DIE GABE

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08 DER VERDACHT

Todmüde krabbele ich später in mein Bett, nachdem ich endlich die Matheaufgaben fertig habe. Ich mache das Nachtlicht aus und lege mich auf den Rücken. Über mir kleben ein paar Leuchtsterne an der Decke. Ein Überbleibsel aus Kindertagen, wie überhaupt mein ganzes Zimmer ein Überbleibsel aus Kindertagen ist. Angefangen mit dem blaugrauen Teppich mit lauter gelb-orangefarbenen Bärchen mit weit ausgebreiteten Armen und Beinen. Und dann die Tapete: Auch wenn ich noch so viele Poster an die Wände klebe, sie können die bunten Kindermotive, die darauf gedruckt sind, leider nicht überall verdecken.

Ich habe mich daran gewöhnt und manche Sachen von früher will ich auch gar nicht weg haben. Zum Beispiel den kleinen Kindersessel aus Bambus, auf dem meine beiden Lieblingskuscheltiere ihren Platz haben, oder der alte Strohhut aus Port Grimaud, der einen meiner beiden CD-Ständer ziert. Und dann gibt es da auch noch das kleine Regal voller Erinnerungsstücke aus früheren Zeiten ...

Ich schaue auf die sanft schimmernden Sterne über mir und überlege, was ich mit all dem Zeug mache, wenn ich nach Berkeley gehe.

Berkeley ... Bilder tauchen vor meinen Augen auf: Wie ich über die Campuswiese auf Diego zu laufe. Wie er mich in seinen Armen liebevoll auffängt. Diese Traumbilder erscheinen immer in warmem Sonnenlicht.

Ich stehe am Strand und es ist gar nicht mehr warm. Es bläst ein kühler Wind und die Möwen kreischen über mir. Da ist ein Mann, der mit einer Armbrust durch den spärlichen Bewuchs der Dünen schleicht. Er hat die Waffe im Anschlag. Sein grauer Umhang weht im Wind. Er kniet hinter einem Busch nieder, streicht sich die halblangen Haare aus dem Gesicht, zielt und schießt.

Ich sehe, wie der Pfeil durch die Luft schwirrt. Er trifft auf den nackten Rücken eines anderen Mannes. Mit einem knackenden Geräusch zerschmettert er Fleisch und Knochen. Dort, wo der Pfeil sich in den Körper gebohrt hat, wird alles rot von austretendem Blut.

Ich ducke mich hinter einen Strauch. Warum ist der andere Mann halb nackt? Er kommt mir irgendwie bekannt vor.

Der Mann mit dem grauen Umhang steht auf und geht auf den Verletzten zu, der mittlerweile ganz langsam in den Sand gesunken ist. Der Mann mit der Armbrust steht nun vor dem Verletzten wie ein Jäger, der seiner Beute den Todesstoß versetzen will. Seine erneut gespannte Armbrust zielt auf sein Opfer.

Was macht denn das kleine Mädchen da? Erschrocken fahre ich herum. Es steht ganz oben auf dem Kamm einer Düne. Die blonden, lockig aufgebauschten Haare leuchten vor dem bleigrauen Himmel in einem ganz unnatürlichen, goldenen Licht.

Was tut sie da? Warum sieht sie dieser Szene zu, und was ist das für ein merkwürdiger Schlitten neben ihr? Es ist doch gar kein Winter. Sie sieht so zierlich und verletzlich aus, und sie ist in Gefahr!

Ich will zu ihr laufen, will sie zu mir in die sichere Deckung ziehen, aber meine Beine gehorchen mir nicht. Ich versuche zu rufen, aber es kommt kein Ton aus meinem Mund.

Gefangen in meiner stummen Unbeweglichkeit beobachte ich, wie der Verletzte langsam aufsteht. Er lässt den Jäger nicht aus den Augen. Der hebt erschreckt seine Armbrust. Aber er ist langsam, viel zu langsam. Es wirkt, als müsse er einen Widerstand überwinden.

Mit erschrocken umherirrendem Blick versucht der Jäger zurückzuweichen, bekommt aber nur einen stolpernden Schritt hin. Seine Armbrust fällt zu Boden. Er beginnt zu keuchen und ballt seine Hände zu Fäusten. Obwohl all seine Muskeln angespannt sind, bleibt er starr stehen, so als könne er sich nicht mehr bewegen.

Der Verletze grinst, geht langsam auf ihn zu und umarmt ihn mit einer schnellen Bewegung. Der Jäger stöhnt auf und wird ganz blass im Gesicht. Er zerbröselt unter dem Griff des halbnackten Mannes in ekelhaft schwebende klebrig-graue Fetzen.

Schweißgebadet fahre ich hoch. Ich zittere am ganzen Körper und muss erstmal Licht machen und mich vergewissern, dass ich zu Hause bin und nicht an diesem fremden Strand.

Mit zitternden Fingern streiche ich mir die Haare über die Stirn zurück und schaue auf meinen Wecker. Zwei Uhr! Schnell streife ich die Bettdecke ab, stehe auf und öffne vorsichtig meine Zimmertür. Die Wohnung ist dunkel und still. Nur aus dem Wohnzimmer höre ich das gedämpfte Ticken von Oma Joséphines alter Wanduhr.

Ich hole meine Digicam aus dem Rucksack und schleiche in das Arbeitszimmer meines Vaters. Der gelbliche Lichtschein der Straßenlaternen dringt durch die geschlossenen Jalousien. Behutsam schließe ich die Tür und mache Licht. Papas PC ist noch an und ich lade mir schnell die Fotos von dem Gemälde aus dem Louvre in meinen Bilder-Ordner.

Lange sitze ich vor dem Monitor und starre auf das Bild. Es ist, als sei es ein Abbild meines Traumes. Was stimmt nur nicht mit diesem Gemälde? Was passiert dort? Warum hat der Maler ausgerechnet diese Szene festgehalten? Und warum hat er dieses kleine Mädchen dazugemalt, das so einen merkwürdigen Kontrast bildet zu dem Rest der Szenerie? Und was ist das für ein komischer kleiner Schlitten, den sie an einer Kordel festhält?

Mir fällt ein, dass Daniel gesagt hat, man sähe Saint Malo im Hintergrund. Ich vergrößere das Bild, um die Landschaft deutlicher sehen zu können. Die Silhouette der Stadt sagt mir nichts. Plötzlich kommt mir eine Idee und ich rufe Satellitenbilder von Saint Malo auf.

Schnell stürze ich mit dem Bildschirm auf den kleinen Ort an der Küste des Ärmelkanals zu. Wie immer wird mir dabei etwas schwindelig.

Abwechselnd klicke ich auf das vergrößerte Gemälde und die Bilder, die ich von Saint Malo bekomme. Bald besteht kein Zweifel mehr: Ich habe die ungefähre Stelle gefunden, von der aus der Maler den Ort im Hintergrund gemalt haben könnte.

„Ich muss nach Saint Malo“, flüstere ich leise vor mich hin. Vielleicht findet sich dort ja ein Hinweis auf die Geschichte des Bildes. Morgen werde ich mit Bea reden. Sie soll mitkommen und Daniel auch. - Ich muss unbedingt nach Saint Malo!

Ich möchte schnell noch mit Diego skypen und will gerade den Bildbetrachter schließen, als mein Blick auf das Segelboot fällt. Am Bug ist deutlich ein Schriftzug zu erkennen, aber die Buchstaben sind unleserlich. ‚Merkwürdig’, denke ich gähnend, ‚warum hat der Maler dem Boot keinen richtigen Namen gegeben?‘ Na, erst mal egal. Ich schließe das Bildprogramm.

Mittlerweile ist es drei Uhr nachts. Ich reibe mir die Augen. Morgen in der Schule werde ich es bitter bereuen, aber ich will unbedingt noch mit Diego reden.

Mich fröstelt, als ich meine Webcam aktiviere und mich in Skype einwähle. Schnell hole ich mir die warme Decke von Papas altem Ohrensessel und kuschele mich darin ein. Ich hoffe, ich erreiche Diego.

Nach wenigen Sekunden erscheint schon sein liebes Gesicht auf dem Bildschirm. Das Erste, was ich frage, ist: „Na, auch noch wach?“ - Oh Mann, wie intelligent! Zur Abwechslung sollte ich vielleicht einfach mal nachdenken, bevor ich rede.

Diego grinst sein freches Diego-Grinsen und meint nur: „Ich habe mich extra für dich wach gehalten, Chérie!“

„Ja, ich weiß!“ stöhne ich gequält auf, weil ich mal wieder schneller geredet als gedacht habe. Bei ihm in Berkeley ist es jetzt gerade mal 18.00 Uhr gestern Abend. Mit diesen Zeitzonen werde ich nie zurechtkommen. „Was hast du so gemacht heute?“, versuche ich abzulenken.

„Och, ich hab meine Aufnahmeprüfungen bestanden“, grinst Diego mich an.

„Prüfungen?“ Ich bin etwas irritiert. „Ich dachte, du hast dich für Medizin eingeschrieben, waren das mehrere Prüfungen?“

„Medizin und Meeresbiologie“, antwortet Diego. Plötzlich schaut er zur Seite. Irgendwas lenkt ihn ab.

Ein Gesicht erscheint neben ihm. Mit einem schiefen Grinsen weist dieser Jemand mehrmals mit dem Zeigefinger auf Diego und meint „Unser Streber! Wenn du weißt, was ich meine.“ Der Typ hebt den Daumen, nickt und verschwindet.

„Wer war das denn?“

„Das?“ Diego wendet sich wieder zu mir um. „Das war Hercule. Hercule LaSalle in voller Lebensgröße und mit all seinem Charme! Er wohnt mit mir in einem Zimmer. Du wirst mit Sicherheit das zweifelhafte Vergnügen haben, ihn kennen zu lernen, wenn du hierher kommst.“

„Gar nicht zweifelhaft“, höre ich eine Stimme aus dem Hintergrund.

„Mmh, wäre doch toll“, meine ich. „Dann hätte ich doch schon alle Hürden genommen!“

„Was für Hürden?“ Diego hebt erstaunt die Augenbrauen.

„Na ja, im Moment, weiß ich wirklich nicht, wie ich das jemals hinkriegen könnte, zu dir zu kommen!“

„Oh!“ Diego dreht sich kurz zu Hercule um, der im Hintergrund steht und wilde Zeichen macht. Als er mich wieder anschaut, wirkt er irgendwie ratlos. „Wir werden uns wiedersehen, ich glaube einfach daran!“

Ich erinnere mich an meine Gedanken vor dem Einschlafen: Wie Diego mir über die Campuswiese entgegengelaufen kam und mich in seinen Armen auffing. Unwillkürlich muss ich lächeln. Plötzlich fällt mir der Traum wieder ein und ich beginne zu erzählen: von dem Gemälde im Louvre und von dem Traum, aus dem ich vor knapp einer Stunde hoch geschreckt bin.

Diego, der mir erst lächelnd zuhört, zieht bei meinem Bericht die Augenbrauen immer mehr zusammen und meint plötzlich: „Jetzt schicken wir dich aber mal ins Bett. Es ist bei euch schon halb vier, und du hast morgen Schule!“

„Ja Maman“ erwidere ich und versuche ein gekünsteltes Lachen, was mir nicht gelingt. - Ich hasse diesen schulmeisterlichen Ton. „Dann bis morgen, da ist Samstag, und ich darf bestimmt länger aufbleiben“, versuche ich mich noch ein bisschen zu rächen, aber Diegos Lächeln wirkt eher gequält, als er mir eine Gute Nacht wünscht.

 

Müde schalte ich den PC aus und lösche das Licht über Papas Schreibtisch. Noch schnell auf’s Klo und dann in die dunkle Küche, um noch ein Glas Wasser zu trinken. Es riecht immer noch lecker nach Hähnchen und Ratatouille. Ich muss an Didiers Geisterhähnchen und an Mamans dumme Frage denken und fange beim Trinken an zu grinsen. Das ist ein Fehler. Prustend setze ich das Glas ab. Beinahe hätte ich das ganze Wasser in die Spüle gespuckt.

Schläfrig krabbele ich schließlich in mein noch warmes Bett zurück. Es plagen mich keine sonderbaren Träume mehr. Nur Diegos merkwürdiges Lächeln am Ende unseres Gesprächs verfolgt mich noch. Es wirkte so gequält und gleichzeitig erschrocken. Es kommt mir fast so vor, als hätte ich ihn irgendwie verletzt und müsste es wieder gut machen. Dabei weiß ich gar nicht, warum.

‚Natürlich weißt du was los ist!’, flüstert eine leise Stimme in mir.

Ich wälze mich im Halbschlaf herum. ‚Gar nichts weiß ich! Lass mich schlafen!’

‚Na gut! Wenn du es nicht wissen willst’. Diese Stimme hört nicht auf zu flüstern.

‚Was nicht wissen?’

‚Na das, was du eigentlich schon weißt. Ich weiß es jedenfalls’.

‚Dann sag’s mir doch einfach.’

‚Nö! Du musst raten!’

‚Also entweder du hast mir was zu sagen, oder du hältst die Klappe!’

‚Okay!’

Na toll! ‚Wozu bist du überhaupt gut?’

‚Ich mache dir Sorgen und schlechte Gefühle – reicht das nicht?’

Wozu braucht man ein Unterbewusstsein, wenn es einem sowieso nicht helfen will? Unwillig ziehe ich mir die Decke über den Kopf und schlafe endlich ein.

09 ALICIA, STAVROS UND DARYL

Draußen wurde es langsam dunkel. Auf dem Parkplatz vor dem Haus gingen die Laternen an. Erfolglos versuchten sie, sich mit ihrem schwachen Schein gegen den rötlichen Schimmer des Sonnenuntergangs durchzusetzen. Noch war es erst Frühherbst, aber die Tage wurden schon deutlich kürzer.

„Ich hab Hunger!“, gab Hercule bekannt. Er hatte den Riesenbildschirm irgendwie am Fußende seines Betts befestigt, lag auf der Decke und spielte am Controller seiner X-Box herum. Wahrscheinlich irgendein Ballerspiel, denn ab und zu klang das Geräusch von Schüssen auf.

„Geh in den Dining Room.“

„Da gibts keine Burger.“

„Dann lass den Pizzamann kommen. Die Karte hängt draußen am schwarzen Brett.“

„Keine Lust auf Pizza. Ich will Burger!“

„Dann fahr doch in die Stadt“, schlug Diego vor. Er war gerade dabei, sein Netbook auf die hiesigen Anschlusswerte einzustellen.

„Klopf, klopf! Jemand zu Hause im Kopf? Ich bin mit dem Taxi gekommen. Ich hab noch kein Auto. Ich fahre mit dir.“

„Ich fahre aber noch nicht.“

„Dann warte ich eben noch. Ist ja nicht so schlimm. - Mann, hab ich einen Hunger!“

Erpressung! Diego stöhnte auf. Das Mausgehäuse in seiner Hand knackte ein wenig und der Zeiger tobte wie verrückt über den Bildschirm. Er ließ schnell los.

Es klopfte leise an der Tür.

„Meine Kobra ist entwischt“, blökte Hercule sofort mit voller Lautstärke los und sprang auf. „Wo, zum Teufel ist meine Kobra?“

Die Tür öffnete sich ein kleines Stück weit und ein schwarzer Haarschopf schob sich durch den Spalt.

„Sie ist weg! Sie ist weg! Meine Kobra ist weg!“, lamentierte Hercule und tat so, als würde er den Boden absuchen.

„Hallo Alicia!“ Diego hatte die junge Frau von der Hausverwaltung sofort wiedererkannt. „Komm rein.“

„Hallo – Diego!“, antwortete sie unsicher und lächelte ihn an. „Und was ist mit der Schlange?“

„Es gibt keine.“

„Och, Mönsch!“, maulte Hercule und richtete sich mit enttäuschtem Gesichtsausdruck auf.

„Keine Kobra?“, vergewisserte sich Alicia und öffnete die Tür ein Stückchen weiter.

„Keine Kobra nirgendwo!“, bestätigte Diego und sie kam vorsichtig herein. Sie hatte das etwas langweilige Dienstkostüm gegen Jeans, T-Shirt und Chucks getauscht, was ihr hervorragend stand. Ganz offensichtlich hatte sie schon Feierabend. „Ich wollte Herrn LaSalle bloß noch seinen Zimmerschlüssel bringen“, sagte sie, wobei sie Diego unentwegt ansah.

Diego lächelte unverbindlich zurück. - Schön und gut, aber was ging ihn das an?

„Ach ja, sicher.“ Hercule schob sich von der Seite in Alicias Blickfeld und nahm den Schlüssel entgegen. „Hier muss man ja abschließen. Wird ja ziemlich viel geklaut hier.“

„Entschuldigung?“ Alicia sah ihn leicht verwirrt an.

„War doch nur Spaß!“, trompetete Hercule. „Man muss doch auch mal nen Spaß machen, wenn du weißt, was ich meine.“

„Studierst du auch hier?“ Diego fühlte sich verpflichtet, ein wenig Smalltalk zu machen.

„Soziologie“, strahlte Alicia ihn an. „Und du?“

„Hauptfach Medizin.“

„Oh!“ Alicia senkte den Kopf leicht und sah Diego ein wenig von unten her an. Dieser Blick gab ihr etwas Unterwürfiges und gleichzeitig etwas Forderndes. „Manchmal habe ich so einen Schmerz hier.“ Sie legte eine Hand auf ihre Herzgegend. „So ein seltsames Ziehen. Gerade jetzt im Moment auch wieder. Was könnte das bedeuten?“

Diego konnte ein kurzes Auflachen nicht unterdrücken. Das war ja wirklich mal eine originelle Anmache. „Keine Ahnung. Ich fürchte, so weit bin ich noch nicht.“

„Ein Freund könnte helfen“, grinste Hercule sie an. Er hatte auch begriffen, worum es ging.

Alicia beachtete ihn nicht. Sie ließ Diego nicht aus den Augen. „Und sonst? Kommst du zurecht?“, fragte sie.

„Alles bestens“, meinte Diego.

„Wenn du Lust hast, könnte ich dir ja gelegentlich mal die Gegend zeigen“, bot sie an.

„In nächster Zeit nicht.“ Diego gab seiner Stimme einen bedauernden Ton. „Erst muss ich durch die Prüfungen.“

„Ja, natürlich!“ Das war ja nun eine ganz klare Absage und Alicia machte einen ziemlich enttäuschten Eindruck.

„Ich hätte Zeit“, bot Hercule sich an. „Ab morgen habe ich ein Auto. Wir könnten ein bisschen rumfahren.“

Wenn Alicia ihn gehört hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. „Tja, ich muss dann wieder ...“

„Wir fahren gleich zu Arby´s. Willst du mit?“, startete Hercule einen letzten Versuch. „Ich gebe auch einen aus.“

Diego bemerkte, wie sich Alicias Oberlippe auf der linken Seite ein wenig hob. Ihr ging Hercules plumpe Angraberei wohl ziemlich auf die Nerven. Für Diego zauberte sie aber schnell noch ein etwas trauriges Lächeln herbei. „Bis später mal.“ Sie öffnete die Tür.

„Bis später mal.“

„Bis später mal“, schloss sich auch Hercule an. „Ich freu mich drauf, wenn du weißt, was ich meine.“

„Schöne Grüße an die Kobra.“ Die Tür schloss sich mit einem deutlichen „Plopp.“

„Sag mal, bin ich aus Luft, oder was?“, beschwerte Hercule sich bei Diego. „So eine Zicke!“

„Du solltest vielleicht deine Technik noch ein wenig verfeinern.“

„Ach, bei der habe ich doch sowieso keine Chance!“, stieß Hercule in einem plötzlichen Anfall von Hellsichtigkeit hervor. „Das ist wohl ein Gründungsmitglied von deinem kalifornischen Fanclub. Mann, was finden die bloß alle an dir?“

„Ich habe nichts gemacht“, verteidigte Diego sich. „Ich hab ihr bloß Guten Tag gesagt und sie hat mir gezeigt wo die Waschmaschine steht, das war alles.“

„Ach komm, hör auf!“ Hercule grinste Diego an. „Komm, verrat mir deinen Trick. In Frankreich war das schon genauso. Diego hier, Diego da. Wieso wollen die alle dich, wenn sie doch mich haben könnten?“

„Ehrlich! Keine Ahnung!“ Diego drehte sich schnell weg, damit Hercule sein Grinsen nicht sah.

„Weißte, bei mir wär das ja überhaupt kein Problem. Knick-knack-zackzack, wenn du weißt, was ich meine. Aber du mit deiner Rührmichnichtan-Nummer ... Jetzt sag schon: Wie machst du das?“

„Ich mache nichts! Es gibt keinen Trick!“, sagte Diego mit Nachdruck. „Ich habe Lana und das reicht. Klar?“

„Lana – Lana ...“ Hercule legte seine Stirn in Falten. „Kenn ich die? Die jüngste Tochter der Borkows aus Tallin, stimmts?“

„Das ist Tara und die ist vielleicht gerade mal Dreizehn. Lana kommt aus Paris.“

„Ach so.“ Hercule legte den Kopf schräg und kniff ein Auge zu. „Dann ist sie wohl ... Du weißt schon ...“

„Warte!“ Diego ließ den Mauszeiger über den Bildschirm flitzen. „Bevor deine Grübelzelle überhitzt: Das ist sie.“ Schnell öffnete er den Bildordner und rief ein Portrait von Lana auf.

„Ey, du hast Grübelzelle gesagt.“ Hercule war begeistert. „Das war´n Witz! Du hast nen Witz gemacht. Klasse Mann! Grübelzelle ist gut! Den merk ich mir, den merk ich mir! Du weißt schon, was ich meine.“

Diego seufzte tief auf. „Das ist Lana.“ Er zeigte auf den Bildschirm.

„Die ist ja blond“, stellte Hercule fest. „Überhitzte Grübelzelle! Klasse!“

„Komm, fahren wir essen.“ Diego schloss das Bild und stand auf.

„Siehste, jetzt haste doch Hunger“, triumphierte Hercule. „Jeder muss mal was essen!“, setzte er noch weise hinzu.

Bis zur Burgerbude war es ziemlich weit. Hercule wollte unbedingt zu Arby’s, alles andere war nicht gut genug. Er bestellte sich das größte Burger-Meal und einen Turnover mit Apfelfüllung, während Diego ein Roastbeef-Sandwich mit Curley Fries wählte.

Natürlich versuchte Hercule mit der Bedienung zu flirten. Erfolglos! Diego spürte, wie er sie beeinflussen wollte, wie er mit seinem Geist nach ihr griff, aber das kam bei ihr schlecht an. Geistige Beeinflussung war nicht gerade Hercules Stärke, sonst hätte er vielleicht an etwas Anderes gedacht, als an den straff gespannten Pulli der Frau. Auf jeden Fall musste sie einen Teil seiner Gedanken aufgefangen haben. Plötzlich behandelte sie ihn so abweisend und mürrisch, als habe er sie angegrabscht. Die Atmosphäre wurde ungemütlich. Sie aßen schnell, und nach einer halben Stunde waren sie schon wieder draußen.

„Die hat wieder nur dich angestarrt“, beschwerte Hercule sich, als sie durch die nächtliche Stadt fuhren.

„Ja? Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Das war gelogen, aber es war das, was Hercule hören wollte.

„Du, mit dieser Lana – sag mal, ist das was Ernstes?“

„Ja“, bestätigte Diego knapp, setzte dann aber doch noch ein sehnsüchtiges: „Sie fehlt mir wahnsinnig“, hinzu.

„Warum kommt sie nicht einfach her?“

„Geht nicht. Sie ist noch nicht so weit.“ Diego kniff die Lippen zusammen, sodass selbst Hercule merkte, dass er nicht weiter darüber reden wollte.

Mit mäßiger Geschwindigkeit rollte der Porsche durch die Stadt in Richtung Bolinas.

„Warum fährst du nicht schneller?“, wollte Hercule wissen.

„Wieso? Hast du es eilig?“

„Äh, nö“, gab Hercule zu und sah Diego unsicher an. Der Rest der Fahrt durch die Vororte verlief in friedlichem Schweigen.

„Hör mal!“, fing Hercule wieder an, als sie auf die Straße einbogen, an der das Wohnheim lag. „Wenn ich meinen Wagen habe, dann fahr ich dich auch rum. Versprochen!“

„Was willst du dir denn holen?“

„Hab schon. Ein altes Mustang Boss Coupé. Silbergrau mit Chromfelgen. Das ist ein Klassiker aus den Siebzigern. Frühe Siebzigerjahre, verstehste? No Limits! Voll gepimpt! Morgen ist er fertig.“

Das passte! Sieben Liter Hubraum, mindestens vierhundert PS und ein Luftwiderstand wie ein Zirkuskassenhäuschen. - Bei Hercules Fahrstil würde er maximal fünfzehn Meilen aus einer Gallone Benzin herausholen.

„Mann, so ne Aufreißerkarre fährt man höchstens als Zweitwagen für das Wochenende.“

„Ich nicht!“ Hercules Gesicht nahm einen trotzigen Ausdruck an. „Der Händler hat gesagt, der wäre voll alltagstauglich.“

„Was hast du denn dafür gelegt?“

„Fünfunddreißigtausend, plus noch mal fünftausend fürs Tuning.“

„Und der Händler? Ist er noch hier, oder feiert er schon auf Hawaii?“

„Wieso? Meinst du, das war zuviel?“

„Keine Ahnung.“ Diego ließ den Wagen auf den Parkplatz rollen und fuhr wieder neben den Maserati. „Hast du Garantie?“

„Mann, der ist von ´73 oder so.“

„Eben!“

„Der war nicht zu teuer“, meinte Hercule und stieg aus. „Das war ein Schnäppchen!“

„Ist schon okay. Hoffen wir’s.“ Diego betätigte den Knopf, der dafür da war, das Verdeck zu schließen und die Scheiben hochzufahren. Mit Regen war zwar nicht zu rechnen, aber wenn der feine Staub, der auf Sitzen und Armaturen lag, eine Chance bekam, sich mit dem Frühtau zu verbinden, würde es mit der Eleganz der Innenausstattung bald vorbei sein.

 

Hercule zeigte auf das Haus. „Du, unsere Nachbarn sind noch wach.“

Diego stieg aus und sah zum fünften Stock hinauf. Richtig. Gleich neben dem Fenster mit dem gelblich glimmenden Plastiktotenschädel war gedämpftes Licht an. Bläulich schimmerte es durch die Scheibe, als käme es von einem Fernseher oder Monitor.

„Komm, die gehen wir besuchen.“ Hercule machte eine weit ausholende Armbewegung, als wolle er einen Sog erzeugen, der Diego mitriss.

„Jetzt noch?“ Diego sah auf seine Uhr, aber es war noch lange nicht so spät, wie er eigentlich gedacht hatte. In Hercules Gesellschaft schien für ihn die Zeit langsamer abzulaufen. Da wurden Minuten schon mal zu Stunden.

„Jetzt noch?“, äffte Hercule ihn dann auch sofort nach, wobei er seiner Stimme den schrillen Klang einer Mädcheninternatsleiterin am Rande der Hysterie gab. „Komm, sei kein Frosch!“, fuhr er dann in normalem Tonfall fort. „Wird Zeit, sich vorzustellen. Vielleicht sind’s ja sogar Mädchen, wenn du weißt, was ich meine.“

Ja, Diego wusste durchaus, was Hercule meinte, aber das steigerte sein Interesse in keiner Weise. So langsam ging ihm Hercules verzweifelte Jagd nach einem Körper, den er berühren durfte, auf die Nerven.

Wie lange waren sie jetzt zusammen? Noch keine sieben Stunden, und er fühlte sich schon ziemlich angefressen. Lustlos schlurfte er seinem Mitbewohner hinterher, der sich vor Ungeduld kaum bremsen konnte.

„Stavros Galanis“ und „Daryl O’Fadden“ stand in sauberen Druckbuchstaben auf dem Schild neben der Tür.

„Doch keine Mädchen“, stellte Hercule fest „Aber den Einen kenn ich. Wir hatten in Griechenland mal endviel Spaß miteinander. Jetzt pass auf!“ Im gleichen Moment hämmerte er auch schon mit der Faust an die Tür. „Aufmachen, Polizei!“, brüllte er mit voller Lautstärke.

Hinter der Tür polterte es, als würde ein Stuhl umkippen, und halblaute Stimmen waren zu hören, die sich hektisch etwas zuriefen.

Was war das jetzt? Diego wich einen Schritt zurück. Hatte Hercule etwa gerade eine Marihuana-Party gesprengt? Unwahrscheinlich. Das ganze Gelände gehörte dem Alten Bund, und hier lebten nur Darksider, die so gut wie keine Drogen vertrugen.

Das Rumoren im Zimmer hielt an, und Hercule wummerte nochmals an die Tür, wobei er Diego beifallheischend angrinste. „Na, was ist? Wird’s bald? Tür auf!“

„Moment!“, kam es von innen, und tatsächlich konnte man nach einer kleinen Weile hören, dass das Schloss klickte. Vorsichtig wurde die Tür ein winziges Stück weit aufgezogen und ein Auge erschien, das sie misstrauisch musterte.

„Ihr seid doch keine Cops!“, stellte das Auge fest.

„Aber wir wollen welche werden“, grinste Hercule. „Da üben wir schon mal ein bisschen.“

„Wer ist denn da?“, wollte eine Stimme aus dem Zimmer wissen.

„Zwei Arschlöcher!“, antwortete das Auge.

„Lass uns mal rein“, forderte Hercule. „Wir sind eure neuen Nachbarn.“

„Dieses Haus verkommt mehr und mehr“, meinte das Auge.

„Komm, lass uns rein. War doch nur Spaß.“ Hercule griff in den Türspalt und schob ein wenig.

„Brauchst du deine Finger noch?“, wollte das Auge wissen, und Hercule zog seine Hand blitzschnell zurück. Keine Sekunde zu früh, denn mit einem lauten Knall schloss sich der Spalt.

„He, Stavros! Dann mach du wenigstens auf. Ich bin’s, Hercule. Hercule, dein Freund - aus Patras.“

So etwas wie: „Götter der Tiefsee“, erklang hinter der Tür, aber nach ein paar Sekunden klickte das Schloss wieder, und die Tür schwang auf. Ein hochgewachsener magerer Typ mit buschigen Augenbrauen starrte sie an. Unter seinem linken Auge war ein winziger Dreizack eintätowiert „Tatsächlich! Der Clownsfisch!“, stellte er fest. „Und wer bist du?“

„Das ist Diego, mein bester Freund“, stellte Hercule vor. „Diego, das ist Stavros.“

„Hallo Diego! Bist du auch so ein – lustiger Kerl?“

„Nein“, meinte Diego. „Ich bin total langweilig.“

„Ich auch.“ Stavros drehte sich um und ging ins Zimmer. „Das ist Daryl.“ Er zeigte auf seinen Mitbewohner. Der hatte sich mit verbissenem Gesichtsausdruck über eine PC-Tastatur gebeugt. Mit schnellen Tastenschlägen gab er ein paar Befehle in eine DOS-Shell ein.

Stavros und Daryl hatten ihre Schreibtische in der Mitte des Zimmers zusammengeschoben, und Diego zählte nicht weniger als sieben Bildschirme auf der Arbeitsplatte. Auf denen, die Diego sehen konnte waren vor schwarzem Hintergrund die weißen Schriftzüge „In process, don’t touch!“, zu lesen.

„Was läuft da denn?“, wollte Diego wissen und deutete auf die Monitore.

„Ach, wir formatieren nur gerade mal unsere Festplatten“, erklärte Stavros im Ton bemühter Lässigkeit. „Das machen wir immer, wenn ein Volltrottel an die Tür wummert und `Polizei´ brüllt.“

„Seid ihr Hacker?“ Hercule war plötzlich ganz aufgeregt. „Ihr seid Hacker!“, beantwortete er seine Frage gleich selbst. „Du, Diego, das sind Hacker!“

„Deswegen `In process, don’t touch´. Dahinter wird fleißig gelöscht“, ging es Diego auf.

„Formatiert“, korrigierte Stavros. „Das wird kaum ein Cop wagen, so ein System zu berühren. Könnten ja auch wichtige Uni-Daten sein und auf Schadenersatzklagen stehen die Polizeichefs nicht.“

„Und danach sind die Rechner leer und es kann euch nichts bewiesen werden“, grinste Hercule. „Raffiniert!“

„Ja, raffiniert!“, presste Daryl zwischen den Zähnen hervor. „Da gehen gerade anderthalb Jahre Arbeit über die Klippe. Programme, Adressen, Zugangsdaten, Codes – alles weg.“

„Für immer?“ Diego verstand zwar nicht allzu viel von Computern, aber dass Hacker sich so angreifbar machten, kam ihm unwahrscheinlich vor.

„Externe Sicherungskopie“ antwortete Daryl mit verdrießlichem Gesicht. „Natürlich haben wir Backups. Die liegen auf verschiedenen Servern an der Ostküste. Jetzt können wir den ganzen Mist wieder runterladen. Kostet uns ungefähr eine Woche, alles wieder zu installieren.“

„Oh, oh!“ Hercule war ernsthaft betroffen. „Tut mir Leid.“

„Das Lied kenn ich doch“, meinte Stavros ungerührt. „Dir tut immer alles Leid. - Der Kerl hätte um ein Haar mal unsere Yacht versenkt“, setzte er zu Diego gewandt hinzu.

„Ach, eure auch?“, grinste Diego, der sah, dass Hercule die neue Wendung der Unterhaltung nicht behagte. „Unsere hätte er fast abgefackelt, und was war bei euch?“

„Knöpfchen drücken.“

„Was ist explodiert?“

„Nichts. Zu Anfang durfte er noch auf die Brücke, da hat er in einem unbeobachteten Moment am GPS herumgespielt, und auf einmal hatten wir ein paar Grad Kursabweichung. Hat zuerst Keiner gemerkt, aber plötzlich steckten wir mitten in einem Klippenfeld. Gerade hatte die Ebbe eingesetzt. Wo vorher noch glatte See gewesen war, brachen die Felsen durch die Oberfläche. Rundum war alles voller Gischt, und mit jeder Minute wurde es schlimmer. Hat uns drei Stunden gekostet, bis wir da wieder raus waren.“

„Typisch!“, meinte Diego.

„Jetzt redet doch nicht so. War doch alles keine Absicht.“ Hercule zog die Lippen zwischen die Zähne und sah direkt ein wenig schuldbewusst aus.

„Wann seid ihr eigentlich angekommen? Gestern schon?“, wollte Diego von Stavros wissen.

„Wie, angekommen?“ Stavros sah ihn verständnislos an.

„Jetzt sag bloß nicht, ihr wart gar nicht weg. Keine Semesterferien, oder so?“

„Wieso? Hier gibt es doch alles.“ Stavros zeigte auf die Computer und die leeren Pizzakartons, die sich in einer Ecke stapelten. „Jetzt seid so gut und geht wieder. Wir müssen sehen, dass wir unsere Systeme wieder hochgefahren kriegen.“

„Ich könnte euch helfen“, bot Hercule an, verstummte aber, als er das gefährliche Knurren aus Daryls Kehle hörte.

„Bevor ich dich an mein System lasse - Mister Chaos – musst du mich erst niederschlagen“, gab Stavros bekannt.

„Aber du könntest uns trotzdem helfen“, meinte Daryl, der plötzlich in einen ruhigen Plauderton gefallen war.

„Ja? Wie denn? Was soll ich machen?“ Hercule war begeistert.

„Verpiss dich einfach.“ Daryl zeigte auf die Tür.

„Komm!“ Hercule fasste Diego am Arm und drängte ihn zur Tür. „Ich glaube, wir sind hier im Moment nicht erwünscht.“

Diego hatte zwar nicht den Eindruck, dass die Abneigung sich auf sie beide bezog, kam aber trotzdem mit.

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