DIE GABE

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„Oh ja, da hat sie leider Recht“, sagt Bea zu Hervé und verzieht betrübt die Lippen.



„Außerdem hab ich genug von unterirdischen Gängen“, fügt Madame Ulliette hinzu. „Ein bisschen frische Luft wird uns nach diesem Moder in den Katakomben bestimmt gut tun!“ Das allseitige Murren nimmt sie als Zustimmung und marschiert einfach los.



Als wir ihr zögernd zur Metro folgen, sehe ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung am Ausgang der Katakomben. Ein Mann tritt blinzelnd auf die sonnige Straße und schaut sich suchend um. Wie zufällig streift mich sein Blick. Mir wird ganz kalt. Ich hake mich bei Bea ein, ziehe sie vorwärts und drängele mich durch die Gruppe unserer Mitschüler, ohne auf ihre Proteste zu achten.



„Was ist denn mit dir los?“, mault Bea neben mir und gerät fast ins Stolpern, so heftig reiße ich an ihrem Arm. „Wieso hast du es denn plötzlich so eilig? Werden wir verfolgt?“ Sie schaut neugierig zurück und sagt dann laut - viel zu laut: „Na der hat sich seine Schuhe aber auch ganz schön ruiniert. Warum starrt der uns denn so an?“



Ich drehe mich nicht um und zerre weiter an ihrem Arm. Wieder spüre ich diese knisternde Anspannung in meinem Rücken.



„Was ist denn nur los mit dir?“, meckert Bea. „Du bist heute so komisch, so als wärest du vor irgendwas auf der Flucht. Vorhin da unten auch schon.“



Wenn sie wüsste, wie Recht sie hat. Ich bin auf der Flucht. Auf der Flucht vor den Schatten des Sommerurlaubs in Port Grimaud. Auf der Flucht vor Darksidern, die mich schon einmal entführt und fast umgebracht haben. Ich habe immer noch Angst vor Dolores´ Leuten.



„Jetzt sag doch mal, was ist los mit dir?“, drängelt Bea.



„Erzähl ich dir später“, murmele ich gereizt und zerre sie weiter, bis wir endlich in die nächste Straße einbiegen und im Schutz der hohen Häuser verschwinden können.





02 DER AUFTRAG




Der Tod in all seinen Erscheinungsformen konnte Thakur nicht schrecken. Als Kind hatte er Menschen am Straßenrand verhungern und an Krankheiten sterben sehen. In Kalkutta war das Alltag gewesen, und das Schwimmen hatte er im heiligen Ganges gelernt, dem Fluss, in dem die schlecht verschnürten Überreste verbrannter Leichen zu jeder Stunde des Tages auf das Meer hinaustrieben. Trotzdem spürte er die besondere Atmosphäre, als er in die Katakomben hinabstieg. Die Erinnerung an die Sterblichkeit war so allgegenwärtig, wie an kaum einem anderen Ort der Welt. Die Nischen voller Gebeine und die in langer Reihe an den Wänden aufgehängten, mumifizierten Körper längst verstorbener Würdenträger übten selbst auf Thakur eine niederdrückende Wirkung aus, der er sich nicht entziehen konnte.



Schweigend ging er den Gang entlang und schaute sich gründlich um, denn hier unten gab es etwas, das er unbedingt sehen wollte: Die kleine Rosalia Lombardo, die man 1920 hier bestattet hatte, und deren Körper dem Verfall so gut widerstanden hatte, dass sie wie schlafend wirkte.



Thakur empfand es als angenehm, dass die Katakomben für die Dauer seiner Besprechung mit dem Abgesandten gesperrt worden waren. Mitten am Tag ganz allein hier in dem Gewölbe zu sein, war ein Privileg, das nur wenige für sich in Anspruch nehmen konnten. Dass diese Ehre gerade ihm, dem Paria aus den Slums von Kalkutta zuteil wurde, machte ihn stolz. Zugleich zeigte es ihm die Macht seiner Auftraggeber. Bestimmt ließen die Kapuziner sich nicht gerne in ihre Belange reinreden, aber sie waren dem Wunsch des Heiligen Pakts nachgekommen, wie das handgemalte Schild bewies, das alle Touristen während der Mittagsstunde fernhielt.



Ein Gebilde zog Thakurs Blick auf sich, das so ganz und gar nicht in diese Umgebung passte. Es sah aus wie eine Astronauten-Schlafkapsel aus einem Zukunftsfilm. Er trat näher heran, und da war sie: Rosalia Lombardo.



Thakur empfand es als befremdlich, dass man den kleinen Sarg mit dem gläsernen Deckel in diesen größeren Sarkophag aus Edelstahl und Glas eingeschlossen hatte. Sicher, das war wohl nötig gewesen, um den kleinen Körper vor dem Verfall zu bewahren, aber das Ding wirkte in diesem spätmittelalterlichen Gewölbe wie ein Schlag ins Gesicht. Ein Anachronismus der übelsten Sorte.



Rosalia Lombardo lag genauso da, wie es in allen Beschreibungen stand. Das unschuldige Kindergesicht entspannt und wie im Schlaf. Zarte Locken waren in die Stirn drapiert und unterstrichen noch die scheinbare Lebendigkeit der Szene.



Thakur nahm das Bild in allen Einzelheiten in sich auf und wandte sich dann ab. Der Glas- und Stahlüberbau und das leise Sirren des Lüftungsventilators ließen es nicht zu, dass der besondere Zauber der Kleinen zur Wirkung kam. Es war vielmehr, als stände man im Supermarkt des Todes vor der Kühltheke mit einer ganz besonderen Ware darin. Mehr nicht.



Geräusche klangen vom Eingang her auf. Wenige Sekunden später kamen zwei ernst blickende Männer in dunklen Anzügen in Thakurs Blickfeld. Zielstrebig gingen sie auf den Mann mit den orientalisch anmutenden Gesichtszügen zu.



Automatisch hob Thakur die Hände in Schulterhöhe und ließ sich von einem der Bodyguards abtasten, während der andere seinen Kollegen von der Seite her absicherte. So war es immer gemacht worden, wenn Thakur einen Abgesandten des Heiligen Pakts traf, und so würde es auch immer bleiben. Man traute ihm nicht, und Thakur konnte es den Leuten nicht verübeln. Schließlich war er ein Jäger – ein bezahlter Mörder, ein Werkzeug für die Drecksarbeit die manchmal zu tun war. Wer wollte seinen Auftraggebern garantieren, dass dieses Werkzeug sich eines Tages nicht gegen sie richtete? Das konnte niemand, und deswegen wurde er jetzt nach Waffen durchsucht. Als Kind in den Straßen von Kalkutta hatte er schlimmere Demütigungen erfahren, und auch das hatte er ausgehalten.



Der Bodyguard fand natürlich nichts und trat zurück.



Thakur lächelte. Absicherung und Feuerschutz oder nicht: Es wäre für ihn eine Kleinigkeit gewesen, die beiden klotzigen Kerle innerhalb von Sekunden außer Gefecht zu setzen, aber darum ging es hier ja nicht. Offenbar hatte der Heilige Pakt beschlossen, dass mal wieder ein Darksider sterben musste, und dieses Treffen in der Kapuzinergruft von Palermo diente dazu, den Vertrag auszuhandeln.



Die Bodyguards trennten sich und brachten sich an den entgegengesetzten Enden des Hauptgangs in Stellung. Einer von ihnen sprach mit gedämpfter Stimme in sein Sprechfunkgerät. Sekunden später flutete Tageslicht die Treppe hinab und Schritte wurden laut.



Ein hoch gewachsener Mann kam in das Gewölbe. Ohne die Mumien und Gebeine zu beachten kam er mit schnellen Schritten den Gang entlang.



Im Sonnenlicht, das durch die weit oben eingelassenen Buntglasfenster in den Raum fiel, konnte Thakur erkennen, dass der Mann dunkle Haare hatte, die von weißen Strähnen durchzogen waren. Sein Gesicht und die Hautfarbe ließen auf eine Herkunft aus dem Mittelmeerraum schließen.



Vielleicht ein Araber? Thakur wusste es nicht und es war ihm auch egal. Es unterstrich nur wieder einmal, dass sich in dem Hass auf die Darksider offenbar alle namhaften Religionen einig waren. Seinen letzten Auftrag hatte Thakur mitten im Aokigahara-Wald von einem uralten Japaner in einer braunen Kutte bekommen. Einziger Zeuge war ein schon seit Wochen toter Selbstmörder gewesen, der sich in seiner letzen Minute sitzend an einen Baum gelehnt hatte.



Davor war es ein Russe gewesen, der den Auftrag erteilt hatte. Das war an einem der Türme des Schweigens nahe Bursa geschehen. Man musste schon zugeben, dass der Heilige Pakt ein Gespür für Dramaturgie und unheimliche Orte hatte.



Der Abgesandte kam bis auf zwei Schritte an Thakur heran und blieb stehen. „Ich soll Ihnen Gruß und Segen des Heiligen Pakts überbringen, Thakur“, begann er.



„Danke!“ Thakur verneigte sich leicht. „Stets zu Diensten.“



„Wo sind Ihre Bluthunde?“



Thakur lachte leise auf. „Sie werden da sein, wenn ich sie brauche.“



„Ist die gute Christin noch dabei – diese van Vliet?“



„Sicher!“



„Und Isaak, der alte Haudegen?“



„Izzy Silverman? Sie kennen ihn?“



„Wir hatten mal miteinander zu tun“, wich der Fremde aus. „Ist er noch dabei?“



„Natürlich!“



„Fein! Sie werden gute Leute brauchen.“ Der Abgesandte schaute Thakur in die Augen. „Diesmal geht es ums Ganze. Wir wollen, dass Sie der Schlange den Kopf abschlagen.“



„Sie wollen einen König?“



„Nein, wir wollen beide! Caetan beim Fest des Wassers, Sochon bei der nächsten Jahrwerdung. Ist das für sie machbar?“



Thakur zeigte sich unbeeindruckt. „Ich bin der beste Jäger und ich habe die beste Meute. Wenn ich es nicht schaffe, dann schafft es niemand!“



„Hochmut ist Sünde.“



Thakur winkte ab. „In Ihrer Religion vielleicht. In meiner nicht! Zu den üblichen Bedingungen?“



„Die üblichen Bedingungen. Machen Sie es so spektakulär wie es nur geht. Die Bande soll wissen, dass sie nirgends sicher ist. Aber denken Sie daran: Wenn ein Mensch bei der Sache zu Schaden kommt, ist der Vertrag erloschen, und Sie stehen selbst auf der Todesliste.“



„Es gibt Sympathisanten“, gab Thakur zu bedenken. „Sind die nicht genauso schlimm wie die, die sie beschützen? Sind das nicht Verräter an der menschlichen Rasse? Warum sollen die geschont werden?“



„Ich bin ganz Ihrer Meinung.“ Der Abgesandte seufzte tief auf. „Aber der Heilige Pakt lässt nicht mit sich reden. Nur Darksider und keine Menschen! Die üblichen Bedingungen also, damit das klar ist.“



„Das Fest des Wassers ist in fünf Monaten, Jahrwerdung erst im übernächsten Frühjahr. Ein Vorschuss wäre nicht schlecht“, forderte Thakur. „Zweihundertfünfzigtausend Dollar pro Job.“



„Genehmigt!“

 



„Wie? Einfach so genehmigt?“ Jetzt war Thakur doch etwas irritiert. Er hatte mit mehr Schwierigkeiten gerechnet.



„Der Heilige Pakt wusste, dass Sie das fordern würden.“



„Dann will ich ihn nicht nur heilig sondern auch weise nennen.“



„Darf ich das so weitergeben?“, lachte der Abgesandte auf.



Thakur lächelte höflich, aber das Gespräch glitt für seinen Geschmack ein wenig zu sehr ins Persönliche ab. „Lassen Sie uns weiter über Geld reden.“



„Gut“, stimmte der Abgesandte zu. „Reden wir über sehr viel Geld.“




Ein paar Augenblicke lang blieb Thakur in der Deckung des Eingangs zur Gruft stehen und sah sich gründlich um, bevor er auf die sonnenüberflutete Piazza de la Cappucine hinaustrat. Izzy stand an der Tankstelle etwas abseits der Zapfsäulen bei einem älteren Fiat Croma. Der Schatten einer kümmerlichen Palme fiel auf das Fahrzeug. Izzy hatte die Motorhaube geöffnet und hantierte etwas linkisch an der Maschine herum. Es musste jedem Beobachter so vorkommen, als habe er Schwierigkeiten mit dem Wagen, aber Thakur wusste, dass er im Notfall in Sekundenschnelle fahrbereit sein würde. Niemand konnte jemals auf die Idee kommen, dass dieser verloren aussehende, schon etwas ältere Mann einen sportgestählten Körper hatte und die 100 Meter mit Leichtigkeit unter zwölf Sekunden schaffte. Schon gar nicht hätte man vermutet, dass er unter seinem Hawaiihemd zwei großkalibrige Schnellfeuerpistolen verbarg, mit denen er hervorragend umzugehen verstand.



Während Thakur mit langsamen Schritten die Piazza überquerte, nahm er aus den Augenwinkeln wahr, dass auch Greta van Vliet auf ihrem Posten war. Sie hatte sich unter die Touristen gemischt, die darauf warteten, dass die Katakomben wieder geöffnet wurden und beschäftigte sich mit einer kleinen Digitalkamera. Jetzt sah sie auf ihre Armbanduhr, schüttelte leicht den Kopf, verließ die Gruppe der bunt gekleideten Urlauber und ging ebenfalls auf die Tankstelle zu. Ihre Bewegungen waren ruhig und geschmeidig. – Nur eine schlanke, rothaarige Touristin, der das Warten zu langweilig geworden war.



Der Angestellte, der vor dem Gemüseladen gegenüber die Kisten zurechtrückte, warf ihr einen bewundernden Blick zu, den sie aber nicht zu bemerken schien. Achselzuckend wandte der Mann sich wieder seiner Arbeit zu.



Izzy sah seine beiden Kollegen herankommen und schloss mit einem letzten, prüfenden Blick die Motorhaube. Mit langsamen Schritten ging er vorne um den Croma herum und setzte sich genau in dem Moment hinter das Steuer, als Thakur und Greta den Wagen erreichten. Greta setzte sich auf den Beifahrersitz, während Thakur die bequeme Rückbank für sich beanspruchte.



Silverman ließ den Croma an und fuhr los. Scheinbar willkürlich bog er in verschiedene Straßen ein und erst nach einigen Minuten, als feststand, dass sie nicht verfolgt wurden, eröffnete er das Gespräch: „Was hat denn mein alter Freund Maged mit der Sache zu tun?“



„Alter Freund?“ Thakur zog die Augenbrauen hoch.



„Nur so eine Redensart. Ich hatte mal dienstlich mit ihm zu tun.“



„Beim Mossad?“



„Allerdings! Er war bei der Hisbollah. Sag bloß, der arbeitet jetzt für den Heiligen Pakt?“



„Scheint so.“ Thakur hob die Schultern. „Auf jeden Fall hat er mir den Auftrag erteilt.“



„Wer ist es?“ Greta drehte sich auf ihrem Sitz halb zu Thakur um.



Der beugte sich auf dem Rücksitz vor. „Es sind zwei.“



„Wer ist der Erste?“



„Caetan.“



„Oh, der Herrscher des Pazifiks“, stellte Greta fest. „Ich hoffe, du hast gut verhandelt.“



„Wenn die Jobs erledigt sind, brauchen wir nie wieder einen Handschlag zu tun.“ Thakur grinste Greta an.



„Wer ist der Zweite?“, wollte Izzy wissen.



Thakur beugte sich noch weiter vor, damit Greta und Isaak ihn besser verstehen konnten. „Sochon.“



„Der König des Atlantiks auch!“ Greta war das Erstaunen anzumerken, während Izzy nur stumm nickte.



„Genau, beide Könige!“ Thakur lehnte sich behaglich zurück. „Aber zuerst Caetan.“



„Dann mal an die Arbeit“, sagte Greta und Izzy gab Gas. Sie hatten drei Plätze in der Nachmittagsmaschine nach Paris gebucht. Von dort aus konnte man jeden Punkt der Erde in wenigen Stunden erreichen. Die Jagd hatte begonnen.





03 DAS GEMÄLDE




Endlich erreichen wir das Tor zum Louvre am Place du Carrousel. Ich bin fußlahm. Meinen nassen Schuh habe ich inzwischen halbwegs trocken gelaufen. Er gibt beim Gehen keine quietschenden Geräusche mehr von sich, dafür hat sich aber die Socke als gekringelte Wurst nach vorne zu den Zehen hin verabschiedet. Ich habe nur noch einen Wunsch: Ich will mich irgendwo hinsetzen und den Schuh los werden, um endlich diese verfluchte Socke wieder hochzuziehen.



„Boah!“ sagt Bea, „ich muss mich setzen, ich kann nicht mehr!“



„Ich auch“, stöhne ich, „Ich muss unbedingt meinen blöden Schuh ausziehen. Ich glaube, ich hab mir eine Blase gelaufen.“



Auch die andern jammern und schnaufen gequält.



Madame Ulliette, die mit unverminderter Energie vor uns hermarschiert, dreht sich um und bleibt stehen. „Nun stellt euch doch nicht so an, war doch nur ein kurzer Weg!“, grinst sie herausfordernd.



„Ja, ja“, meint Daniel, der längste aus unserer Klasse, ein dunkelhaariger, sympathischer Kerl mit tiefer warmer Stimme, „ein kurzer Weg für Madame Ulliette, aber ein langer Weg für die Menschheit!“



„Ach Daniel!“ Madame Ulliette hebt kopfschüttelnd die Augenbrauen. „Du immer mit deinen theatralischen Kommentaren!“



„Wir können aber wirklich nicht mehr!“, jammert Coco und wir alle brechen wie auf Verabredung in verzweifeltes Stöhnen und Seufzen aus.



„Na gut!“ Madame Ulliette verzieht missmutig das Gesicht und verdreht die Augen, „dann setzen wir uns eben einen Moment hier auf die Treppen.“ Kaum hat sie diese Worte ausgesprochen, stürmen wir zu den Treppenstufen und lassen uns dort fallen wie hingeschlachtete Lämmer.



„Ihr solltet Komiker werden mit eurem Sinn für melodramatische Posen“, murrt sie, „man meint gerade, ich hätte euch im Zweitagesmarsch von Paris nach St. Petersburg geführt!“ Kopfschüttelnd schaut sie uns an. „Keine Kondition mehr, diese Jugend! Aber bis in die Nacht hinein am PC hocken!“



„Da müssen wir uns ja auch nicht bewegen, da können wir mit ein paar Mausklicks die Welt erforschen“, meint Daniel leise.



Mit den Worten „Diese Jugend“, betrachtet unsere Lehrerin aufseufzend die große gläserne Pyramide, in der der Eingang zum Louvre liegt. Schließlich lässt sie sich am Rand der Treppe auf einer Stufe nieder. „Sagt mir Bescheid, wenn ihr armen alten jungen Leute euch ein wenig erholt habt!“, meint sie noch, faltet die Hände über ihrem Bauch, lehnt den Kopf seitlich an die Mauer und schließt die Augen.



Daniel sitzt hinter mir auf der Treppe und stellt mir seine Knie als Rückenlehne zur Verfügung, nachdem ich endlich meine blöde Socke wieder in Ordnung gebracht habe. Eine Wohltat!



Daniel beugt sich vor und flüstert mir leise ins Ohr: „Die hat aber auch einen Sinn für melodramatische Posen.“



„Das habe ich gehört!“, brummt Madame Ulliette mit geschlossenen Augen.



„Hat einer von euch was zu trinken mit? Ich hab Durst“, jammert Coco nach einer Weile.



„Und ich hab Hunger“, murmelt Bea neben mir.



„Stellt euch vor, ich hab beides“, seufzt Hervé auf.



Madame Ulliette steht schwungvoll auf und klatscht in die Hände. „Also bevor ihr jetzt hier alle vollkommen schlapp macht, gehen wir lieber rein.“



Murrend erheben wir uns und folgen ihr in die Glaspyramide.



„Du hattest doch Durst“, grinst Daniel zu Coco hinüber und deutet auf die Wasserbecken, die die Pyramide symmetrisch umgeben.



„Ha, ha, sehr witzig“ brummt Coco und boxt ihn in die Seite.



„Benehmt euch jetzt aber!“, mahnt uns Madame Ulliette mit erhobenem Zeigefinger. Sie geht vor, und wir fahren mit der Rolltreppe in die Halle unter der gläsernen Pyramide.



„Ob der niedliche Typ noch da ist, der die Multimedia-Führer ausgibt?“, flüstert Bea mir grinsend zu und reckt den Hals, um besser sehen zu können.



„Findest du den echt gut? Der hat doch’n Bart.“



Bea zuckt mit den Schultern. „Na und?“



Madame Ulliette verteilt die Tickets. „So Kinder, ihr wisst Bescheid. Wie es läuft, haben wir ja gestern schon besprochen. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch einen Führer holen, ihr könnt aber auch so losmarschieren. Ihr habt zwei Stunden Zeit. Also ab jetzt“, sie schaut auf ihre Armbanduhr, „bis 16.00 Uhr wieder hier in der Halle. Ich hoffe, ihr habt auch alle was zu schreiben mit.“ Skeptisch verzieht sie den Mund und hebt eine Augenbraue.



„Also ich hole mir so einen Multimedia Guide“, verkündet Bea und geht los. War ja klar.



„Oh Mann, wir waren doch schon so oft hier!“, maule ich.



Statt einer Antwort dreht sich Bea nur um und zwinkert mir grinsend zu, während sie rückwärts weitergeht.



Ich hab’s kommen sehen: Als sie sich wieder umdreht, rennt sie mit voller Wucht gegen einen älteren Japaner. Der Mann verbeugt sich ganz erschrocken immer wieder vor ihr, wobei er aufgeregte Worte murmelt.



Bea steht ganz verdattert vor ihm, ringt die Hände und stottert mit hochrotem Kopf „Entschuldigung! Sorry! Pardon!“ Hilflos sieht sie zu mir rüber. „Lach nicht, du dumme Kuh, er hört gar nicht mehr auf, sich zu verbeugen. Sag mir lieber, was Entschuldigung auf Japanisch heißt.“



„Woher soll ich das ...“



„Shazai“, unterbricht mich Daniel, als er neben mich tritt. Klar, dass er das weiß. Sein Vater ist Diplomat, und er ist in vier verschiedenen Ländern aufgewachsen. Wahrscheinlich kennt er auch alle Flüche, die brasilianische Taxifaher so draufhaben.



„Shazai? - Echt?“ Bea zögert zweifelnd, versucht es dann aber doch mit diesem Wort, einem freundlichen Lächeln und einer leichten Verbeugung. Der Japaner lächelt zurück und geht, sich nochmals verbeugend, seiner Wege.



Sichtlich erleichtert dreht sich Bea wieder zu uns um. „Ich hatte schon fast mit einer Ohrfeige gerechnet“, sprudelt sie hervor, „Ich trau dir nämlich nicht, mein Lieber!“



Daniel grinst nur.



„Was grinst du denn so, das hieß doch wirklich

Entschuldigung

 oder?“ Bea ist immer noch misstrauisch und schaut sich nach dem Japaner um, aber der ist inzwischen in der Menge verschwunden.



„Nun hol schon deinen Guide, damit wir endlich loslegen können, wir haben nicht viel Zeit“, drängele ich.



„Nee, da geh ich jetzt nicht mehr hin, nach

dem

 Auftritt, das ist mir zu peinlich.“ Bea schüttelt den Kopf, wobei sie schon wieder ganz rot wird.



„Der hat das doch gar nicht gesehen bei dem Andrang, nun geh schon“, fordere ich sie auf.



„Nö!“ Bea schüttelt trotzig den Kopf und strebt schon der Rolltreppe zu, die uns in den Sully Flügel bringt.



„Wer hat

was

 nicht gesehen?“, fragt Daniel neugierig.



„Du musst nicht alles wissen“, grinse ich ihn an und folge Bea.



Zu dritt erreichen wir schließlich die Säle, in denen Werke der französischen Malerei des 18. Jahrhunderts zu sehen sind. Bea und ich sinken auf die erstbeste Bank.



„Mann, ich kann nicht mehr“, stöhne ich verzweifelt.



„Da war er ja schon wieder“, sagt Bea plötzlich. „Kann es sein, das der was von dir will?“



„Was? Wer? Wo?“ Plötzlich bin ich hellwach.



„Ach, dieser Typ von eben“, Bea zeigt mit dem Kinn zum nächsten Durchgang. „Der mit den versauten Schuhen. Der ist in den Katakomben doch auch schon ständig um uns rumgeschlichen.“



„Aber da war doch niemand.“ Ich richte mich auf und folge ihrem Blick, aber ich kann niemanden entdecken. „Wen meinst du denn?“



„Ist jetzt im anderen Saal.“



Ich muss an mein déjà vu in den Katakomben denken. Genauso habe ich mich bei der Entführung gefühlt, so seltsam – gedämft. Sind sie etwa wieder hinter mir her? Steckt Dolores dahinter? Hat sie so viel Macht, dass sie mir auch aus dem Gefängnis heraus noch schaden kann? Eine heiße Welle läuft durch meinen Körper, und ich spüre, dass ich innerlich anfange zu vibrieren. Wer ist dieser Kerl? Was will der von mir?



Gerade will ich aufstehen und rübergehen, um ihn mir anzusehen, als Daniel sich vor uns aufbaut. Ungeduldig sieht er auf uns herab. Er scheint noch richtig fit zu sein. „Jetzt mal los Mädels, wie machen wir es? Wollen wir alle zusammen ein Bild aussuchen, oder soll jeder einzeln auf die Suche gehen?“



Mist! Ich kann mich jetzt doch nicht lächerlich machen und diesem Typen hinterherlaufen. - Vielleicht ist das ja sowieso alles nur Einbildung.

 



„Na, was ist, Mädels? Entscheidet euch!“, drängt Daniel.



„Ist mir egal, wie wir es machen. Hauptsache wir sind hier schnell fertig“, mault Bea und steht stöhnend auf.



Schließlich ziehen wir alle zusammen durch die Säle und ich bin froh, dass ich nicht allein gehen muss. Immer wieder schaue ich mich um, aber da ist niemand, der mir folgt.



Wir bleiben vor verschiedenen Gemälden stehen und ich merke, dass ich eigentlich keine Ahnung habe, wonach wir wirklich suchen sollen. Diese Bilder sind alle so nichtssagend, so albern.



Auch Daniel scheint so seine Probleme zu haben. Er schaut sich genau wie wir die vielen Gemälde an und kratzt sich ratlos am Kopf. „Was soll man bloß von dieser Frau auf der Schaukel halten? –Und was von ihren beiden grinsenden Verehrern? Mal ehrlich: Was sagt uns das über

die gesellschaftliche Stellung der dargestellten Personen in ihrer Epoche

?“



„Man könnte vermuten, sie leben in einer Nervenheilanstalt“, meint Bea.



„Ja und guck doch mal, wie merkwürdig die Frau grinst.“ Kopfschüttelnd stehe ich vor dem Bild. „Ich glaub, die ist scharf auf den Kerl hier vorne!“



„Blödes Bild“, schimpft Bea neben mir, wendet sich ab und schaut sich mit ziemlich verzweifelter Miene suchend in dem großen Saal um.



„Schaut mal, das hier ist noch besser“, ruft uns Daniel aus dem nächsten Saal zu und wird natürlich gleich von einem Museumsbediensteten mit leisen Worten zur Ordnung gerufen.



„Das ist die falsche Epoche“, flüstere ich ihm zu, als ich bei ihm bin. Schnell schaue ich über die Schulter zu dem Museumswärter. Er nickt mir lächelnd zu. Das war wohl die Lautstärke, die er sich wünscht.



„Aber witzig ist das Bild trotzdem“, grinst Daniel und deutet auf zwei nackte Frauen, die in einem Badezuber sitzen und den Betrachter mit merkwürdigen Blicken anschauen. Die eine zwickt der anderen seltsamerweise mit spitzen Fingern in die rechte Brustwarze.



„Warum macht sie das?“ Bea schüttelt den Kopf. „Würdest du das bei mir machen, wenn wir zusammen duschen würden?“



„Nein!“, wehre ich erschrocken und empört ab und fühle, wie ich dabei rot werde.



Daniel mustert mich. „Du wirst ja ganz rot.“



„Danke, jetzt wirds bestimmt sofort besser“, maule ich ihn an.



Daniel grinst.



„Ob das Lesben sind?“ sinniert Bea ziemlich laut, sie weiß noch nicht, dass sie hier andächtig flüstern muss. Ein ärgerliches „Ssst!“ macht sie darauf aufmerksam. „Was bewegt einen Maler dazu, so einen Moment festzuhalten?“, wispert sie hinter vorgehaltener Hand.



„Geld?“, vermutet Daniel. „Bestimmt war das so ein Lohnmaler, der alles gemacht hat, wenn nur der Preis stimmte.“



„Meinst du?“ Ich schaue ihn fragend an. Aber das klingt für mich schon logisch. „Ich glaube, hier sind wir sowieso falsch. Das waren doch bisher alles eher erotisch angehauchte Bilder. Ich weiß gar nicht, was wir damit anfangen könnten.“



Ich schaue auf die Uhr und bekomme so langsam Panik. Ich fasse es nicht. Wir werden doch wohl heute noch ein Bild finden, das wir als Grundlage für unsere Präsentation über die

Gesellschaftliche Entwicklung in einer Region Frankreichs im 18.Jahrhundert

 nehmen könnten.



„Leute, ich glaube, wir hätten ein anderes Thema wählen sollen“ stöhnt Bea und lässt sich auf eine Bank fallen.



Ich hocke mich mit gekrümmtem Rücken auf die andere Seite und starre Löcher in den Boden. „Ich will keine Bilder mehr sehen.“



„Nicht schlapp machen, wir haben doch noch eine halbe Stunde Zeit.“ Daniel steht mit ausgebreiteten Armen vor uns wie ein Coach, der uns anfeuern will. Irgendwie mag ich ihn.



„Eine halbe Stunde, doch noch so viel“, brummt Bea und reibt sich die Augen, was ihrer Schminke nicht gerade gut bekommt.



„Wow!“ Daniel grinst sie an. „Warum fotografieren wir nicht Bea und schreiben über die Augenschminke und ihre Auswirkungen auf die Ausstrahlung eines Menschen?“



Ich drehe mich zu Bea um und pruste los. Sie sieht aus wie ein kleiner Pandabär.



„So schlimm?“, murmelt sie mit erschrocken gekrauster Stirn und kramt hektisch ihren Taschenspiegel aus dem Rucksack. „Merde!“ Mit spuckebefeuchtetem Zeigefinger versucht sie mit schnellen Bewegungen ihr Aussehen wieder zu korrigieren, während sie mit hochgezogenen Augenbrauen konzentriert in den kleinen Spiegel guckt.



Ich drehe mich wieder um und starre die gegenüberliegende Wand an. Plötzlich dringt das Abbild eines Gemäldes in meinen verschleierten Tunnelblick. Im Vergleich zu seinen pompösen Nachbarn ist es eher klein. Es zeigt eine Personengruppe am Strand und im Hintergrund eine Ansiedlung mit einem spitzen Kirchturm. Eine kleine Insel mit einem festungsartigen Gemäuer darauf ragt gegenüber der Stadt aus dem Meer. Hinter den Leuten am Strand steht ein kleines Segelboot.



Aber das ist es nicht, was mir an dem Bild so besonders ins Auge sticht. Langsam stehe ich auf und gehe darauf zu. Was ist so anders an diesem Bild im Vergleich zu den anderen, die wir bisher gesehen haben? Ich stehe davor und schaue mir die Personen genauer an.



„Ey, die Gegend kenne ich doch“ Daniel steht neben mir und zeigt auf das Bild. „Ja klar, das ist Saint Malo – eindeutig! Und da ist auch das kleine Fort. Da wohnt meine Tante.“



„In dem Fort?“, fragt Bea. Auch sie steht nun vor dem Gemälde und sieht wieder einigermaßen normal aus.



„Ja klar!“ Daniel zieht ihr im Takt seiner Worte leicht an den Haaren. „Sie wohnt am Rand von Saint Malo in einem kleinen Haus am Meer.“



Bea wehrt ihn lachend ab und betrachtet mit vor der Brust verschränkten Armen und schräg gelegtem Kopf das Gemälde. „Das Bild ist anders, irgendwie.“



„Ja, weil das ein ganz anderer Stil ist“, werfe ich ein. „Die Leute sehen normal aus, nicht so künstlich. Wie Menschen eben. Die grinsen nicht so dümmlich lüstern, wie auf den anderen Bildern. Und sie sind auch nicht so komisch übernatürlich beleuchtet.“



„Ja stimmt, die Leute auf den anderen Bildern wirkten wie glänzende Porzellanpuppen“, stimmt Bea mir zu, „obwohl...“ Mit kritisch zusammengezogenen Augenbrauen tritt sie näher an das Bild heran.



„Du hast Recht“, ergänze ich ihren angefangenen Satz, „der Mann hier, neben dem die Armbrust im Sand liegt, sieht irgendwie merkwürdig aus, so blass, fast schon leichenblass!“



Schweigend stehen wir vor dem Bild. Dieser Mann, sein aufgerissener Mund, die starren Augen ...



„Warum ist er so bleich, es sieht aus, als würde er - sterben?“, flüstert Daniel.



„Der Titel heißt ja auch

Der Tod holt den flämischen Jäger

“, liest Bea laut vor. „Wer ist denn da der Jäger? Eigentlich sieht der bleiche Mann in dem weiten Umhang wie der Tod aus, der den Schwarzhaarigen holt.“



„Und der Schwarzhaarige ist schwer verletzt. Seht ihr? Unter seinem linken Schulterblatt steckt ein Pfeil und er blutet.“ Ich zeige auf die Stelle. „Vielleicht hatte er ja einen Jagdunfall?“



„Aber warum grinst er dann so?“, murmelt Daniel. „Wer stirbt denn auf diesem Bild, der Verletzte oder der mit dem bleichen Gesicht? Seltsam!“



„Und warum hat der Tod ein aufgerissenes Hemd?“ setzt Bea nach. „Und schaut mal, der Jäger fasst den Tod an, und der Tod sieht aus, als würde er sterben.“



Bea hat Recht, der Jäger steht ganz dicht vor dem Tod und umfasst dessen Schultern. Es sieht fast so aus, als wolle er mit ihm tanzen.



„Eine Art Totentanz vielleicht?“, vermute ich. „Aber warum grinst der Schwarzhaarige so hämisch? Er grinst den leichenblassen Mann so richtig überheblich an. Der Typ kommt mir irgendwie bekannt vor.“ Mich schaudert.



Bea’s Kopf ruckt zu mir rum „Hä?“ Mit weit aufgerissenen Augen schaut sie mich an.



Ich war mir gar nicht bewusst, dass ich den letzten Satz laut gesprochen habe und schüttele nur den Kopf.



„Was macht nur das kleine Mädchen da?“, murmelt Daniel hinter mir.



„Und warum hat der grinsende Kerl