DIE GABE

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„Das Bild nehmen wir“, verkündet Daniel bestimmt. „Aus der Gegend kommt meine Familie und da kriegen wir mit Sicherheit auch eine Menge Informationen über diese Zeit und so.“

„Sollen wir wirklich?“ Bea runzelt skeptisch die Stirn.

Ich kann nur nicken. Eine merkwürdige Faszination geht von diesem Bild aus. Ich kann meinen Blick kaum von ihm lösen, als Daniel mich anstößt.

„Träum nicht Lana, mach ein Foto. Ich schreib die Daten des Malers auf und dann sind wir hier fertig“, sagt er und zieht uns energisch ein paar Schritte zurück.

„Okay, stellt euch mal möglichst unauffällig um mich rum.“ Ich packe meine kleine Nikon aus. „Ich versuch’s mal“ flüstere ich und halte die Kamera so, dass sie das Gemälde erfasst.

„Aber ohne Blitz“, flüstert Daniel mir zu.

Ich drehe mich zu ihm um und schaue ihn strafend an.

„Ja ich weiß, du bist nicht zum ersten Mal hier“, murmelt er schuldbewusst.

In der Tat, der Louvre begleitet uns schon die halbe Schulzeit lang und dass man hier nicht ungestraft mit Blitzlicht hantieren kann, weiß sogar eine Lana Rouvier.

Ich mache mehrere Aufnahmen, indem ich die Kamera in meiner offenen Jacke versteckt in Brusthöhe vor mich halte.

Schnell verlassen wir den Saal, ohne dem kritisch blickenden Museumsbediensteten in die Augen zu schauen.

Etwas später beugen wir uns in einer Ecke über meine Kamera und begutachten die Qualität meiner Fotos auf dem Display. Eins ist richtig gut geworden. Man kann sogar das leicht spiegelnde Schild mit der Bildbeschreibung lesen.

„Perfekt!“, murmelt Daniel, „das ist sogar richtig scharf, das wird man problemlos vergrößern können.“

„Hey, da ist er ja schon wieder.“ Bea nickt mit dem Kopf in Richtung des nächsten Saales.

Ich drehe mich um, sehe aber niemanden, der besonders auffällig wäre.

„Wen meinst du denn?“, will Daniel wissen. „Wer ist wieder da?“

„Lanas Verehrer“, grinst Bea. „Der Anzugtyp da vorne.“

„Ach, der schon wieder.“ Daniel winkt ab. „Kennst du den?“, wendet er sich mir zu.

„Nö!“, behaupte ich, und das stimmt ja vielleicht auch. Das einzige Problem bei der Sache ist, dass ich absolut nicht weiß von wem die reden. Da wo sie hinschauen, ist nämlich außer einer älteren Frau mit einem verrückten Hut niemand zu sehen.

„Mmh, jetzt ist er weg!“ Ärgerlich schüttelt Bea den Kopf. „Komischer Kerl!“

Ich hebe kurz die Schultern. „Hier laufen so viele Leute rum, wer weiß, wer das war“, erwidere ich leichthin und wende mich wieder ab. - Ich kann doch unmöglich erzählen, dass ich von Leuten mit hypnotischen Kräften verfolgt werde. Die beiden würden doch sofort wissen wollen, warum. Und dann? Wenn ich die Wahrheit sage, wenn ich ihnen sage, wovor ich wirklich Angst habe, erklären sie mich für verrückt. Lieber tue ich ganz unbefangen: „Na ja, egal, lasst uns gehen, sonst schickt Madame Ulliette noch einen Suchtrupp los.“

Nachdenklich verstaue ich meine Digicam im Rucksack. Verdammt! - Ich habe diesen Typen weder in den Katakomben noch hier gesehen.

04 CAETAN

An der Einfahrt zum Panamakanal gab es den üblichen Rückstau, aber der Kapitän nahm über Funk Verbindung mit der Verwaltung auf und zwei Minuten später war alles geregelt. Die Manhattan war mit ihren hundertvierzig Meter Länge nicht gerade winzig zu nennen, aber im Vergleich zu den Containerschiffen ringsum war sie doch deutlich kleiner. Sich zusammen mit einem Schiff der Panamax-Klasse schleusen zu lassen, kam aber trotzdem nicht in Frage. Die waren allesamt fast dreihundert Meter lang und brauchten die mehr als dreißig Meter breiten Schleusen komplett für sich.

Allerdings gehörte die aus dem Atlantik kommende Luxusjacht dem Großreeder René Felipe Montenaux, der für die Passagen seiner Schiffe jedes Jahr immense Beträge an die Kanalbehörde überweisen ließ. Das beschleunigte die Abfertigung dann doch erheblich. Also wurde noch am späten Nachmittag ein Konvoi aus kleineren Schiffen zusammengestellt, die die Schleusen gemeinsam benutzen konnten. In dieser Gesellschaft würde die große Yacht sofort in den Kanal einlaufen können.

Schon zwei Stunden nachdem die stahlgraue Manhattan in der Wartezone angelangt war, ging es also in einem bunten Pulk kleinerer Motorjachten weiter. Mit mäßiger Geschwindigkeit fuhren sie hinter einem älteren Frachtschiff auf die riesigen Schleusen zu, und ein hochmoderner Gastanker schloss sich ihnen in einiger Entfernung an.

Diego bekam in seiner Kabine von der ganzen Prozedur kaum etwas mit. Die Fahrt durch Mittelamerika interessierte ihn nicht. Die Manhattan war für die offene See gebaut, und die Enge des Kanals hatte bislang bei jeder Durchfahrt bedrückend auf ihn gewirkt. Außerdem hatte er im Moment mehr als genug damit zu tun, sich auf seine Immatrikulation in Berkeley vorzubereiten.

Südfrankreich war im Sommer einer der angesagtesten Plätze der Welt, deswegen war die Lernerei ein wenig zu kurz gekommen. Der Aufnahmetest in Berkeley würde für ihn, den Sohn eines milliardenschweren Reeders, kaum mehr als eine Formsache sein, aber man musste sich ja nicht gleich am ersten Tag blamieren.

Sofort nach der Abreise hatte Diego sich also hinter seinen PC geklemmt und eine wahre Burg aus Büchern um sich herum aufgebaut. Besser spät als nie. Schon erstaunlich, wie schnell Sonne und Strandleben einem das Gehirn lahm legen konnten. Diego war in der angenehmen Umgebung ein wenig faul geworden, und jetzt musste er doppelt und dreifach dafür büßen.

Vor den Fenstern der Kabine tauchte die kurze Abenddämmerung alles in rötliches Licht, und wie immer um diese Stunde waren die Erinnerungen an die letzten Wochen sehr intensiv: Besonders schlimm war es im Moment, dass immer wieder Lana vor Diegos innerem Auge erschien. Regelmäßig war dann an konzentrierte Arbeit nicht mehr zu denken. Viel zu oft saß er nur traumverloren da, starrte mit blicklosen Augen auf den Monitor oder in ein Buch und durchlebte jeden Augenblick mit Lana neu. Nachts schlich sie sich in seine Träume und selbst am Tag wich sie nicht von seiner Seite. Immer war sie in seinen Gedanken bei ihm und Diego hätte alles dafür gegeben, wenn sie auf dieser Reise wirklich hätte dabei sein können. Hier und in Berkeley und überhaupt für das ganze Leben!

Schon zweimal seit der Fahrzeugverladung in Marseille war Diego in das Frachtdeck hinabgestiegen, wo neben den Fahrzeugen seiner Eltern auch sein eigenes Porsche-Cabrio stand. Mit diesem Wagen waren Lana und er in der Provence unterwegs gewesen. Zwar waren ihr Duft und ihre Wärme schon lange verflogen und vergangen, aber trotzdem spürte er immer noch einen Hauch ihrer Energie, ihrer Lebendigkeit, wenn er sich in den Wagen setzte.

Draußen senkte sich die Dunkelheit über das Land und die Manhattan stoppte. Das musste jetzt die erste Schleuse sein. Diego riss sich mit einem tiefen Seufzer aus seinen Wunschträumen und wandte sich wieder dem Buch über Planktonunterarten im nördlichen Golfstrom zu. Das hatte zwar nichts mit seinem Studiengang zu tun, aber er hatte Meeresbiologie als Interessengebiet genannt, und da konnte es durchaus sein, dass die Aufnahmekommission ausloten wollte, wie ernsthaft sein Interesse denn nun wirklich war.

Nach einer unruhigen Nacht wurde Diego am nächsten Morgen durch ein deutliches Hungergefühl geweckt. Er bestellte beim Koch eine Kleinigkeit und ging in den unteren Salon. Das musste heute als Frühsport reichen. Nach dem Essen überkam ihn dann aber doch die Lust, eine Runde zu Schwimmen, also ging er zu dem mit Salzwasser gefüllten zehn mal fünf Meter großen Pool auf dem ersten Oberdeck. Seine Eltern waren schon da und ließen sich mit geschlossenen Augen dicht unter der Oberfläche treiben.

Diego schlüpfte aus seiner Kleidung, ließ sich ins Wasser gleiten und stand sofort mit ihnen in Verbindung. Ein Gefühl der Wärme und Zuneigung umfing ihn, wie er es sonst nur ein einziges Mal erlebt hatte: Das war zusammen mit Lana in der einsamen Badebucht gewesen. Dort, wo sie sich so nahe gekommen waren, wie nie zuvor und nie danach.

Diegos Körper stellte sich um, und nach kurzer Zeit war die Atemluft für ihn verzichtbar geworden. Genau wie seine Eltern ließ er sich ein Stückchen weit unter den Wasserspiegel absacken. Genüsslich spürte er das herrliche Gefühl des Salzwassers auf der Haut und schloss die Augen.

Dummerweise drängte sich ausgerechnet in diesem Moment des höchsten körperlichen Wohlbefindens wieder Lana in seine Gedanken, und natürlich bekamen seine Eltern das mit. Ein Impuls der Heiterkeit ging von ihnen aus, aber auch Verständnis und Sympathie waren spürbar. Diego ließ es gut sein. Es war ja schließlich kein Geheimnis, wie sehr er Lana mochte, und dass auch seine Eltern sich liebten, konnte er spüren, wann immer er mit ihnen zusammen war.

Schließlich drängte das wohlige Gefühl, völlig von Meerwasser umgeben zu sein, alle anderen Gedanken zurück. Nur ein paar Traumfetzen tauchten hier und da auf, aber sie waren zusammenhanglos und allesamt angenehm. Nach einigen Minuten der Selbstvergessenheit schwamm Diego ein paar Runden im Pool, wobei er darauf achtete, seine Eltern nicht zu stören, die immer noch völlig entspannt im Wasser trieben und es sich gut gehen ließen.

Die Manhattan zog ruhig durch das glatte Wasser des Kanals; nur wenn sie die Bugwellen entgegenkommender Frachter kreuzte, reagierte die gewaltige Motoryacht mit einer leichten Verneigung.

Diego hatte sich wieder angekleidet und war auf dem Weg zu seiner Kabine. Er warf der in bedrohlicher Nähe vorbeiziehenden Uferböschung einen kurzen Blick zu und ging weiter. Sie waren bis auf ein paar Ausweichstopps die ganze Nacht durchgefahren und mussten die Passage fast geschafft haben. Die erste Schleusung auf der Pazifikseite lag jedenfalls schon eine Weile hinter ihnen.

 

Diego sah über die Reling hinweg auf die anderen Yachten hinab, die sich um die Manhattan scharten, wie Küken um die Glucke. Anschluss zu halten war ihre einzige Chance, schnell und kostengünstig den Pazifik zu erreichen.

Die Manhattan verlor an Geschwindigkeit. Voraus mussten die Schleusen von Miraflores sein. Danach würde es dann endlich wieder zügig weitergehen.

Frisch ausgeruht setzte sich Diego an die Arbeit. Die Schleusung interessierte ihn nicht, aber als die Manhattan Pazifikniveau erreicht hatte, hielt er es nicht mehr lange aus. Unruhig ging er an Deck und hielt Ausschau.

Auf der linken Seite waren die Hafenanlagen von Panama-City zu sehen. Puerto Balboa befand sich schon auf normaler Meereshöhe und von hier aus war bereits die Bogenbrücke zu erkennen, die noch vor der Stadt den Kanal überspannte. Für Diego war die elegante Stahlkonstruktion immer so etwas wie ein Symbol der Freiheit gewesen, denn wenig später zog dann schon auf der Backbordseite die Skyline von Panama-City vorbei. Die Durchfahrt war geschafft, und vor ihnen lag endlich der offene Pazifik.

Vor die endgültige Freiheit auf den Weiten des Ozeans hatten die Götter des Meeres allerdings die King Caetan VII gesetzt, die ein Stück weit vor Panama-City auf Reede lag. Der luxuriöse Großsegler gehörte dem König des Pazifischen Raums, und der lud die Montenaux´ natürlich über Funk für den Abend ein. Also wurde wieder gestoppt und Diego setzte sich verdrießlich hinter seine Bücher. - Erst die Fahrt im Schneckentempo durch den Kanal und jetzt würden sie noch einen ganzen Tag verlieren. Diese Vereinnahmung unter dem Deckmantel der Gastfreundschaft behagte ihm überhaupt nicht.

Gegen Abend zog Diego sich für die Party um und stellte fest, dass er vor lauter Ärger zum ersten Mal seit seiner Abreise aus Marseille richtig gelernt hatte.

Die Höflichkeit gebot es, etwas vor der Zeit an Bord der King Caetan VII zu erscheinen, damit man sich noch ein wenig unterhalten konnte, bevor die Party begann. Das wurde einfach erwartet, und so war das Beiboot der Manhattan das erste, das längsseits des Großseglers ging.

„Was für ein seltener Besuch!“ Caetan, der König des Pazifischen Raums kam den Montenaux´ mit weit ausgebreiteten Armen auf dem Deck entgegen. Er sah aus wie ein gestandener Mann in mittleren Jahren, aber man sagte von ihm, dass er schon zur Zeit der Kreuzzüge gelebt hatte. Er musste im Lauf seines Lebens hunderte von Jahren an Lebenskraft gestohlen haben. „Schön, dass ihr mal wieder den Weg zu mir gefunden habt.“

„Weg gefunden?“, raunte Diego und handelte sich dafür einen warnenden Blick seiner Mutter ein. Ganz so, wie Caetan es darzustellen versuchte, war es ja nun wirklich nicht. Er hatte mit seinem prächtigen Viermaster förmlich auf der Lauer gelegen, und für die Manhattan hatte es nicht die geringste Chance gegeben, sich unbemerkt vorbeizumogeln.

Caetan hatte einen völlig anderen Charakter als Sochon, der König des Atlantischen Raums. So wie Sochon das einfache Leben schätzte, liebte Caetan den Prunk.

War Sochon eher bescheiden in seinen persönlichen Ansprüchen, so neigte sein Amtskollege aus dem Westen zur Unmäßigkeit in jeder Beziehung. Er liebte gutes, reichliches Essen, die Feste in seinem Palast waren legendär, und vor allem anderen liebte er Neuigkeiten. Er war regelrecht klatschsüchtig. Nur deswegen ankerte er so oft in diesen Gewässern, in denen eine Darksideryacht nach der anderen auftauchte. Es war fast so, als sei das Nadelöhr Panamakanal extra für den König des Pazifiks gebaut worden, um ihn zu erfreuen.

Das war natürlich nicht so, aber trotzdem hatte Caetan seinerzeit beim Bau ein hübsches Bündel Kanalaktien erworben. Eine gute Investition, denn der Kanal war von Beginn an zu einem Lebensnerv der Schifffahrt geworden und die Wertpapiere hatten jedes Jahr eine enorme Rendite abgeworfen.

Nachdem der etwas füllige Caetan Diegos Mutter fest umarmt, dem Vater die Hand geschüttelt und Diego selbst auf die Schulter geklopft hatte, fragte er sofort: „Wie geht es euch denn so? Was gibt es Neues im guten, alten Europa? Man hört ja so einige seltsame Dinge von der Gemeinde in Oostende.“

Diegos Vater lachte und begann zu erzählen, während sie Caetans Wohnbereich ansteuerten. Offenbar wusste er wirklich etwas über die angesprochenen Vorkommnisse in Belgien.

Diego hatte keine Lust daneben zu hocken, während seine Eltern Caetan mit irgendwelchen Klatschgeschichten aus Europa fütterten, also blieb er zurück, stellte sich an die Reling und schaute sehnsüchtig auf den Pazifik hinaus. Die Sonne stand schon dicht über dem Horizont und die ersten Motorboote mit Partygästen kamen an.

Caetan hatte ein eigenes Team, das darauf spezialisiert war, mit einem kleinen Boot an die Yachten heranzufahren und die Leute einzuladen. Eine Gratisparty mit Livemusik bekannter Gruppen bekam man auch als Yachtbesitzer nicht alle Tage geboten und so konnte Caetan sicher sein, dass an jedem Abend reichlich Besucher auf das Deck seines Schiffs kamen. – Nachschub für den ewigen Hunger auf Lebenskraft.

Immer mehr Leute kamen an Bord, aber die meisten der Gäste verschwanden nach der Kontrolle auf Waffen sofort unter Deck; wohl um herauszubekommen, wo es die Gratisdrinks gab und wo das Büfett aufgebaut war. Nahezu jeder von ihnen würde heute Abend unbemerkt einen kleinen Teil seiner Lebenskraft einbüßen.

Diegos Mitleid mit Caetans Gästen hielt sich in Grenzen. Er selbst würde sich nicht an diesem Beutezug beteiligen, aber immerhin bekamen die Leute etwas für ihre unfreiwillige Spende: Einen Abend, den sie wohl ihr - ein wenig verkürztes - Leben lang nicht vergessen würden. Das war die Logik der Darksider, von der auch Diego sich nie ganz hatte freimachen können.

Im großen Salon erklangen die ersten Takte der Musik und das Deck leerte sich. Diego spürte, wie jemand neben ihn trat.

„Wie geht es Sochon?“, sprach Caetan ihn an. „Man hört, er schreibt an einem Buch.“

„Sein Opus Magnum“, bestätigte Diego. „Die Geschichte unseres Volks, so wie er sie erlebt hat.“

„Geschichte?“ Caetan lachte auf. „Was soll denn da drin stehen? Wer soll es lesen?“

„Ich glaube, er macht es mehr für sich selbst.“ Diego hob die Schultern und sah Caetan an. „Auf jeden Fall darf niemand das Manuskript sehen.“

„Niemand?“ Caetan hob erstaunt die Augenbrauen. „Auch du nicht? Immerhin bist du sein Neffe.“

„Niemand!“ Mit einer verneinenden Geste machte Diego klar, dass es sinnlos war, ihn über den Inhalt von Sochons Werk aushorchen zu wollen.

Es war Caetan anzusehen, dass er gerne mehr gewusst hätte, aber mit einem lässig hingeworfenen: „Na, wen interessiert schon die Vergangenheit?“, beendete er zu Diegos Erleichterung von sich aus das Thema. Er wäre aber nicht Caetan, der König des Pazifischen Raums gewesen, wenn er nicht sofort seine Fühler in eine andere Richtung ausgestreckt hätte.

„Wie alt bist du jetzt eigentlich?“ Caetan lächelte Diego an und legte ihm mit väterlicher Geste eine Hand auf die Schulter. „Entschuldige meine Neugier, aber in deinem Alter darf man das doch noch fragen, oder?“

„Kein Problem“, winkte Diego ab. „Ich werde in ein paar Tagen Zwanzig.

„Erdenjahre, richtig?“

„Richtig!“, lächelte Diego. Im Glauben seines Volkes gab es ja auch noch die Planetenjahre, die jeweils vier Erdenjahre lang dauerten. Da war es schon von Bedeutung, welche Zählweise man anwandte.

„Ein schönes Alter.“ Caetan wandte sich von Diego ab und sah auf das Meer hinaus. „Ich habe mir meine erste Frau genommen, als ich Zwanzig war. Das war eine tolle Zeit. – Wirklich ein schönes Alter!“

Ah, darum ging es also. Caetan hatte das Gespräch mit Diego gesucht, um ihm eine seiner Töchter aufzuschwatzen. Jetzt musste Diego schnellstens die Notbremse ziehen, bevor sich in Caetans Kopf etwas verfestigte, was nicht sein konnte. „Hast du eigentlich von der Affaire um Dolores Del Toro gehört?“ fragte er, um Caetan abzulenken.

„Wer hat das nicht?“ Caetan schnaufte unwillig. „Dolores! Sie hat sich Lebenskraft von irgendeinem Touristenmädchen geholt, aber sie hat sich nicht beherrschen können. Sie hat sie fast umgebracht und jetzt gibt es da diese Siebzehnjährige, die aussieht wie eine Greisin. Wie kann man nur so dämlich sein, sich bei so was erwischen zu lassen?“

Ah, so war das also: Die Sache selbst war für Caetan nicht so schlimm. Das Mädchen war ihm nicht wichtig. Es war gesichtslos, namenlos. Nur dass Dolores mit ihrer Tat aufgefallen war, behagte ihm nicht. Diego spürte, wie sich in ihm etwas anspannte. „Ich habe dieses Mädchen gekannt. Sie nannte sich Felix.“

„Ich weiß!“ Caetan sah Diego ernst an. „Du warst es, der dafür gesorgt hat, dass Dolores verurteilt wurde. Du warst der Ankläger, hat Richter Gomez mir erzählt, als er vor einer Woche hier durchgekommen ist. Warum hast du dich so für diese Felix eingesetzt? Sie hat doch sowieso nichts davon.“

„Weil es so richtig ist, und ich war es meiner Freundin schuldig.“

„Diese Felix war deine Freundin?“ Caetan sah Diego erstaunt an.

„Nein, aber Lana hat sie auch gekannt.“

„Wer ist Lana?“

„Meine Freundin. Dolores wollte sie übrigens umbringen. Sie wollte sie mit ihrer Yacht überfahren. Ich konnte sie gerade noch retten.“

„Deine Freundin? Mit der Yacht überfahren? Du bist mit einer Fremden befreundet? Mit einer Luftatmerin?“

„Sie ist fantastisch!“ Diego gab seinen sowieso schon strahlenden Augen noch ein wenig Extraglanz.

„Ach so! Glückwunsch!“ Caetan klopfte Diego kräftig auf die Schulter und wandte sich wieder dem Meer zu. Wenn er enttäuscht war, ließ er es sich nicht anmerken, aber Diego spürte, dass das Thema für den König des Pazifiks noch nicht abgeschlossen war. Caetan konnte sehr zäh sein, wenn es um seine Interessen ging. Mit Sicherheit würde er auch weiterhin versuchen, Diego mit einer seiner Töchter zu verheiraten.

Die Band hatte eine kleine Pause gemacht, aber jetzt erklang wieder Musik im Salon. Caetan drehte sich zu Diego um. „Lass uns reingehen“, sagte er. „Die Band ist ziemlich teuer. Wäre schade, wenn wir noch mehr versäumen würden.“

Diego war es nur recht, dass das Verhör beendet war und gemeinsam drängten sie sich durch die Menschen, die vor der Tür in der warmen Abendbrise standen und sich unterhielten. Es waren natürlich viele Fremde dabei: Luftatmer von den Motoryachten, die hier zu Dutzenden herumfuhren.

Diego sah, dass einige Leute seines eigenen Volks schon dabei waren, sich zu bedienen. Sie standen nah bei den Fremden und nahmen ohne viel Umschweife Körperkontakt auf. Jeder von ihnen hatte seinem Nachbarn einen Arm auf die nackten Schultern gelegt, oder sonst eine Möglichkeit gefunden, um die Lebenskraft von Haut zu Haut fließen zu lassen. Manche von ihnen hatten sich diskret in schummrige Winkel zurückgezogen, während andere sich in aller Öffentlichkeit bedienten. Niemand nahm Anstoß daran. Keiner der Gäste wunderte sich über die Distanzlosigkeit der Gastgeber, so sehr standen sie unter dem Einfluss der Darksider.

Die Musik und die genau kalkulierte, sanfte Decksbeleuchtung verbreiteten eine gemütliche Atmosphäre, Alkohol und sonstige Drogen taten ein Übriges, und natürlich setzten die Darksider auch ihre hypnotischen Fähigkeiten ein, um die Wachsamkeit ihrer Opfer zu mindern.

Auch Caetan blieb plötzlich stehen und nahm ohne zu zögern mit einer freundschaftlichen Geste eine Frau in die Arme. Die Fremde lachte geschmeichelt auf. Es gefiel ihr, dass sie vom Gastgeber dieser prächtigen Party beachtet wurde, während jemand, der nur ihr Mann sein konnte, schafsmäßig grinsend daneben stand.

Diego drängte sich an der Gruppe vorbei. – Wie viel Lebenskraft mochte Caetan der Frau wohl nehmen? Tage, Wochen oder Monate? Vielleicht sogar Jahre?

Die Erinnerung an das Kind, das er ohne es zu wollen getötet hatte, drängte sich in Diegos Bewusstsein. Als Fünfjähriger hatte er ein kleines Mädchen umarmt, um es zu trösten, und plötzlich war da diese Gier gewesen. Er hatte die Lebenskraft aus ihr herausgesaugt, bis sie völlig verbraucht war. Diego hatte sich nicht unter Kontrolle gehabt, und die Kleine war in seinen Armen gestorben. Jahrelang hatte er es nicht gewagt, andere Menschen auch nur flüchtig zu berühren und noch heute lehnte er es ab, sich auf diese Art seine Jugend zu erhalten. Der Gedanke, dass auch seine Eltern sich bestimmt gerade ihr Quantum Jugend für die nächsten Tage holten, gefiel ihm nicht, aber schließlich machten sie das schon seit hunderten von Jahren. Es war nicht seine Sache, sie dafür zu verurteilen, dass sie so lebten, wie sie es gewohnt waren.

 

Diego betrat den Raum, der ganz den Eindruck eines kleinen Ballsaals machte. Er lehnte sich nahe beim Eingang an das Geländer, das Tanzfläche und Sitzbereich trennte. Caetan kam schon nach und verschwand links von ihm im Halbdunkel zwischen den Tischreihen. Diego hoffte für die Frau, dass er nicht zu gierig gewesen war.

Die Band war nicht nur teuer, wie Caetan gesagt hatte, sondern auch sehr gut. Wieder mal war es ihm gelungen, eine Gruppe von Musikern auf sein Schiff zu holen, die anderswo mühelos große Hallen füllen konnte. Das glaubte er sich schuldig zu sein, denn immerhin war er der König des Pazifiks, da reichte es schließlich nicht aus, bei den Partys bloß eine teure Stereoanlage voll aufzudrehen.

„Na, hast du dich gut mit Caetan unterhalten können?“, fragte Diegos Vater und beugte sich ein wenig vor.

Die Party war vorbei, die Gäste waren wieder auf ihren Booten und die Musiker feierten noch ein wenig an der Bar, wo ihnen ein paar Darksidermädchen Gesellschaft leisteten. Die Montenaux´ hatten sich von Caetan verabschiedet und Diego saß mit seinen Eltern im Heck des acht Meter langen Beiboots der Manhattan.

„Ach, Caetan ist ganz in Ordnung. Er sucht wohl immer noch einen Schwiegersohn“, meinte Diego.

René Montenaux schüttelte verständnislos den Kopf. „Seine Töchter wollen doch gar nicht heiraten. Marisa hätte Angst, dass sie nicht mehr so oft ihre geliebten Partys feiern kann und Louisa hält sowieso nicht viel von Männern. – Und gerade die würde er gerne mit dir verheiraten.“

„Ich weiß.“ Die Eigenheiten der jüngsten Töchter Caetans hatten sich auch schon bis zu Diego herumgesprochen, nur der König selbst wollte es nicht wahrhaben, dass es familiär bei ihm ein wenig aus dem Ruder lief. Im Lauf seines mehrhundertjährigen Lebens hatte er sich wohl einige Moralvorstellungen der Luftatmer zu Eigen gemacht. So war er bemüht, Normalität zu heucheln, obwohl es eigentlich gar nicht nötig gewesen wäre. Nach den Regeln des Alten Bundes war jedenfalls alles in bester Ordnung, und eigentlich hätte ihn nur das interessieren müssen.

„Eine Ehe zwischen Lou und mir wäre wohl für beide eine ziemliche Katastrophe. Trotzdem hat Caetan mir so ganz nebenbei erzählt, was für eine schöne Zeit er erlebt hat, als er frisch verheiratet war. Eine Werbebotschaft reinsten Wassers!“

„Und?“

„Ich habe ihm was von Lana vorgeschwärmt, das hat sein Interesse vorerst gedämpft.“

„Kann ich mir vorstellen!“ Der Vater konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.

„Der hat es gerade nötig, Reklame für die Ehe zu machen.“ Diegos Mutter verzog das Gesicht. „Der muss jetzt so ungefähr zum siebzehnten Mal verheiratet sein.“

„Siebzehn Mal? Das wusste ich gar nicht. Na, offenbar braucht er es immer etwas reichlicher.“

„In allem was er tut“, bestätigte der Vater. „Gut, dass du aus der Sache so elegant rausgekommen bist. Ich will ihm ja nicht unrecht tun, aber als Schwiegervater für dich kann ich ihn mir nicht so richtig vorstellen.“

„Ich auch nicht“, lachte Diego. „Er ist ja ziemlich in Ordnung, aber spätestens nach einem halben Tag geht er mir ganz gefährlich auf die Nerven. Er kann einen einfach nicht in Ruhe lassen. Das hat er nicht drauf. – Na, irgendwann wird er aufgeben. Jetzt muss ich nur noch Hercule loswerden. Das ist auch so einer, der den ganzen Tag nur rumnervt. Den kann ich in Berkeley nun wirklich nicht gebrauchen. – Wie sind seine Eltern bloß darauf gekommen, dass wir uns eine Studentenbude teilen sollen?“

„Ich habe mit ihnen gesprochen.“ Der Vater sah Diego ernst an. „Die LaSalles haben mittlerweile auch mitgekriegt, dass ihr Sohn ein bisschen überdreht ist. Sie hoffen, dass du da ein wenig aufpassen kannst, damit er sich nicht allzu sehr in Schwierigkeiten bringt.“

„Was? Ich soll auf den aufpassen? Der taumelt doch von einer Katastrophe in die andere, schneller als ich ´Stop` sagen kann. Weißt du noch, wie er mal für ein paar Wochen bei uns auf dem Schiff war, und wie er unbedingt Tontauben schießen musste, als ein japanisches Küstenwachboot uns gerade gestoppt hatte? Der Kerl hätte fast den dritten Weltkrieg ausgelöst.“

„Ja, weiß ich noch“, nickte der Vater. „Plötzlich krachten ein paar Schüsse auf dem Achterdeck, niemand wusste, was los war, und innerhalb von Sekunden waren zwei Schnellfeuerkanonen mit grimmigen Japanern dahinter auf uns gerichtet.“

„Oder wie er versucht hat, aus Küchenzutaten und Dieselöl einen Feuerwerkskörper zu bauen?“

„Immerhin ist es ihm gelungen“, lachte der Vater. „Ich würde das Ding aber eher einen Brandsatz nennen.“

„Jetzt kannst du darüber lachen, aber ich erinnere mich, dass du damals ganz schön sauer warst. Seine Kabine war ziemlich angekokelt und für den Rest der Reise nicht mehr zu gebrauchen“, meinte die Mutter.

„Genau!“, bestätigte Diego. „Da habe ich dann zum ersten Mal mit ihm zusammengewohnt, und ich muss sagen, ich bin heute noch satt davon. Mir reichts!“

„Damals war er Zwölf oder Dreizehn“, versuchte der Vater abzuwiegeln. „Außerdem war er nur an Bord, weil die LaSalles uns einen Gefallen tun wollten.“

Tatsächlich war es so gewesen, dass Diego damals sehr viel Zeit auf der Yacht seiner Eltern verbracht hatte und zu vereinsamen drohte. Hercules Gesellschaft hatte da aber doch nicht helfen können. Dazu war er schon damals zu oberflächlich gewesen.

„Ich finde übrigens auch, es wäre ganz gut, wenn er in Berkeley jemanden neben sich hat, der ihn ein wenig bremst“, fuhr der Vater fort.

„Und das soll ausgerechnet ich sein? Also ernsthaft: Ich halte das für eine ziemliche Zumutung.“

„Tu uns den Gefallen“, bat die Mutter. „Und die LaSalles würde es auch beruhigen.“

„Ist ja schon gut! Ich mache es ja. Ich werde ihn behandeln, wie einen Bruder. Es ist ein verdammt großes Opfer, aber wenn es denn sein muss ...“

„Willkommen im Leben.“ Das war alles, was Diegos Vater dazu zu sagen hatte.

„Ist ja erst mal nur für ein Semester“, versuchte die Mutter Diego zu beruhigen.

„Tolle Aussichten“, knurrte der leise vor sich hin. Zumindest das erste Halbjahr seines Aufenthalts in Berkeley war ihm jetzt schon vermiest.