Die Passion Jesu im Kirchenlied

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Der Erkenntnisweg

Die gewonnene Selbsterkenntnis bleibt aber nicht bei sich selber stehen: Nachdem der Betrachter im Leiden des Gekreuzigten sich selbst in seiner Verfassung vor Gott erkannt hat, über sich erschrocken ist und im Gewissen leidet1, soll er von sich weg blicken, wieder hin zum Gekreuzigten, von dem her sein Blick auf sich selber gelenkt worden ist. Der erneute Blick auf Christus eröffnet weitergehendes Erkennen: Der Betrachter sieht das liebende Herz Christi, durch dieses hindurch erkennt er das Herz des Vaters, das voll Liebe ist. Nachdem am Beginn der Zorn Gottes über die Sünde stand, folgt nun die Erkenntnis Gottes als gütigen, liebenden Vater. Die Erkenntnis von Zorn und Liebe, d.h. eine doppelte Gotteserkenntnis vollzieht sich also in der Betrachtung des Gekreuzigten.

Der Zorn Gottes und seine Liebe gehören bei Luther zueinander. Schon in der Ersten Psalmenvorlesung hat er seine Christologie dargelegt, nach der im Kreuz Christi sich Zorn und Liebe als konstitutiv für das Rettungshandeln Gottes am Menschen erweisen. Das Zorngericht am Sohn ist nach seinem Verständnis das opus alienum Gottes, der darin das opus proprium verwirklicht. Durch das Gericht, das er an ihm vollzieht, führt er ihn zum Leben. So ist es sichtbar an Christus, und so gilt es für den Menschen, der sich diesem Gericht unterwirft und Gott in seinem Urteil über ihn recht gibt. Christus zieht den Menschen hinein in sein Leiden, Sterben und Auferstehen.

Es scheint, daß Luther in der Darstellung des Erkenntnisweges von den Hoheliedpredigten Bernhards herkommt. Bernhard versteht die Seitenwunde, die auf das durchbohrte Herz Jesu verweist, als Wunde, in der die Liebe Gottes sichtbar wird: „Patet arcanum cordis perforamina corporis, patet magnum illud pietas sacramentum, patent viscera misericordiae dei nostri“2. Durch nichts konnte die hier offen erkennbare Liebe deutlicher werden als durch die Wunden Christi, betont Bernhard. In dieser Tradition stehend hat Luther aus ihr doch ein eigenes christologisches Konzept entwickelt.

conformatio

Nach dem Sermon ist die Selbsterkenntnis des Betrachters des Leidens Christi letztlich der Schlüssel dazu, Christus gleichförmig zu werden.

Der Selbsterkenntnis, die durch Erschrecken vor sich selbst ausgelöst wurde, folgt der Verlust aller Zuversicht auf „creaturen“ und aller Möglichkeiten, sich vor den Folgen der Sünde zu bewahren, am Ende steht die Erfahrung der Gottverlassenheit. Das durch die Betrachtung des Gekreuzigten ausgelöste Leiden im Gewissen ist das Erleiden der Gottverlassenheit, das Christus erlitt. Durch dieses Leiden wird der Mensch christusförmig.

Dieser Prozeß des Gleichförmig-werdens ist in der Tradition verankert. Die conformatio, die in der spätmittelalterlichen Passionsbetrachtung zum allgemein verbreiteten Denkschema geworden ist, entspricht dem hier im Sermon beschriebenen Prozeß.

In der Tradition erreicht der Betrachter die conformatio dadurch, daß er sich selber in das Geschehen hineinversetzt, es mitempfindet und in der Nachfolge Christi in seinen Tugenden sich selber ihm gleichförmig macht. Der große Unterschied dazu bei Luther besteht nun darin, daß hier nicht das eigene Handeln zur Erlangung der Gleichförmigkeit führt, sondern sich das Leiden im Gewissen an dem Betrachter ereignet. Luther weist darauf hin, daß es Gott ist, der das rechte Erkennen schenkt, das zum Leiden im Gewissen führt. Es steht nicht im Bereich der Möglichkeiten des Menschen diese conformatio herbeizuführen.

So hatte es Luther schon in der Psalmen-Vorlesung entwickelt: Christus wird in seinem Leiden uns zum Exempel. Aber nicht wir bilden uns diesem Vorbild nach, sondern Gott bildet uns nach dem Bild Christi. Die Beziehung der Gleichförmigkeit liegt allein in Gottes Tat.3

Allein Gottes Handeln

Der Sermon Luthers ist durchwoben von Hinweisen darauf, daß Gott in der fruchtbaren Betrachtung der Passion am Menschen wirkt. Gott wirkt die cognitio sui, Gott erweicht das Herz (Gliederungspunkt 9). Gott schenkt das „Werk des Leidens Christi“, das Absterben des alten Menschen, die wesentliche Wandlung (10), die Neugeburt, die conformatio. Sogar oft ohne daß wir es erkennen (11). Gott schenkt den Glauben (14), mit dem wir unsere Sünden fort aus dem Gewissen, auf Christus schütten. (12)

Es erweist sich, daß Luther die Passionsbetrachtung und ihren Nutzen in ihrer Gesamtheit als Handeln Christi am Menschen versteht: Hierin besteht das grundlegend Neue bei Luther. Nicht mehr der Mensch ist es, der sich auf den Weg der Betrachtung der Passion begibt, um sich dadurch verdienstvoll das meritum seines Leidens zuzueignen, nein, hier ist das Geschehen in der Betrachtung des Leidens Christi allein Handeln Christi am Betrachter.

Abgeschlossenheit der Passion

Luther betont die Abgeschlossenheit des Geschehens: Die Sünden sind auf ihn geworfen und von ihm überwunden und tot. Es sind nun auch an ihm keine Schmerzen mehr. Das Geschehen ist vergangen. Präsent ist die Freiheit von Sünden, die Neugeburt, die Gleichgestaltung nach ihm, wir sind gerecht. Du „… sihest itzt keyne wunden, keyne schmertzen an ihm, das ist keyner Sunde anzeygung“ (13)

Es wird im Verlauf der Untersuchung sich zeigen, inwieweit das Verständnis von dem Leiden und Sterben Christi in seiner Abgeschlossenheit sich weiterträgt.

Sakramentales Geschehen

Leiden und Sterben Christi werden von Luther hier als sakramentales Geschehen verstanden: In seinem Leiden werden die Sünden offenbar und erkannt, mit seinem Sterben nimmt er sie mit in den Tod. Und wir sind ihrer ledig. Darin geschieht die Geburt des neuen Menschen, der Christus nachgebildet ist. Bei der ersten Erwähnung der Neugeburt benennt er noch die Beziehung zur „wesentlichen Wandlung“ des Menschen als eine Vergleichbarkeits-Beziehung (10). Später allerdings, nach der Beschreibung der Gotteserkenntnis, zu der der Betrachter durch das Blicken in Christi Herz gelangt, kann er sagen: „… und ist der mensch alßo warhafftig new ynn got geporen“ (14). Indem wir so durch Christus zum Vater gezogen worden sind, hat eine Neugeburt wie die in der Taufe stattgefunden.

Am Ende spricht er explizit davon, das Leiden Christi sei „sacramentum“, „das in uns wirkt und wir leiden“.

Am Ende des Sermons geht Luther auf die nun ermöglichte Überwindung der Anfechtung ein und bezeichnet sie in Unterscheidung vom sacramentum als Konsequenz des Verständnisses von Christi Leiden als exemplum. Dieses menschliche Handeln ist nun etwas, das „wir wirken“ aus der an uns bewirkten Gottesliebe und daraus folgenden Sündenfeindschaft heraus.

Auch an anderer Stelle geht Luther auf die Überwindung der Anfechtung ein. Dabei versteht er die Tat Christi der Überwindung der Anfechtung am Kreuz als Ermöglichung für unsere Überwindung der Anfechtung. Nur indem Christus überwunden hat und uns in sein Leben hineingezogen hat, können auch wir der Anfechtung begegnen und sie überwinden.1

Es erscheint m.E. als konsequent, nun auch im Blick auf den Schluß des Sermons die dort ausgeführte Nachfolge im Handeln nach dem Vorbild Christi ebenso sakramental zu verstehen, da ja auch dieses menschliche Handeln aus Christi Leiden und Auferstehen hervorgeht und demnach durch Handeln Gottes am Menschen bewirkt ist.

Dogmatische Verankerung

Der Sermon hat einen erbaulichen Charakter, dennoch ist der dogmatische Grund, auf dem er steht, deutlich profiliert.

a) Gotteseigenschaftenlehre: Luther nimmt Bezug auf die Lehre von den Eigenschaften Gottes. Er spricht von „Gewalt“, „Weisheit“ und „Liebe“ (14). Er legt also die scholastische Dreiheit von Allweisheit, Allmacht, Allgüte zugrunde. Aber er nimmt eine Bewertung vor, gewichtet sie in ihrer Relevanz für den Menschen. Für ihn sind die relativen Gotteseigenschaften, die auf den Menschen bezogene Eigenschaft der „Güte und Liebe“ von Bedeutung. Luther zieht hier die Konsequenz aus dem, was er zu Beginn sagte: Gott für Gott halten ist irrelevant, wenn „er dier nit eyn got ist“ (3). Er schlußfolgert: Die für den Menschen relevante Eigenschaft ist die Liebe Gottes. Diese erkennt der Mensch in der Betrachtung von Christi Leiden: der Glaube sieht nicht mehr auf das Leiden und die eigenen Sünden, d.h. nicht auf die äußere Häßlichkeit des Leidenden, „foeditas“, die ja Abbild der eigenen Sünden ist (vgl. unten Sermo 2), sondern er erkennt das Herz voller Liebe Christi und des Vaters, d.h. er sieht „species et forma“.

b) Trinität: Explizit formuliert Luther trinitarische Grundaussagen: Es ist Gottes Sohn, der selbst leidet; nicht etwa nur der Mensch Jesus, so spricht er die Passion vom doketischen Verdacht frei. Es ist der Sohn, der die ewige Weisheit des Vaters ist. (4) Daß es sich also beim Sohn Gottes um ein durch die Taufe oder gar erst die Auferstehung zum Gottessohn adoptiertes Geschöpf handelt, ist damit nicht denkbar. Sondern es ist der präexistente Gottessohn, dessen Werk die Schöpfung ist. Es ist der Sohn, dem der Vater die Majestätseigenschaften mitgeteilt hat (communicatio idiomatum). Dies ist der erste Hinweis darauf, daß nach Luthers Verständnis am Kreuz Gott selber leidet. An späterer Stelle (10) spricht Luther dann explizit vom Leiden Gottes.

c) Es wird erkennbar, daß Luther die Zweinaturenlehre konsequent durchdacht hat: Christus spürte am Kreuz die Gottverlassenheit. „… gleych wie Christus von allen, auch von got verlaßen war“ (10). Luther sieht die Menschheit Christi darin verwirklicht, daß er am Kreuz alle Zuversicht verloren hatte, bis dahin, daß er die Verlassenheit von Gott spürte, die den Menschen in seinem Sterben erwartet. Darin ist er ihm gleich geworden, wie ihm der Mensch umgekehrt durch die Betrachtung des Gekreuzigten in der conformatio auch darin gleich wird.

 

Diesen Gedanken hat er schon in der ersten Psalmvorlesung entwickelt. Christus zeigt „… die betende und zitternde Angst …, von Gott verworfen zu sein.“1. Aus seinem Beten von Ps 22,2 erkennen wir, daß er die Not der Gottverlassenheit spürt.2 Er erlebt die Not des vor Gott schuldigen Gewissens3. Er ist über den Ausgang des Geschehens im Ungewissen4.

Darin geht er über die Tradition hinaus, nach der Jesus am Kreuz allein körperliche Schmerzen erleidet, aber nicht die Gewissensschmerzen, und die wahrhafte Gottverlassenheit, die der Mensch als Sünder tragen muß. Luther übernimmt nicht die Rücknahme der Menschheit Christi in der Situation des Sterbens, die die Tradition um seiner Sündlosigkeit willen behaupten mußte, sondern betont gerade hier sein Menschsein, um so deutlich werden zu lassen, daß Christus auch von der eigentlichen Not des Menschen angefochten war, von der Not des schuldigen Gewissens. Dies tut er um der soteriologischen Aussage willen, daß gerade in dieser Not Christus an die Stelle des Menschen treten kann.

An dieser Stelle wird deutlich, welche Bedeutung in Luthers Theologie die Betrachtung des Leidens Christi für das Heil des Christen hat; es geht hier nicht allein um den Erwerb der Sündenvergebung in der Zeit, sondern um die grundlegende Wandlung zum Gerechten vor Gott.

Beziehungsgeschehen

Es zeigt sich, wenn man ansieht, in welcher Weise – dem Sermon folgend – der Mensch durch das Betrachten des Leidens Christi vom Sünder zum Gerechten wird, daß die Betrachtung den Charakter eines Beziehungsgeschehen zwischen dem Betrachter und dem leidenden Christus hat, an dessen Ende steht, daß der Mensch wesentlich verändert wird.

Es ist im Kern nicht mehr, wie vordem, eine Methode, nach der der Betrachter die von Christus erworbenen Heilsgüter sich selbst anrechnen lassen kann, um Sündenschuld auszugleichen. Es liegt nicht mehr ein planvolles, methodischen Schritten folgendes Handeln des Betrachtenden vor. Sondern in der Betrachtung nach Luthers Darstellung geschieht die Begegnung von Gott und Mensch. Die neue Situation vor Gott ist nun nicht durch die Abwesenheit von Sünde gekennzeichnet, sondern dadurch, daß der Mensch „wesentlich“ verändert, neu geboren ist. Es ist eine neue Beziehung zwischen Gott und Mensch konstituiert und in dieser besteht das Heil.

Dies geschieht nach dem Sermon in folgender Weise: Der erste Schritt ist, daß der Mensch sich dem aussetzt, was er sieht, das Leiden Christi, und daß er mit Schrecken erkennt, daß er es ist, der dies hervorgerufen hat. Die Folge ist nun, daß er sich diesem Schrecken nicht mehr entziehen kann. Er verliert alle Zuversicht in sich und in geschaffene und durch eigenes Handeln umsetzbare Wege, die Sünde zu bereinigen. Luther führt dazu an: Messen, Fasten, Psalmen beten.

An dieser Stelle hört er auf zu handeln und Gottes Handeln setzt ein: er läßt den Menschen im Gewissen leiden. Er macht den Menschen darin christusförmig. Er schenkt ihm den Glauben, die Sünde auf Christus werfen zu können und sie dadurch vernichtet zu sehen. Er zieht den Menschen in der Betrachtung Christi zu sich und zu der Erkenntnis seiner Liebe. Der Mensch wird so zum Sündenfeind. Er ist ein anderer, er ist neu geboren, er will nicht mehr sündigen.

Das heißt: Der Betrachter geht anders und neu aus der Betrachtung hervor, und das liegt darin begründet, daß er von Gott in seiner Beziehung zu ihm „wesentlich“ verwandelt worden ist.

Dies wird auch sichtbar in der zu Beginn von Luther formulierten Voraussetzung: Sinn liegt in der Beschäftigung mit der Passion, wenn man sie auf sich selbst bezieht: Er ermahnt den Leser, der sich anschickt, die Passion Jesu zu bedenken, sie auf sich selbst zu beziehen. Das Für-wahr-halten der Wahrheit Gottes ist irrelevant, wenn „er dier nit eyn got ist“. Ebenso ist das Beziehungsmoment erkennbar an dem Ziel der Betrachtung: Am Ende soll stehen, daß im Betrachter die Gottesliebe geweckt wird. Der neue Mensch ist nun zum Sündenfeind aus Gottesliebe geworden. Mit der Gewichtung der Eigenschaften Gottes, die er vornimmt, wird dies bestätigt: Erkenntnis Gottes bedeutet weniger die Erkenntnis der absoluten Gotteseigenschaften wie Gewalt oder Weisheit, sondern der relativen wie seiner Güte und Liebe.

Luther weist also, indem er das Moment der Gottesbeziehung stark macht, darauf hin, daß das Handeln Christi am Kreuz erst in dem Menschen zur Vollendung kommt, auf den es gerichtet ist. Erst indem der Betrachter das Leiden Christi erkennt, sich erkennt, ihn als den Liebenden erkennt, hat es sein Ziel erreicht.

Der Mensch läßt sich so von Gott verändern, ansprechen, etwas über sich selbst sagen. Läßt sich in Frage stellen, läßt Gott, den anderen, etwas über sich sagen und sich von ihm neu formen. Gottes Handeln am Menschen also konstitutiv dafür, daß das Bedenken der Passion kein imputativer Akt ist, sondern eine Beziehungsstiftung.

Paränese

Der Sermon hat als Thema die Zusage der Neugeburt des Menschen in seiner Betrachtung der Passion Christi. Es ist aber damit der Ernst des Gerichtes nicht hinweggenommen: Als paränetisches Moment weist Luther darauf hin, daß man das Leiden Christi an sich „verlorengehen lassen“ kann.

Er weist auf den Unterschied hin zwischen dem, was Christus erleidet und dem, was den Menschen eigentlich erwarten würde, da er im Gegensatz zu Christus Sünder ist. Er läßt als Ermahnung folgen: „Wa Christo eyn nagell seynn haend adder fueß durchmartert, soltestu ewige solch und noch ergere negell erleyden, alßo dan auch geschehn wirt denen, die Christus leyden an yhn laßen vorloren werden“1.

Später folgt eine weitere Ermahnung: Die Betrachtung der Passion und das damit verbundene Erschrecken ist unausweichlich. Wenn wir nicht in diesem Leben über den Gekreuzigten erschrecken und Christi Leiden fühlen, dann spätestens beim Sterben und im Fegfeuer. (6)

Seelsorglicher Umgang mit dem Leser

Der Sermon ist streng durchgegliedert, er führt sachbezogen zu seinem Ziel. Dennoch ist er in der Art eines Zwiegespräches Luthers mit seinem Leser gehalten. Dies wird an dem „Du“ deutlich und der Art, den Leser durch die gesamten Ausführungen hindurch persönlich anzusprechen. Darüber hinaus erweist sich Luther hier als Seelsorger, der um die Schwächen und Ängste der Menschen weiß. Besonders an zwei Stellen tröstet er den Leser, indem er voraussieht, welche Zweifel ihn plagen könnten.

Er weist ihn darauf hin, daß es sein kann, daß man Christus um fruchtbares Bedenken seiner Leiden bittet, aber nicht sofort erhört wird. Dann „sol man nit vorzagen odder ablassen“. Dazu ist es möglich, daß man den Eindruck hat, daß das Bitten nicht erhört wird und darunter leidet. Luther tröstet: „… und mag wol seyn, das er nit weiß, das Christus leyden yn yhm solches wirckt.“ (11) Gerade das Leiden unter dem Nicht-Erhört werden kann bedeuten, daß Christus ihn den Schmerz leiden läßt, der zur conformatio führt.

Auch die Angst des Menschen, nicht genug zu glauben, um, wie angeraten, die Sünden voll Vertrauen auf Christus zu werden, nimmt Luther vorweg und geht von dieser Erfahrung aus, wenn er rät: „Wan du nit magst gleuben, ßo soltu … Gott darumb bitten … Magst dich aber da zu reitzen, nit das leyden Christi mehr an zusehen …“, (indem er auf das liebende Herz Christ blickt). (14)

2.1.1.2 Die Beziehung des Sermons zur Tradition

In mancher Hinsicht wird im Sermon Luthers die Tradition hörbar, aus der er kommt und von der sein Denken gespeist ist. So ist mit dem Bedenken der Passion das Ziel verbunden, daß daraus die Gottesliebe erwachsen soll.

In seiner Schrift „De institutione inclusarum“ gibt Aelred von Rielvaux (+ 1167) eine Anweisung, wie durch die Meditation der beneficia Christi die Gottesliebe geweckt werden soll. In zwei Formen zeigt sich die wahre dilectio dei: „affectus mentis“ und „effectus operis“, d.h. im inneren Menschen durch die Meditation und am äußeren Menschen am Handeln erkennbar. Diese zweifache Form der Liebe zu Christus hat sich zum grundlegenden Schema in der Passionsbetrachtung entwickelt und findet sich z.B. auch wieder bei Jordan von Quedlinburg und Ludolf von Sachsen.1

Es geht bei der Betrachtung der Passion auch nach der Tradition darum, daß der Einzelne ein Verhältnis zu Jesu Leiden gewinnen soll2. Diese auf den Einzelnen bezogene Sichtweise ist auch bei Gerhart Zerbolt ausgeführt, wenn er formuliert, daß Christus „… pro te solo crucifixus esset et homo factus“3. Dies bringt Luther als Voraussetzung zu Beginn des Sermons zum Ausdruck, wenn er ausführt, daß das Für-wahr-halten Gottes ohne Bedeutung ist, wenn „er dier nit eyn got ist“.

Auch das von Luther im Sermon als von zentraler Bedeutung benannte Ziel der Betrachtung, daß „der mensch zu seyns selb erkenntniß kumme“4, hat seinen Vorläufer in der zeitgenössischen mönchischen Frömmigkeit5. Dennoch versetzt er dieses Ziel durch seine Anweisung zur Betrachtung des Leidens in einen anderen Rahmen: die Selbsterkenntnis ist nicht mehr etwas, das der Mensch durch sein Handeln zu erlangen hoffen kann, sondern sie ist eine Gottesgabe, die ihm in der Betrachtung nach Gottes Willen von diesem übereignet wird.6

In mancher Denkweise und Begrifflichkeit wird die Herkunft von Luthers Denken und sein Stehen in der Tradition deutlich. Doch stellt er seinen Weg der Passionsbetrachtung in eine neue Bewegung.

Sichtbar wird dies an seiner Umformung des Verständnisses von exemplum und sacramentum.

Am Ende des Sermons, im 15. Punkt, führt Luther die Unterscheidung sacramentum – exemplum ein. Das Leiden Christi ist demnach bis dahin unter dem Aspekt des sacramentum zu verstehen: Es weist hin auf Christi Leiden und Sterben und bezeichnet damit das Leiden des Betrachters im Gewissen und sein Absterben in Bezug auf die Sünde. Es bezeichnet, was es bewirkt: Mit Sterben und Auferstehen Christi sind wir in sein Schicksal hineingezogen und dem Anspruch entzogen, den der Tod auf uns aufgrund unserer Sünde hatte. Dieses Geschehen ist allein das Wirken Christi an uns; sein Leiden ist sacramentum. Erst danach kann sein Leiden uns auch zum exemplum werden: wir folgen ihm in unserem Handeln nach, weil wir ihm gleichförmig geworden sind. Nun können wir selber wirken, seinem Exempel folgend, aber allein aus der Gottesliebe heraus, die durch die Erkenntnis seiner Liebe in uns entstanden ist.

Mit diesem Verständnis des überlieferten Unterscheidungspaares von sacramentum und exemplum verleiht Luther diesen Begriffen eine andere Bedeutung als sie von der Tradition her hatten.

Die Unterscheidung rührt von Augustin her. Christi Leiden ist dem Menschen als exemplum und sacramentum vor Augen gestellt und darin eine doppelte Handlungsaufforderung an den Menschen.

Er bezeichnet den Kreuzestod Christi als exemplum insofern, daß der äußere Mensch ihm darin in seiner Bereitschaft zum Martyrium folgen soll. Christi Tod ist sacramentum dadurch, daß er den Menschen zur Buße auffordert, durch die sich auch in ihm das Absterben der Seele vollzieht und er so der Macht der Sünde entzogen ist. Augustin hat die beiden Begriffe also jeweils auf den homo interior (Buße) und den homo exterior (Nachfolge) bezogen.7

Indem Luther die Unterscheidung im Sermon aufgegriffen hat, hat er diese Differenzierung des Menschen in den homo interior und exterior aufgehoben, sondern beide auf den ganzen Menschen bezogen. Dazu gewichtet er sie unterschiedlich: der Tod Christi als sacramentum ist eine abgeschlossenene Handlung, die keiner Folgehandlung mehr bedarf, er ist exemplum insofern, daß der innerlich gewandelte und mit der Gottesliebe ausgestattete Mensch als Folge dessen nun nach dem Exempel Christi handelt, ohne daß es ihm eine Leistung abverlangte oder als solche zu begreifen wäre.8

Darin zeigt sich auch ein anderes Verständnis des Lebens Jesu bei Luther: er sieht es nicht mehr – wie die Tradition in Nachfolge Augustins – im ganzen als Leidensgeschichte und disciplina mora, die uns zur Nachahmung aufgegeben ist, sondern es ist zuerst durch seinen Tod uns zum sacramentum geworden, in dessen Folge uns ein Handeln nach den Tugenden erwächst.

Luther bindet die Wirksamkeit des Sterbens Christi als sacramentum und exemplum an die rechte Passionsbetrachtung: Christus wird uns zum sacramentum durch das von Gott geschenkte rechte Bedenken und der darin am Betrachter bewirkten conformatio.

 

Er wird zum exemplum für das eigene Leben, was ebenso als Wirkung der conformatio anzusehen ist: Gott gestaltet den Menschen im rechten Betrachten zum Exemplum Christi. Gott bewirkt im Menschen, daß er die Tugenden vollzieht. Dem entspricht auch Luthers Gedanke, daß uns Christus zuvor Gabe und Geschenk (= Versöhnung) werden muß, bevor er zum Exempel wird9.