. 147) Wenn man allerdings in Rechnung stellt, dass die deutsche (Schrift-)Sprache aufgrund der häufigen Komposita viele lange Wörter enthält, sollte dieser Richtwert nach unten modifiziert werden; so sprechen Rosebrock & Nix als Richtwert von einer »Betriebsgeschwindigkeit« von etwa 150 Wörtern pro Minute bei Texten mittlerer Schwierigkeit« (Rosebrock & Nix 2017, S. 39) und weisen zugleich darauf hin, dass ein angemessenes Lesetempo auch von der jeweiligen Textschwierigkeit abhängt. Wichtig ist eine angemessene Lesegeschwindigkeit vor allem als Grundlage für das Textverstehen: Das menschliche Arbeitsgedächtnis (also das Kurzzeit-Gedächtnis) kann Inhalte nur für kurze Zeit speichern (etwa für 2 Sekunden, vgl. Hunziker 2006); darum haben Leseanfänger und nicht-flüssige Leser*innen oftmals den Satzanfang bereits vergessen, wenn sie am Ende angekommen sind, so dass das Verstehen des Gelesenen nicht stattfinden kann.

Eine sinngemäße Sequenzierung des Satzes ist die Grundlage für ein ausdrucksstarkes Vorlesen und dieses bildet wiederum die Voraussetzung für das Verstehen. »Beim angemessenen Vorlesen wird der Satz schon während der Lektüre in zusammengehörige sinnvolle Teilabschnitte gegliedert, mit einer sinnvollen Betonung, Intonation, Pausengestaltung und einem angemessenen Rhythmus wird das Gelesene sinnhaft strukturiert.« (Rosebrock & Nix 2017, S. 39) Umgekehrt ist dies oft eine entscheidende Hürde für ungeübte Leser*innen, die den Zugang zum Verstehen blockiert; von ihnen werden oft Satzteile zusammengefügt, die syntaktisch oder semantisch nicht zusammengehören, Satzzeichen überlesen und [30]Ähnliches. Die syntaktisch und semantisch angemessene Sequenzierung insbesondere von komplexen Satzgefügen (die in der deutschen Schriftsprache häufig anzutreffen sind) ist darum vielleicht die anspruchsvollste Teilleistung beim Erwerb von Leseflüssigkeit.

Leseflüssigkeit gilt in der angelsächsischen Forschung als »Brücke« zwischen Dekodieren und Textverstehen, also zwischen dem mühsamen Erlesen einzelner Buchstaben, Silben und Worte und dem inhaltlichen Verstehen des Gelesenen; Letzteres – die (Re-)Konstruktion der Bedeutung des Gelesenen – wird erst gelingen, wenn nicht mehr die gesamte kognitive Aufmerksamkeit für das Entziffern von Buchstaben und Worten aufgewendet werden muss. Das wird aber erst dann der Fall sein, wenn die von Rosebrock & Nix beschriebenen basalen Lesefertigkeiten durch häufige Praxis automatisiert wurden, wenn also ein gewisser Grad an Leseflüssigkeit (»reading fluency«) erworben wurde. Während man in den USA auf der Basis zahlreicher Untersuchungen seit langem um die elementare Bedeutung dieses Bindeglieds zwischen Dekodieren und Textverstehen weiß, wurde in der deutschsprachigen Lesedidaktik dieser Entwicklungsschritt lange Zeit vernachlässigt; erst in den letzten Jahren findet er zunehmend Beachtung. Inzwischen gilt als gut belegt, dass erst eine angemessene Automatisierung der elementaren Lesefertigkeiten das Arbeitsgedächtnis des Lesers so weit entlastet, dass es für höhere Verstehensleistungen verfügbar ist.

Allerdings ist eine angemessene Leseflüssigkeit nur durch konstante Übung zu erwerben – ähnlich wie beim Erlernen des Autofahrens, einer Sportart oder eines Musikinstruments. Wenn ein solches Üben nicht mehr automatisch durch extensives und lustorientiertes Freizeitlesen geschieht, ist die Gefahr groß, dass die ungeübten Leser*innen auf einem niedrigen Niveau ihrer Lesefertigkeiten stagnieren und gar nicht die [31]Voraussetzungen erwerben, um Lesen als eine lustvolle Tätigkeit zu erfahren. Darum ist es für die Förderung von Lesekompetenz und von Lesemotivation zentral, zunächst an dieser kognitiven Dimension anzusetzen und Leseflüssigkeit zu trainieren, damit die schwachen Leser*innen nicht aller weiteren Entwicklungschancen beraubt werden.

Training von Leseflüssigkeit ist wie Fußballtraining – ein Beispiel aus der Praxis

In dem Kölner Leseförderprojekt »kicken&lesen Köln« wird das wöchentliche Training von Leseflüssigkeit in Analogie zum wöchentlichen Fußballtraining den teilnehmenden Jungen (aus der 5. und 6. Klassenstufe) sinnfällig gemacht: Das »Tandem-Lesen« aus dem Repertoire der sog. »Lautleseverfahren« (s. u.) ist ein regelmäßiger Bestandteil der wöchentlichen 90-minütigen Arbeitsgemeinschaften. Die Jungen lernen dabei nicht nur ihre Lesegeschwindigkeit und Lesegenauigkeit zu erhöhen, sondern sollen zugleich erkennen, dass Lesen ebenso wenig eine mysteriöse Angelegenheit ist wie das Fußballspielen, sondern dass man durch »Training« auch hier seine eigenen Fähigkeiten gewaltig verbessern kann.

Zum Projekt insgesamt siehe: kickenundlesenkoeln.de; unter »Download« u. a. das Konzept des Projekts; zum Leseflüssigkeitstraining speziell: Reifenberg & Barnieske 2015.

[32]Wie lässt sich Leseflüssigkeit diagnostizieren?

Grundsätzlich kann man unterscheiden zwischen standardisierten Tests und eher informellen Verfahren einer formativen Lernstandsfeststellung, die sich beide ohne großen Aufwand im Unterricht einsetzen lassen. Unter den standardisierten Tests ist das »Salzburger Lesescreening« (SLS) der bekannteste; er lag zunächst in zwei Versionen für die Klassenstufen 1–4 und 5–8 vor, ist seit 2014 aber in einer neuen Version für die Klassenstufen 2–9 verfügbar (Mayringer & Wimmer 2014). Das »SLS 2–9« ist ein Screeningverfahren, mit dem die basale Lesefertigkeit von Schüler*innen, ermittelt durch die Lesegeschwindigkeit, erfasst werden soll. Aus den Ergebnissen können Hinweise auf einen Förderbedarf einzelner Kinder abgeleitet werden. Darüber hinaus kann mit dem sehr ökonomischen Verfahren das Leseniveau von ganzen Klassen ermittelt werden, indem man den Leistungsstand einer Klasse relativ zur Norm der Altersstufe betrachtet. Normen liegen für Schüler aller Klassenstufen (in verschiedenen Schulformen) vor. Mehrsprachigkeit wird nicht berücksichtigt. Das SLS ist sowohl als Einzel- als auch als Gruppentest durchführbar.

Beim SLS handelt es sich um einen Geschwindigkeitstest, bei dem die Kinder innerhalb der vorgegebenen Zeit von drei Minuten so viele Aussagen wie möglich auf ihren Wahrheitsgehalt hin überprüfen sollen. Hinter jedem Satz müssen die Kinder entweder ein Häkchen für die Aussage »Der Satz ist wahr« oder ein Kreuz für die Aussage »Der Satz ist falsch« einkreisen. Nach drei Minuten endet die Testzeit. Der Test kann mit Hilfe einer Schablone sehr einfach ausgewertet werden und ergibt den sog. Lesequotienten, der Aufschluss gibt über die Lesefähigkeit des Kindes im Vergleich zur Normstichprobe. Der Test dauert in der Durchführung (einzeln oder im Klassenzimmer) nur ca. 15 Minuten, die Auswertung pro [33]Schüler*in ca. 1–2 Minuten. Der Test kann über die Hogrefe-Testzentrale bestellt werden, kostet jedoch einiges Geld. In Österreich wird er von Seiten des Ministeriums allen Schulen kostenlos zur Verfügung gestellt.

 

Wie das Salzburger Lesescreening funktioniert

Beispielsätze zur Instruktion der Schüler*innen vom Deckblatt des Testbogens:

1 Während der Sommerferien ist schulfrei.  

2 Auf Kirschbäumen wachsen Kichererbsen.  

3 Hunde und Katzen gehören zur Familie der Fische.  

4 Mit Turnschuhen kann man besser laufen als mit Gummistiefeln.  

Nach einem ähnlichen Prinzip funktioniert der Stolperwörter-Lesetest von Wilfried Metze für die Klassenstufen 2–4, der kostenlos im Internet verfügbar ist (www.wilfriedmetze.de/html/stolper.html, Stand: 9.1.2020). Der Stolperwörterlesetest besteht aus 60 Sätzen, in denen jeweils ein Wort eingebaut ist, das nicht dorthin gehört. Dieses Stolperwort (oder auch Störer genannt) müssen die Schüler*innen durchstreichen und auf diese Weise in einer bestimmten Zeit so viele Sätze wie möglich bearbeiten. Die eingesetzten Stolperwörter passen vom Wortschatz her (semantisch) zum Satz, aber nicht vom Satzbau und der Grammatik. Gemessen werden somit die Lesegeschwindigkeit (Tempo und Genauigkeit) und das Verstehen auf Satzebene. (Beispiel: »Mein Freund ist acht jung Jahre alt.«)

Unter den formativen Verfahren sollen drei kurz beschrieben werden:

[34]Das Lautlesen beobachten: Lehrkräfte können anhand einer Checkliste das laute (Vor-)Lesen ihrer Schüler*innen kriteriengestützt beobachten:

Checkliste zur Einschätzung der Leseflüssigkeit

»Wenn Sie einem leseschwachen Schüler oder einer Schülerin beim Vorlesen zuhören, dann achten Sie bitte auf die folgenden Fragen: Worin zeigen sich die Probleme beim Flüssiglesen? Indem er oder sie …

 … viele Wörter nur sehr langsam dekodiert, also Buchstabe für Buchstabe erliest?

 … auf Hilfe von außen wartet, statt sich selbst anzustrengen, um sich unbekannte Wörter eigenständig zu erschließen?

 … die Bedeutung vieler Wörter nicht versteht?

 … in der Betonung des Gelesenen nicht auf die Interpunktion achtet?

 … das Verstehen während des Lesens nicht überprüft (z. B. Lesefehler nicht bemerkt und eigenständig verbessert)

 … versucht, möglichst schnell zu lesen, ohne Rücksicht auf die Bedeutungsbildung?

 … ängstlich und verschlossen reagiert auf die Aufforderung, laut vorzulesen?

 … deutlich besser liest, wenn er/sie einen Text zunächst leise lesen darf, bevor laut gelesen werden muss?«

Rosebrock et al. 2011, S. 83. – © 2011 Klett Kallmeyer Verlag, Seelze.

[35]Lautleseprotokolle erstellen: Hierbei liest ein Schüler oder eine Schülerin eine Minute lang einen altersangemessenen Text vor, die Lehrkraft stoppt die Zeit und macht sich auf einer Textkopie Notizen zu Einzeldimensionen der Leseflüssigkeit. Jedes falsch gelesene Wort wird beispielsweise unterstrichen, jedes stockend (d. h. unautomatisiert) gelesene Wort wird mit einem senkrechten Strich markiert, nach einer Minute wird dort ein Strich gemacht, bis wohin das Kind gelesen hat. Nun kann zunächst die Lesegeschwindigkeit (Wörter pro Minute) gezählt werden und in einem weiteren Schritt die Lesegenauigkeit ermittelt werden, indem die falsch gelesenen Wörter von der Gesamtzahl abgezogen werden, so dass die richtig gelesenen Worte pro Minute (RWpM) übrigbleiben. Setzt man beide Werte miteinander ins Verhältnis, lässt sich die Dekodiergenauigkeit ermitteln: »In der angloamerikanischen Forschung wird konstatiert, dass flüssige Leser mindestens eine Genauigkeit von 95 Prozent erzielen müssen. Mit einer Dekodiergenauigkeit von etwa 90 bis 94 Prozent ist der Schüler auf Hilfe angewiesen, um sich den Text noch erschließen zu können. Sinkt die Dekodiergenauigkeit unter 90 Prozent, bleibt der Text für den Leser in der Regel unverständlich.« (Krug & Nix 2017, S. 62) Dieses Verfahren ist sehr ökonomisch und kann im Unterrichtsalltag mit einzelnen Schüler*innen einfach durchgeführt werden, auch wiederholt für eine Verlaufsdiagnostik, zum Beispiel während Partner- oder Gruppenarbeitsphasen. Etwas komplexer ist eine Einschätzung der Betonungsfähigkeit beim lauten Lesen anhand von Checklisten, die auf Arbeiten von Pinnell und ihren amerikanischen Kolleg*innen zurückgehen (vgl. Rosebrock et al. 2011, S. 86 f.).

Lückentexte für die Gruppendiagnostik: Während die bisher vorgestellten informellen Verfahren der Individualdiagnostik dienen, lässt sich die Leseflüssigkeit der gesamten Klasse relativ unaufwändig mit Lückentexten ermitteln (alternativ zu den [36]teuren standardisierten Tests). Dazu erhalten alle Kinder einen kurzen Lesetext, bei dem einzelne Wörter fehlen. Um diese Lücke zu füllen, werden jeweils drei Alternativen im Text angegeben, von denen die Schüler*innen das im Kontext richtige Wort ankreuzen müssen; auf diese Weise wird sichergestellt, dass der gelesene Text auch verstanden wird. Auf ein Startzeichen hin beginnen alle Kinder zu lesen, während die Lehrkraft an der Tafel einen Zeitstrahl mit den vergangenen Sekunden aufmalt. Wenn ein Kind fertig ist, zeigt es auf und kann sofort erkennen, wie viel Zeit es gebraucht hat; dies wird auf seinem Blatt notiert. Anschließend wird in Partnerarbeit die Richtigkeit der Ankreuzungen überprüft, für Fehler gibt es Punktabzüge (zu den praktischen Details, Beispieltexten und Auswertungstabellen vgl. Rosebrock et al. 2011, S. 92 ff. und die dort beiliegende CD-ROM). Auf diese Weise können die Punktwerte und damit die Rangfolge für jeden einzelnen Schüler ermittelt werden, was vor allem für die Einteilung von Lese-Tandems (s. u.) wichtig ist, aber auch für die individuelle Fortschrittsdiagnostik der einzelnen Schüler*innen.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?