Paganini - Der Teufelsgeiger

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Der Vorsitzende erweckte Antonios Vertrauen. Seine Ideen begeisterten, seine Sprache war besonnen und seine Denkweise eher traditionsgebunden als revolutionär. Er sprach von ganz konkreten Problemen. Ständig steigenden Brückengeldern, Zöllen, Privilegien der Clans, von der Vielfalt der Währungen. Solange wir alles widerstandslos hinnehmen, kann nichts anders werden, sagte er und griff weit zurück in Italiens Geschichte. Antonio, der trotz bescheidener Herkunft ein wenig Bildung besaß, hatte den Eindruck, zum ersten Mal tiefgreifende Dinge über sein Land zu erfahren, über seine Menschen, über seine Leiden.

„In den kleinen Dingen offenbart sich das Unheil des ganzen Landes. Um sie müssen wir uns kümmern, die kleinen Wunden müssen wir heilen, um ein gesundes Ganzes zu schaffen. Nicht zupflastern, nicht übertünchen. Nein! Den Bazillus ausmerzen und etwas Neues gestalten. Unser Konzept ist ein unabhängiges, von fremder Herrschaft befreites Italien, wir streben eine politische und wirtschaftliche Einheit aller fortschrittlichen Staaten unserer Halbinsel an. Dieses Ziel soll uns leiten und in den kleinen Dingen unser Richtmaß sein. Schritt für Schritt voran und keinen einzigen Schritt zurück. Es ist an uns, die wir gebildet sind, dieses Ziel, diese Botschaft, unters Volk zu tragen, das kaum lesen und nicht schreiben kann.“ Ernst blickte der Redner in die Gesichter der Zuhörer. Der stattliche Mann mit der hohen Stirn, den strengen Augen und dem energischen Mund sprach aus, was Antonio dachte. Dieser Mann hatte eine sorgsame, friedvolle Veränderung im Auge. So jedenfalls fasste Antonio seine Sätze auf und voller Bewunderung blickte er hinauf zu dem stattlichen Herrn, dessen dichtes schwarzes Haar den Denkerschädel noch ganz bedeckte. Zwar war sein Kopf quadratisch und saß auf einem kurzen Hals, der durch die modische Halsbinde noch kürzer wirkte, aber daran störte sich Antonio nicht. Es gab wenige harmonisch aussehende Menschen. Sehr wenige. Man konnte sie an fünf Fingern abzählen.


„Niccolò lebt!“, brüllte er am frühen Morgen des nächsten Tages seinem Freund entgegen. Hier am Hafen entfaltete die Sonne ihre ganze Kraft und durchströmte die kalten Monate mit ihrer Wärme. Sie spiegelte sich im ­glitzernden Meer, in den feuchten Dohlen der Landungsstege, im schmutzi­gen Weiß der niedrigen Gebäude. Antonio sprang über ein Fass und landete direkt vor Giorgios Nase. Beinahe hätte er ihn umgeworfen. Er war bester Laune, was man von Giorgio hingegen nicht behaupten konnte.

„Che merda!“, entfuhr es ihm gegen seinen Willen.

„Was soll das heißen? Wolltest du etwa Niccolòs Tod? Ich dachte immer, du magst ihn, du falscher Hund.“ Zornig funkelten seine dunklen Augen.

„Es tut mir leid, Antonio. Natürlich mag ich ihn und er mag die Musik wie ich. Und niemals will oder wollte ich seinen Tod. Ich hab nur so reagiert, weil ich dem Kerl die Kistenverschiffung schon zugesagt habe, denn ich dachte, du brauchst Geld für die Beerdigung.“

Antonio stürzte sich auf Giorgio, packte die öligen Zipfel seines Hemdkragens, schrie:

„Du miese Ratte! Du geldgieriger Genueser! In Wahrheit wäre dir Niccolòs Tod sehr gelegen gekommen. Aber ich sag dir: So oder so gebe ich mich für keine krummen Sachen her.“

„Sie ist sicherlich nicht krummer als dein geheimer Musikhandel. Was du aus Cremona mitbringst und hier nachts zollfrei verschiffst, ist kein Käse, mein Alter! Ich weiß, was für herrliche Instrumente übers Wasser gehen und welche Summen in deinen Geldbeutel. Warum solltest du Buonarotti und Italien nicht auch mal einen Gefallen tun?“

„Buonarotti?“ Jählings ließ Antonio den Kameraden los und riss erstaunt die Augen auf.

„Kennst du ihn etwa?“

„Irgendwie schon. Ich hab ihn auf der Versammlung gesehen.“

„Was für eine Versammlung?“

Und Antonio erzählte seinem Freund von Buonarotti. Aber es irritierte ihn, den korrekten Mann mit verbotenen Geschäften in Verbindung zu bringen.

„Ascolta, amico! Manch hehres Ziel erreicht man nur auf Schleichwegen.“

„Und die Schleichwege sind oft mit Leichen gepflastert. Solche Schweinereien kommen im Musikhandel nicht vor, ob geheim oder offiziell.“ Jetzt grinste Antonio, was seinem von Natur aus finsteren Gesicht etwas Fratzenhaftes gab. Freundliche Regungen waren ihm fremd. Die beiden Männer wurden sich einig und in der kommenden Nacht beluden Antonio, Giorgio sowie ein taubstummer Hafenarbeiter einen Dampfer nach Neapel. Der Taubstumme erhielt ein paar Scudi Zuschuss, damit er die Kisten begleitete und am Bestimmungshafen an den Verbindungsmann weiterleitete.

Auf dem Nachhauseweg grübelte Antonio darüber, was wohl in den Kisten sein mochte. Seine Ohren dröhnten noch von Giorgios Gefasel, man müsse furchtlose Anhänger für die gute Sache finden, sonst verlaufe sie im Sande. Überall gab es unzufriedene Bauern, auf denen eine hohe Fron lastete, Handwerker und Tagelöhner, die am Hungertuch nagten, Bettler und Diebe, denen die grausamsten Strafen drohten, vor allem in Neapel und Palermo, aber auch in den Kirchenstaaten. Sie müsse man gewinnen und kampffähig machen. Vermutlich verbargen die Kisten den Schlüssel zum Erfolg. Antonio vermutete Waffen und Pamphlete. In ihm regte sich das schlechte Gewissen, etwas Ungesetzliches getan zu haben, darum versuchte er, zu vergessen und wollte auch nicht mehr wissen, was in den Kisten war.

In der heimischen Gasse angekommen, atmete er tief durch, bevor er ins stinkende Treppenhaus trat, übersah die drei fetten Ratten am Eingang und nahm dann zwei Stufen auf einmal. Leise drehte er den Türknopf der Wohnungstür. Teresa schlief noch und vom Matratzenlager, auf dem sich alle Kinder drängten, nahm er gleichmäßige Atemzüge wahr. Der enge Raum war von seiner Schlafkammer nur durch einen zipfeligen Vorhang getrennt. Er schob ihn zur Seite und suchte mit den Augen Niccolò. Der Junge schlief an der Wandseite, die beiden Schwestern in der Mitte, flankiert von Bruder Carlo. Niccolòs Gesicht war zum Fenster gerichtet und so konnte Antonio ihn nicht betrachten, er hätte sonst über die Kinder steigen müssen. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass es dem Jungen wieder besser ging.

3

Genua 1789

Interessiert betrachtete Niccolò die Mandoline, die auf der Kommode ruhte. Sie gefiel ihm besser als die anderen Instrumente, die sein Vater vom Hafen mitbrachte. Im Porto Franco hatte der pfiffige Antonio schon eine Flöte, zwei Gitarren aus Spanien und eine Querflöte erstanden. Neulich war er mit dieser neapolitanischen Mandoline nach Hause gekommen. Sämtliche Instrumente wurden zuerst von ihm auf ihren Zustand überprüft, dann poliert, ausprobiert und schließlich gehortet, bis sich ein Käufer fand, der gut zahlte. In der Zeit fand Niccolò Gelegenheit, die Instrumente in Ruhe zu betrachten, sie auch zu betasten. Sein Vater schimpfte nie, wenn er behutsam über die Flöte oder die Zupfinstrumente strich. Der sonst so strenge Mann blickte aufmunternd. Die Mandoline hatte es Niccolò besonders angetan. Sie lag zum Greifen nah und in ihrem schimmernden Holz meinte er ein Lächeln zu sehen, als bitte sie darum, von ihm berührt zu werden. Er nahm sie vorsichtig in die Hand, schaute sie liebevoll an, blies in ihren Bauch und lauschte. Er zupfte geschickt, als wäre sie ihm schon lange vertraut, und entlockte ihr klare, volle Töne. Antonio kam ins Grübeln. Vielleicht sollte er die Stunden, die er in langweiligen Versammlungen zubrachte, lieber dem kleinen Niccolò widmen. Das Kerlchen hatte ohnehin nicht das Zeug zum kräftigen Gassenbuben.

„Du zupfst ganz ordentlich, mein Sohn“, sagte er eines Tages zu ihm. „Willst du dich nicht an einem Lied versuchen, anstatt so kreuz und quer zu zupfen?“

Niccolò probierte eines der italienischen Volkslieder aus, die seine Mutter den Kindern vorsang. Der Vater brummte.

„Das scheint noch nicht hinzuhauen. Ich will dir beibringen, die Töne zu finden!“

Und so ging für Niccolò die spielerische Zweisamkeit mit der Mandoline zu Ende. Es begannen die ersten ernsten Musikstunden.


Drei Jahre waren seit Niccolòs schwerer Krankheit vergangen. In dieser Zeit hatte Antonio mehrmals geholfen, Holzkisten nach Palermo und Neapel zu verschiffen, und die Versammlungen besucht. Sein Freund Giorgio war ein begeisterter Anhänger Buonarottis geworden. Hatten ihn seine Ideen anfangs fasziniert, so verteidigte er sie mittlerweile sogar fanatisch, indessen Antonio die Sache mit steigerndem Argwohn verfolgte. Inzwischen wusste er nämlich, dass die geheimnisvollen Kisten aufwieglerische Schriften enthielten, die das geknechtete Volk Süditaliens aufklären und auf den Kampf vorbereiten sollten. Buonarotti wurde seit einiger Zeit von der toskanischen Polizei überwacht, weil er in seiner jüngst gegründeten Zeitschrift gegen Großherzog Leopold polemisierte. Darin schimpfte er ihn einen Lügner und Heuchler, der mit vagen Reformen sein Volk an der Nase herumführe. Antonio schwoll der Kamm und er machte sich rar bei den Versammlungen. Er nahm es Buonarotti übel, dem reformbereiten Großherzog in den Rücken zu fallen. Er nahm es ihm übel, nach dem blutrünstigen Frankreich zu schielen. Was ging in seinem Denkerschädel vor? War er gespalten?

„Sie sind alle gleich. Der Mensch ist Mensch, solange er nicht nach der Macht schielt. Einmal auf dem Thron, benimmt er sich wie der, den er vom Thron stieß. So ist es, mein Niccolò!“

Der Junge hörte mit seinen Übungen auf und sah den Vater ehrfürchtig an. Seine großen dunklen Augen blickten traurig, das Gesicht war trotz seiner olivenfarbenen Tönung bleich, was durch die schwarzen Locken noch verstärkt wurde.

 

„Ich habe dir nicht erlaubt, die Übungen zu unterlassen!“, herrschte der Vater den Kleinen an, der daraufhin zusammenzuckte. „Mach weiter, immer weiter! Übe, bis sich eine zentimeterdicke Hornschicht auf deinen Fingerkuppen bildet. Du zeigst mir jeden Tag deine Finger und wehe, die Hornhaut bildet sich nicht.“ Er hob die flache Hand gegen ihn. Niccolò duckte sich und zupfte fleißig weiter.

An die Wand des einzigen ordentlichen Zimmers gelehnt, die Hände in den Hosentaschen, beobachtete Vater Paganini den Jungen. Er zupft wie der Teufel, dachte er. Klangvoll, flink, exakt. Maria benedetta, das ist gut so, denn was soll aus dem schmächtigen Kerlchen auch werden, wenn nicht ein Musikus? Lasten kann er nicht schleppen, Kisten nicht verladen, aber Geld muss er verdienen. Am besten so schnell wie möglich, damit noch einiges in meine Tasche wandert.

Niccolò übte täglich viele Stunden, auch an diesem Sonntag, an dem er sich nachts fiebrig gefühlt hatte und nach der Morgentoilette von der Mutter wieder ins Bett zurückgeschickt worden war. Antonio prüfte Zunge und Puls des Jungen, fand nichts Beunruhigendes und jagte ihn aus den Federn.

„Siehst du nicht sein scheckiges Gesicht, Marito? Lass das Kind, es braucht Ruhe!“

„Nichts da! Er hat zu lange herumgelegen. Davon ist er scheckig.“ Sein flammender Blick zuckte von Teresa zu Niccolò. „Du übst, bis ich zurückkomme, hai capito? Jeder Bettler in Italien kann die Mandoline handhaben, aber du sollst sie spielen wie kein anderer. Ich befehle es, und wehe, du spielst stattdessen den Kranken.“

Er schlug die Tür hinter sich zu und beschloss, den Tag zu genießen, fern von Kindern und Ehefrau. Es war Spätsommer 1789, die Sonne stand hoch am Himmel, der Wind lag träge in den Winkeln oder schlummerte auf der schimmernden Decke des Meeres. Bei diesem Wetter strebte Antonio nicht sofort zum Hafen. Gemächlich schlenderte er über die Via Dante, streifte durch die verwinkelten Gassen, in denen Menschen so dicht aufeinander hausten wie Ratten. In fast alle Häuser, so finster und schmierig sie auch aussahen, war eine Marien­skulptur gemeißelt. Erhaben, doch blind sah sie auf das Elend zu ihren Füßen herab. Vor der Chiesa Santa Maria Maddalena machte Antonio kurz Halt, lüftete die Mütze und stapfte sogleich weiter durch die Vico della Maddalena, über die Vico del Tempo Buono, von wo aus er die Strada Nuova erreichte. Der Unterschied sprang ihm heute deutlicher als sonst ins Gesicht. Er wollte sich die Laune nicht ganz verderben lassen, weshalb er arrogant durch die Straße der Paläste schritt und vor jeder reichen Pforte ausspuckte. War er auch kein Revolutionär, so wünschte er dem hoffärtigen Gesindel dennoch die Krätze an den Hals. „Pack!“, schimpfte er und stieß mit dem Fuß gegen eine Statue am Eingang eines Palastes. „Ihr seid schlimmer als die Österreicher!“ Ein Wachposten näherte sich drohend. Antonio entwischte durch die Via San Siro. Plötzlich hatte er es eilig, das Viertel der Wohlhabenden zu verlassen. Er überquerte eine Piazza, begrüßte da und dort einen Bekannten, der vor einem heruntergekommenen Hauseingang döste, und gelangte endlich ins Hafengelände. Heute erwartete ihn nicht der Hafenkapitän, bei dem er sich von Dienstag bis Samstag allmorgendlich zum Entladen und Packen der Schiffsladungen melden musste. Offiziell war er ein Ligaballe, ein Packer am Hafen, inoffiziell galt er als Suonatore, als Musikant.

Die Hände in den Hosentaschen peilte er einen Schlupfwinkel des Hafens an. Dort erwartete ihn eine Bande bärtiger Gesellen zum Mora-Spiel. Dieses Glückspiel verlangte nichts weiter als zehn Finger und deren glückliche Anwendung. Man spielte es zu zweit. Einer der beiden Spieler nannte eine Zahl und bezeichnete mit den Fingern, welchen Teil er davon haben wollte. Gleichzeitig musste der andere, ohne die Hand des ersten zu sehen, so viele Finger zeigen, dass die anfangs genannte Zahl voll wurde. Natürlich spielte man nicht umsonst. Antonio war gefürchtet, denn oft gewann er seine kostspieligen Einsätze doppelt und dreifach zurück. Er hatte Glück im Spiel, verstand sich aufs Handeln und er vertraute auf das Talent der Paganinis sowie den guten Riecher des Genuesers. An diesem Sonntagabend kam er sehr spät, aber mit vollen Taschen nach Hause. Er brannte darauf, seinen Erfolg vor der ganzen Familie wie einen Sieg hinauszuposaunen und war gleichzeitig auf die Fortschritte seines Sohnes gespannt.

Doch der Junge lag vermummt im Bett. Über ihn beugte sich Dottore Gambaro, am Fußende stand klagend Teresa, die weinende einjährige Paola auf dem Arm. Ein grässlicher Gestank nach Erbrochenem und Urin schlug dem Hausvater entgegen und er hatte gute Lust, zum Hafen zurückzukehren.

„Scarlatina!“, diagnostizierte der Arzt.

„Kenn ich nicht!“, antwortete Antonio mürrisch.

„Scarlatina verdankt ihren Namen dem kräftigen roten Hautausschlag, den sie hervorbringt. Das Fieber steigt auf 39 Grad, die Nase läuft und entzündet sich, kleine Punkte sprießen, die dann zu großen Flecken zusammenfließen.“

„Flecken! Flecken! Flecken!“, spie Antonio aus. „Warum hat der Kerl ständig Flecken? Liegt das an unserer Gegend? Anlage kann es nicht sein. Ich hatte nie Flecken und Teresa bekam sie erst nach dem zweiten Kind.“

Gambaro erklärte, dass die Flecken eine harmlose Nebenerscheinung des eigentlichen Übels seien.

„Bedenklicher ist die Rachenschleimhaut. Sie wird stark in Mitleidenschaft gezogen und die katarrhalen Symptome, die das Ausschlagfieber begleiten, wirken sich verheerend auf die Bronchien aus.

„Hören Sie mit Ihrem Latein auf und reden Sie Italienisch!“

„Madre mia!“, schimpfte der Dottore. „Der Junge wird vermutlich Zeit seines Lebens schwach auf der Brust sein, weil der Husten, la tossa ripetitiva, seine Lungen angreift und seine ewige Rotznase den Schleimhäuten den Garaus macht. Er braucht Wärme und frische Luft. Hier jedoch, in dieser klammen Bude, die trotz des trockenen Sommers wie ein Kellerloch muffelt und stinkt, wird er nicht genesen.“ Er fasste sich an die Gurgel, als wolle er ersticken.

„Was soll ich also tun, Sie Besserwisser?“

„Mieten Sie eine Sänfte, packen Sie ihn warm ein und lassen Sie ihn in Genuas schönster Bucht Boccadasse herumtragen.“

Antonio starrte sekundenlang betäubt auf Gambaro und brach dann in ein so irres Gelächter aus, als habe er einen Harlekin vor sich. Verwirrt wich Teresa zurück.

„Ich habe vier Kinder zu ernähren und drei Bestattungen bezahlt. Glauben Sie, ich bin ein Goldesel?“

„Ob Sie ein Esel sind, sei dahin gestellt. Jedenfalls lassen Sie keine Gelegenheit aus, Ihre Taschen zu füllen. Hier!“, er deutete auf die Mandoline, „warum haben Sie das edle Stück aus Neapel noch nicht zu einem horrenden Preis verkauft? Das Mandolinenspiel ist noch immer sehr beliebt.“

„Sie ist für Niccolò. Er soll Musikant werden.“

Dottore Gambaro nahm seinen Hut. Er wiederholte, an Teresa gerichtet, die Dosis der einzunehmenden Medizin und blieb beim Hinausgehen vor Signore Paganini stehen.

„Die Medizin allein reicht nicht aus. Sollten Sie meinen Ratschlag nicht befolgen, wird Niccolò kein Musikant, weil ihm dazu keine Zeit bleibt.“ Gambaro setzte den Hut auf und wandte sich ab.

„Schwarzseher!“, nuschelte Antonio. Gambaro drehte sich um.

„Nicht ich! Sie sind es. Deshalb kommen Sie auch nicht mehr zu unseren Versammlungen. Sie glauben, die Republik Genua sei eingerostet. Sie glauben, sie bewege sich nicht nach vorn. Vielleicht nicht einmal nach hinten. Einfach gar nicht mehr. Sie täuschen sich, lieber Signore!“


Ich kann sehen, aber die Sonne sticht in meine Augen. Silbrig glänzende Weingärten ziehen sich den Hang hinab zu einer verfallenen Kapelle. Von hier aus sieht sie aus wie ein Spielzeug. Sie ist nicht größer als meine Hand und doch steht sie wie eine Königin auf der Klippe. Einsam und erhaben. Dahinter liegt das Meer, tiefblau, schäumend und kraftvoll. Wenn das Meer ausatmet, tanzen die Wellen in ihren weißen Röcken, wenn es einatmet, rollen sie sich wie Schnecken zusammen. Ich versuche, so zu atmen wie das Meer. Vater hat gesagt: „Nimm beim Einatmen die Weite des Meeres und des Himmels in dir auf, atmest du aus, stoße das Meer mit deinem Atem bis zum Horizont.“ Das ist leichter gesagt als getan, außerdem stört mich Vaters Mandolinenspiel. Gemütlich lehnt er an der verwitterten Mauer eines zerfallenen Steinhauses und zupft Mandoline. Zu den herrschaftlichen Häusern, die die Anhöhen der Bucht schmücken, passt das zerschossene Gebäude nicht, aber vermutlich war es einmal ein Schloss oder ein Teil davon und soll uns an Genuas Kriege erinnern. Ich sitze in einen Mantel gehüllt neben ihm, die Sonne wärmt mein Gesicht, meinen Kopf, meine Brust. Immer wieder muss ich husten. Vater glaubt, es ist die frische Luft, die meine Lungen reizt und reinigt. Ich aber glaube, es sind die unreinen Töne der Mandoline. Vater sagt: „Hör gut zu Niccolò, so freundlich bin ich nicht alle Tage. Sobald du gesund bist, wirst du wieder viele Stunden täglich üben, und dann spielst du so. Schau auf meine Hände. Hörst du nicht, Niccolò? So spielst du. Genau so!“

Und er zupft, wie eine Katze ihr Fell zupft. Er rupft an den Saiten wie Mama das Huhn am Samstag rupft. Er reißt an der Saite wie Paola an ihrem Haar reißt, wenn sie Flöhe hat.

„Hörst du, Niccolò?“, fragt er grimmig. Oh ja ich höre sehr wohl und sehr gut. Ich habe kein unharmonisches Ohr wie Sie, böser Padre! Und ängstlich sehe ich zu ihm hoch. Ich kneife die Augen zusammen, und er denkt, ich tue es, weil ich ihn fürchte. Aber es ist die Sonne, die meine Augen blendet.

„Hörst du, kleiner, nichtsnutziger Kerl, was dein Vater sagt?“

Ich nicke und er meint, ich sei einverstanden, aber ich denke ganz fest, dass ich nie so zupfen und nie so spielen werde wie Vater, weil ich nicht so spielen und zupfen kann. Niemals! Dieses Instrument, diese Mandoline ist doch kein Acker, auf dem man pflügt, keine Straße, auf der Kutschen fahren, aber vielleicht ist es ein Meer, in dem Tiere schwimmen und das durch eine leise Bewegung des Windes aufgewühlt wird.

4

Ein Jahr später ergatterte Antonio am Porto Franco eine Violine. Es war kein wertvolles Instrument, nicht stark im Holz und sehr im Klang beeinträchtigt. Niccolò musste sie vorerst genügen, denn der Vater wünschte dringend, dass sein Sohn die Mandoline gegen ein höheres Instrument eintauschte. Das Mandolinenspiel galt nicht mehr viel, jeder Hanswurst in Genua verstand sie, die wie eine Gitarre mit sechs Saiten bespannt war, zu handhaben. Niccolò war kein Hanswurst, ließen seine langen Gliedmaße auch an eine Marionette denken. Niccolò war der Sohn des Francesco Antonio Paganini und der einfältigen Maria Teresa Paganini, die den blassen Jungen mit Liebe und Volksliedern fütterte. Die sorglos dahin geträllerten Volkslieder der Mutter spielte Niccolò mittlerweile fehlerfrei, ja, er hatte sie im Handumdrehen erweitert, sie mit Trillern ausgeschmückt und durch Ritornelle verlängert. Antonio sah sich als waschechter Genueser veranlasst, noch mehr Geld in diesen Jungen zu stecken. Die Anlage schien gewinnträchtig, deshalb musste er aus dem Kerlchen so schnell wie möglich Können und Talent herauspeitschen. Wunderkinder fallen vermutlich vom Himmel, aber wird der ungewöhnliche Stern nicht gefeilt, poliert und notfalls zurechtgehauen, erlischt sein Strahlen. So dachte Antonio und entwickelte ein Dragonerrezept: Täglich sechs Stunden Violinunterricht. Vorbei die unnötigen Spaziergänge in der Bucht, keine sinnlosen Spiele in der schmutzigen Passo del Gatto mit nichtsnutzigen Gassenbuben und sehr sparsame Liebkosungen von Seiten der stupiden Mutter.

„Du überforderst das Kind, Antonio. Es wird wieder krank werden und womöglich sterben.“

„Sei still, dummes Weib! Krank wird er in der verseuchten Gasse, wenn er sich mit liderlichen Spitzbuben herumtreibt.“

„Niccolò mag keine Spitzbuben.“

„Und eines sage ich dir: Wird er nicht Musikant, so wird er Bettler. Dann ist es schon besser, er stirbt in jungen Jahren!“

Teresa wand sich entsetzt von ihm ab. Solange es sich um seine Einsätze handelte, kannte Antonio keine Gnade. Und auf Niccolò setzte er nicht nur Geld, sondern auch seine Zeit, seine Energie und sein Können.


In den kommenden Monaten lernte Niccolo eifrig und wagte er es, Müdigkeit zu zeigen, strich ihm der Vater das Mittagessen. Der Alte kannte kein Mitleid, denn er unterstellte dem Knaben eine zähe Natur. Zweimal hatte er den Tod von der Bettkante gewiesen. Der schmächtige Kleine trotzte den porösen Wänden, aus denen feuchte Blasen drangen und Schimmel bildeten, er trotzte den sonnenarmen, stickigen Räumen und dem Gestank des osmanischen Klos im Treppenhaus, der das gesamte Haus verpestete. Tapfer absolvierte er ein klägliches Pensum an Schulstunden, um Schreiben, Lesen und Rechnen zu können, lernte dabei etwas über die Geschichte seines Landes und erfuhr von seinem Lehrer, einem Freund des Dottore, dass nicht nur in Genua italienisch gesprochen wurde, sondern auch in den Kirchenstaaten, in den Herzogtümern Toskana und Parma, im Königreich Sizilien, auch in der Republik Venedig. Dieser Lehrer verriet Niccolò auch, warum die Straßen in allen Teilen des großen Landes schlecht waren, überall Räuberbanden lauerten und es schlimmste Armut, Dreck und Gleichgültigkeit gab. „Weil die Österreicher und andere Eroberer überall ihre Finger drin haben“, erklärte der Erzieher. Den Jungen kümmerte dies nicht. Er freute sich auf das Ende des Unterrichts und das Spiel auf seiner Geige. Er übte mit feurigem Ernst, dennoch ließ er ab und zu die Geige ermattet sinken. Sieben bis acht Stunden täglich erschöpften ihn. Manchmal war er so schwach und taumelig, dass er schwankte. Sein Vater kannte kein Mitleid. Er zog ihm die Ohren lang, bis der Kleine aufschrie und wieder kerzengerade stand.

 

„Wie oft hast du die Etude vom Blatt gespielt?“

„Fünf Mal, Padre!“

„Was höre ich?“ Er schlug dem Jungen ins Gesicht. „Das ist zu wenig.“ Er schlug ein zweites Mal, weil Niccolò die Ohrfeige reglos hinnahm. „Gib zu, dass es zu wenig ist. Hörst du nicht? Bist du taub?“

Zögernd schüttelte Niccolò den Kopf. Die Geige hing plötzlich an seinem Arm, als sei sie zentnerschwer. Der Bogen glitt ihm fast aus der Hand. Der Vater schlug ein drittes Mal zu.

„Natürlich bist du taub. Ich hab dir unzählige Male befohlen, sie so lange zu spielen, bis du sie aus dem Effeff beherrschst.“

„Das habe ich getan, Padre.“ Der Junge duckte sich, denn drohend schwebte die Hand des Vaters über ihm.

„Und die Tonleiter? Hast du sie gespielt?“

„Auf jeder Saite habe ich sie gespielt, Padre!“ Wohlweislich bedeckte Niccolò seine Wange.

„Wie oft auf jeder Saite?“

„Zehnmal, Padre!“

„Die Etude von Tartini hast du fünfmal gespielt und die Tonleiter zehnmal auf einer Saite, ja?“

„Genau, Padre!“ Niccolò reckte sich vorsichtig. Er war mit sich zufrieden. Nicht so der Vater. Seine Augen traten aus ihren Höhlen.

„Du wagst es, mir Unfug zu erzählen?“

„Ich habe gespielt, bis ich sie beherrschte, Padre! Genau wie Sie mir befohlen haben.“

„Du lügst!“, schrie der Alte und schlug Niccolò auf den Kopf.

„Du behauptest also, du könntest diese schwierige Übung nach so kurzer Zeit fehlerlos spielen? Behauptest du das?“

Niccolò nickte sehr zaghaft, nicht ohne dabei seinen Kopf mit der Hand, die den Bogen hielt, zu schützen.

„Zeig es!“

Zitternd schob Niccolò die Geige unters Kinn und setzte ganz langsam den Bogen an.

„Beeile dich, du Nichtsnutz!“ Antonio zerrte an ihm herum. „Los, los, mach endlich. Zeig es mir, du Lügner!“

Und Niccolò spielte die Etüde von Tartini so langsam, als wolle er jeden Ton auskosten. Er spielte sie fehlerlos, hätte sie gerne ausgeschmückt, traute sich aber nicht. Der strenge Ausdruck im Gesicht des Vaters milderte sich nur wenig. Ein höhnisches Grinsen flackerte in seinen Augen.

„Das ist nicht schlecht. Aber ich wünsche sie schneller, du kleiner Schwindler. Und das wirst du nicht können, weil du zu wenig geübt hast. Wer mit so dünnen Fingern nur fünfmal diese Etude spielt, kann sie noch lange nicht, selbst wenn er begabt ist. Du bist ein Besserwisser und Aufschneider.“

Niccolò spielte sie etwas schneller. Die Miene des Vaters verzog sich kaum. Er spielte sie noch schneller. Die Augen des Vaters traten nicht mehr hervor, aber weiteten sich, und im Moment, als Niccolò sie so emsig intonierte, dass Antonios träge Augen den flinken Fingern kaum folgen konnten und der Junge ans Ende der Etude einen blitzschnellen Lauf der chromatischen Tonleiter setzte, sperrte der Vater auch den Mund auf.

„Wie alt bist du, verdammt noch mal?“

„Verzeihen Sie, Padre, aber ich weiß es nicht mehr. Ich kann es mir nicht merken, weil wir die Geburtstage nicht feiern.“

„Wozu soll ich den Geburtstag eines Taugenichts feiern?“

Niccolò sah ängstlich zu seinem Vater hoch. Die zusammengepressten Lippen und der drohende Blick verliehen diesem etwas Furchterregendes. Wie um ihn gnädig zu stimmen, spielte Niccolò nun mehrere Tonleitern, einmal von der G-Saite, einmal von der E-Saite ausgehend, aber verzierte sie mit Trillern. Die Töne waren lupenrein und klangen harmonisch. Signore Paganini ließ Milde walten, denn in seinem Kopf arbeitete es. Der Genueser rechnete. Er kalkulierte, überschlug, addierte und zog ab. Als die Kasse in seinem Kopf klingelte entspannte sich sein Gesicht und er sagte:

„Was sich bezahlt macht, sollte gefeiert werden. Wann ist dein nächster Geburtstag?“

„Im Herbst, Padre!“

„Im Herbst, im Herbst“, schrie Antonio, „was für eine Antwort! Jetzt haben wir November und es ist immer noch Herbst. Wann im Herbst?“

„Es ist noch nicht sehr kalt, aber auch nicht mehr so warm und die Blätter fallen von den Bäumen. Der Himmel ist grau und in der Wohnung muss man heizen.“

„Dummes Geschwätz!“, brummte der Vater. Dann hob er die Stimme und brüllte: „Signora Paganini? Weib, komme es auf der Stelle!“

Teresa erschien in einem grauen Tageskleid. Wie üblich hing Paola an ihrem Rockzipfel. „Was wünscht Signore Paganini von seinem Weib?“

„Wann kam dieser Lümmel zur Welt?“

„Im Herbst vor …“, sie zählte an ihren Fingern ab, murmelte die Zahlen und fuhr fort,“ … vor acht Jahren.“

„Das heißt, der Junge ist heute acht Jahre alt?“

Teresa nickte und schickte sich an, hinauszugehen.

„An welchem Tag im Herbst ist der Kerl geboren?“

Nun schaute Teresa betreten. Antonio sah, wie es in ihrem Kopf arbeitete.

„Ich vergesse die Zahl immer wieder, weil wir seinen Geburtstag nicht feiern.“

„Geht mir zum Teufel mit eurem Geburtstagsfeiern. Bin ich ein Goldesel? Ich will verdammt noch mal endlich den Tag seines Geburtstags wissen oder muss ich dazu das Stammbuch suchen? Hier in diesem unordentlichen, schmutzigen Haus?“

Während er schrie, stand Niccolò geduckt daneben, Geige und Bogen hingen an seinem Körper herunter, links die Geige, rechts der Bogen. Teresa runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach.

„Es war Ende des Herbstes. Der Himmel war grau, es regnete ein wenig und der Wind …“

„Neiiiiiiin, das hab ich schon mal gehört. Per favore! Man suche mir das Stammbuch.“

„27. Oktober!“, schoss es da plötzlich aus Teresas Mund.

„27. Oktober!“, wiederholte Antonio erleichtert. „Na endlich. Der Junge wurde also vor einem Monat acht Jahre alt. Das ist ausgezeichnet. Wer mit acht Jahren so flink spielt, der wird mit 10 Jahren ein ausgezeichneter Kirchenmusikant sein und Geld verdienen. Noch feiern wir deinen Geburtstag nicht, denn du hast ja bis jetzt nichts verdient, aber nächstes Jahr wird gefeiert. Versprochen.“

Niccolò durfte hinausgehen. Teresa folgte ihm, die scheue Paola am Rockzipfel.