DIE GABE

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Christiane Weller, Michael Stuhr

DIE GABE

silent sea-Trilogie, Band 2

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

SILENT SEA

PROLOG

01 TOTENGANG

02 DER AUFTRAG

03 DAS GEMÄLDE

04 CAETAN

05 MIRAMAR PLAZA

06 HERCULE

07 DER ALTE AUFZUG

08 DER VERDACHT

09 ALICIA, STAVROS UND DARYL

10 SAINT MALO

11 DAS ARCHIV

12 TANTE CLAIRE

13 DIE PARTY

14 DIE ALTE ADÈLE

15 ERKENNTNIS

16 PARIS

17 BABELCRYPT

18 TAGEBUCH

19 TANTE GISELLE

20 BEACHPARTY

21 DAS TOR

22 DAS FEST DES WASSERS

23 DAS LETZTE WORT

24 JETSET

25 HAMILTON

26 DAS DINER

27 DAS LICHT

28 LEBEN

29 ADRIANO

30 LUCAS

31 CONLAN

32 PLAN B

33 DAS GESCHENK

34 DANIEL

35 TRANSCONTINENTAL

36 BIGGY

37 DAS INSTITUT

38 WIE IM FILM

39 SCHREIE IN DER NACHT

40 LOU

41 AM POOL

42 AM HELLEN TAG

43 FEUER UND ASCHE

Impressum neobooks

SILENT SEA

MYSTERY-TRILOGIE

ZWEITES BUCH

Alle Rechte bei

Christiane Weller

und Michael Stuhr

www.christianeweller.de

www.michaelstuhr.de

Coverfoto:

Christiane Weller

Covergestaltung:

Michael Stuhr

Herausgeber:

WELLER UND STUHR

Gießen und Lemgo

Liste lieferbarer eBooks:

www.thriller-fantasy-leseproben.de

PROLOG

Das Gefühl in Gefahr zu sein, hatte Adrien Taureau auf seinem Weg von der Stadt hierher nicht verlassen. Immer wieder hatte er sich umgesehen, aber er hatte kein Boot entdecken können, das seiner Jolle gefolgt wäre.

Jetzt in der Morgendämmerung war die Bucht auf der anderen Seite der Rance menschenleer. Es war fast schon Tag, und leider war es nötig, sich vor den Augen der Städter zu verbergen, wenn man schwimmen gehen wollte. Keine der armseligen Landratten aus Saint Malo wäre jemals auf die Idee gekommen, sich dem Wasser anzuvertrauen. Nicht im Sommer und schon gar nicht jetzt im März, wo in der Mündung der Rance immer noch dünne Eisschollen trieben.

Kaum einer der Küstenbewohner konnte überhaupt schwimmen und sogar die Besatzungen der Handelssegler und Kaperfahrer lehnten es ab, sich in dieser Kunst ausbilden zu lassen. Man war allgemein der Überzeugung, dass es angenehmer sei, bei einem Schiffsuntergang sofort zu ertrinken, als sich unnütz zu quälen und schließlich doch elend abzusaufen, oder – schlimmer noch – den Dämonen des Meeres in die Hände zu fallen.

An der Bewegung des Bootes erkannte Taureau, dass das Wasser auf das Meer hinauszuströmen begann. Es wurde Zeit, denn er hatte die Absicht, sich von der starken Ebbeströmung weit hinausbringen zu lassen. Dort draußen, wo das Meer noch sauber und nicht von den Abwässern der Stadt verunreinigt war, wollte er den Tag verbringen und am Abend wieder mit der auflaufenden Flut zur Mündung der Rance zurückkehren.

Die flachen Brandungswellen zu durchqueren war für den geübten Segler kein Problem. Leise knirschend schob sich der Bug der Taurillon in den Sand. Taureau sprang aus dem Boot und sicherte es, indem er einen kleinen Anker etwa dreißig Schritt weit den Strand hinauftrug, wo er ihn einfach fallen ließ. Das würde reichen, denn das Wasser strömte nun schon mit Macht auf das Meer hinaus und nach kurzer Zeit würde das Boot völlig auf dem Trockenen liegen.

Nun galt es, keine Zeit zu verlieren.

Mit ruhigen Bewegungen streifte Taureau Umhang, Gehrock und Hemd ab, legte sie auf eine Sitzbank im Boot und beschwerte die Kleidungsstücke mit seinem Degen, damit der Wind sie nicht fortblies. Es fiel ihm schwer, sich nicht sofort in die Brandung zu stürzen, denn er war lange im Binnenland gewesen. Fast schon zu lange. Schon seit Tagen hatte er das Gefühl, ersticken zu müssen, und er wusste, dass es für ihn nur ein Heilmittel gab: Er musste schnellstens in das Meer. Nur das Salzwasser war in der Lage, seinem Körper die alte Kraft zurückzugeben.

Fast drei Wochen lang war Taureau mit der Mietkutsche unterwegs gewesen. Gut eine Woche hatte die Reise von Saint Malo nach Versailles gedauert, dann hatte der Minister ihn fünf Tage lang warten lassen und wieder eine Woche hatte er für die Rückreise gebraucht. Zwanzig qualvolle Tage ohne die Gelegenheit, sich die Ausdünstungen von Mensch und Tier vom Körper zu spülen. Schlimmer noch: Auch ohne die Zufuhr lebenswichtiger Nährstoffe über die Haut. Schon in der zweiten Woche war der Mangel von Tag zu Tag deutlicher hervorgetreten. Immer qualvoller war es geworden, auf das Meer zu verzichten, und jetzt war der Zustand des Mannes fast schon lebensbedrohlich.

Die ganze Reise war eine einzige Zumutung gewesen, aber dafür war der Pakt mit dem Minister jetzt wieder erneuert. Taureau hatte den vereinbarten Anteil an seinen Gewinnen an den Beamten ausbezahlt.

Die Kaperfahrer waren im vergangenen Jahr so aktiv und erfolgreich gewesen, wie nie zuvor. Von Segeltuch über Tauwerk bis hin zu Proviant hatten sie alles gebraucht, was Taureaus Kontor anbot. Die Korsarenkapitäne waren bereit gewesen, hohe Preise für die Waren zu bezahlen, um nur ja wieder schnell auf See zu kommen.

Die Geschäfte waren also gut gelaufen und der Minister war mit seinem Anteil zufrieden gewesen. Damit stand einem weiteren Jahr voller saftiger Gewinne nichts mehr im Weg, denn beim Magistrat lag nun ein Schreiben des Ministers, in dem die Offiziellen der Stadt angewiesen wurden, dem Schiffsausrüster Adrien Taureau im folgenden Jahr jede nur erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen. Zölle und Steuern waren damit kein Thema mehr und es war ihm klar, dass er quasi über Nacht zum mächtigsten Kaufmann der Stadt geworden war. Besser hätte es gar nicht laufen können. Jetzt musste er nur noch die tödliche Schwäche besiegen, die während der Reise mehr und mehr von ihm Besitz ergriffen hatte.

 

Taureau stand noch über das Boot gebeugt, als plötzlich ein sirrendes Geräusch in der Nähe erklang. Es war kaum mehr als das Zirpen einer Grille, aber Taureau wusste sofort, was es zu bedeuten hatte. Hastig versuchte er, sich zu ducken, als er auch schon den Einschlag des Pfeils in seinem Rücken spürte. Haut und Muskeln zerrissen, Knochen zersplitterte. Der Schmerz nahm Taureau den Atem und er fiel mit einem Aufstöhnen vornüber in den Sand.

Hinter einem der Büsche in der Nähe wurde es lebendig, und eine Gestalt in einem weiten, grauen Umhang trat hervor. Taureau erkannte einen jungen Mann, der eine Armbrust trug. Bevor der Bewaffnete weiterging, spannte er die Sehne neu und legte einen Bolzen ein. Als er damit fertig war, näherte er sich fast im Schlenderschritt.

„Nun, Darksider“, begann er ohne Gruß zu reden, „wie schmeckt der Tod?“

„Wer bist du?“

„Unwichtig! Ich bin ein Jäger, das ist alles, was du wissen musst.“ Der Jüngling trug keinen Degen an seiner Seite, sondern ein sehr großes, starkes Messer mit breiter Klinge, ähnlich denen, wie es Jäger benutzen, um das erlegte Wild aufzubrechen.

Er sah so jung aus. So jung und voller Lebenskraft. Gier flackerte in dem Verletzten auf, dessen eigenes Leben in dünnem Strom im Sand versickerte.

„Jäger und Feiglinge kommen nie allein. Wo sind deine Bluthunde? Lauern sie auch im Gebüsch?“

„Feigling?“ Der Jäger kam einen Schritt näher und hob die Waffe. „Ich brauche keine Helfer, Taureau. Ich bin dir ganz allein entgegengetreten.“

„Ein Schuss aus dem Hinterhalt.“ Taureau sprach absichtlich leise. „Das nennst du entgegentreten? Hättest du wirklich den ehrlichen Kampf zwischen Männern gesucht, würdest jetzt du an meiner Stelle hier liegen.“

„Warum sollte ich das tun?“ Der Jäger war noch zwei Schritt weit näher herangekommen, um den Sterbenden besser verstehen zu können. „Du bist kein Gegner für mich - kein Mensch. Du bist eine Laune der Natur, Darksider. Du verlängerst dein Dasein auf unnatürliche Weise. Du stiehlst Lebenskraft von Menschen. Für dich gibt es keinen Platz im Licht der Schöpfung. Darum hat der Heilige Pakt deinen Tod beschlossen.“

„Es gibt mich, also bin ich ein Teil dessen, was du Schöpfung nennst.“

„Das ist ein tollwütiger Fuchs auch.“ Der Jäger beugte die Knie und hockte sich in knapp fünf Meter Entfernung auf die Fersen. Die gespannte Armbrust mit dem neu eingelegten Bolzen war dabei die ganze Zeit auf sein Opfer gerichtet, aber er war in dem Einflussbereich der Stimme Taureaus.

Der Junge war leichtsinnig. Ein ungestümer Draufgänger, der dachte, dass durch seinen Treffer aus dem Hinterhalt bereits alles entschieden sei. Ein älterer, erfahrener Jäger hätte es niemals gewagt, sich ohne Rückendeckung einem Darksider zu nähern. Hatte ihm denn niemand gesagt, dass die hypnotischen Fähigkeiten der Darksider mindestens genauso gefährlich waren, wie ihre gewaltigen Körperkräfte? Oder wusste er es und glaubte ernsthaft, dass er stark genug sei, dem Einfluss auf seinen Geist widerstehen zu können?

„Ich sterbe. Lass uns Frieden schließen“, versuchte Taureau die Wachsamkeit des Jägers zu mindern, aber seine Stimme klang rau und brüchig. Es wurde ihm klar, dass er so keinen hypnotischen Einfluss ausüben konnte.

„Ich spüre, wie du nach mir greifst.“ Der Jäger lächelte. „Aber du wirst mich nicht erwischen. Du bist schon zu schwach.“

Der Verletzte nahm eine Bewegung hinter dem Jäger wahr. Ein Mädchen von acht oder neun Jahren kam über die flache Düne. Es zog an einem kurzen Strick einen kleinen Korbschlitten hinter sich her, der im Moment allerdings noch leer war und taumelnd über den Sand tanzte. – Eine Treibholzsammlerin. Das konnte die Chance sein, die er brauchte. Vorsichtig und langsam spannte Taureau seine Muskeln an.

Das Mädchen entdeckte die beiden Männer und blieb schlagartig stehen. Der verletzte Mann am Boden, das Blut, der andere Mann mit der Waffe, das alles erschreckte sie zutiefst. „Nein!“, rief sie laut aus und schlug sofort die Hände vor den Mund.

Der Jäger sprang auf und wirbelte zu dem Mädchen herum. Als er erkannte, dass von der Kleinen keine Gefahr drohte, schnellte er wieder herum, aber es war schon zu spät. Sofort war Taureau aufgesprungen und unter Aufbietung all seiner Kräfte blitzschnell auf den Jäger losgestürmt.

Die Waffe beschrieb einen Halbkreis. Der Jäger versuchte, zur Seite auszuweichen, aber sein Gegner war schon heran und schlug ihm mit einem gewaltigen Hieb die Armbrust aus den Händen. Der Bolzen fuhr ziellos in den Sand und die Waffe fiel zu Boden. Hastig griff der Jäger nach seinem Messer, aber er spürte nur die Hand seines Gegners, die den Griff bereits fest umklammerte, während die andere Hand sich in seine Kleidung krallte.

Ohne auf den Widerstand seines Gegners zu achten, riss Taureau blitzschnell das Messer heraus und brachte es an den Hals des Jägers. Statt ihm aber nun einfach die Kehle zu durchstechen, führte er die breite Klinge in den Kragen des Hemdes und schnitt seinem Gegner mit einer einzigen Bewegung die Kleidung bis hinunter zum Gürtel auf.

Der Jäger stieß einen Wehlaut aus und krümmte sich Taureau entgegen, Eine blutige Spur zog sich vom Hals hinab über Brust und Bauch. Der Mann ahnte, was der Darksider vorhatte und versuchte zurückzuweichen, aber es war ihm unmöglich, dem eisernen Griff seines Gegners zu entkommen.

Der Dolch fiel in den Sand und mit unwiderstehlicher Gewalt presste Taureau den Brustkorb des Jägers an seinen nackten Oberkörper. Haut traf auf Haut, und sofort begann die Lebenskraft zu fließen.

Die Knie des Jägers knickten ein, aber er wurde unerbittlich aufrecht gehalten. Er war kaum mehr als eine Lumpenpuppe in den Armen des Darksiders, dessen Kräfte von Augenblick zu Augenblick immer mehr anwuchsen.

„Nein!“ Ein letztes Aufbäumen, aber der Jäger war schon zu schwach, um mit seinen Abwehrbewegungen noch etwas ausrichten zu können. Sein Gesicht hatte jede Farbe verloren und die angstvoll aufgerissenen, dunklen Augen in dieser grauen Maske des Entsetzens verliehen seinem Kopf das Aussehen eines Totenschädels. „Ich will nicht sterben!“

„Aber du wirst leben!“, lachte Taureau. „In mir wirst du weiterleben für alle Zeiten“, aber das hörte der Jäger schon nicht mehr. Ausgelaugt hing sein Körper in den Armen seines Feindes, und der Kopf sackte zur Seite. Taureau umfasste ihn noch fester und brach ihm mit einem kleinen Ruck das mürbe gewordene Rückgrat, bevor er ihn zu Boden gleiten ließ.

Nicht ein einziger Funke Lebenskraft war noch in dem Körper, der wie ein Bündel Lumpen im Sand lag. Lumpen mit grauer, alter Haut und ein paar brüchigen Knochen darin. Niemand wäre je darauf gekommen, dass dieser ausgedörrte Leichnam vor wenigen Augenblicken noch ein junger Mann gewesen war.

Der Darksider schaute auf und wandte sich dem Kind zu, das immer noch starr vor Entsetzen dastand und die Hände vor das Gesicht geschlagen hatte. Die Kleine war jung und voller Lebenskraft. Die Flamme der Gier züngelte in ihm hoch. „Komm her!“, sprach er das Mädchen an. „Du musst keine Angst haben. Komm her!“

Der Mann, der bei dem Toten stand sah schrecklich aus. Sein nackter Oberkörper war blutverschmiert und aus seinem Rücken ragte immer noch der Schaft des Armbrustbolzens. Ein Ruck ging durch den Körper des Mädchens, als wolle es fortlaufen.

„Nun komm schon! Ich tu dir nichts!“

Etwas in der Stimme des Mannes bewirkte, dass das Mädchen langsam und zögerlich Schritt für Schritt auf ihn zuging. Taureau konnte sehen, dass die Kleine Angst hatte, aber gehorsam setzte sie Fuß vor Fuß. Er streckte ihr die Hand entgegen und als sie in seine Reichweite kam, griff er zu.

„Du wirst mir jetzt den Pfeil aus dem Körper ziehen“, forderte er, und als das Mädchen ihn erschreckt ansah, setzte er hinzu: „Ich habe Schmerzen und nur du kannst mir helfen. Das willst du doch?“

Die Kleine nickte stumm und Taureau kniete sich vor sie in den Sand, damit sie den Pfeilschaft besser erreichen konnte. „Du musst es mit einem einzigen Ruck schaffen“, sagte er. „Setz mir ruhig einen Fuß auf den Rücken, damit du genug Kraft hast, und dann – ein einziger Ruck!“

Aus den Augenwinkeln nahm Taureau wahr, dass die Kleine aus ihren Holzschuhen schlüpfte. Schon spürte er einen warmen Fuß auf seinem Rücken und die wütenden Schmerzwellen in seinem Körper zeigten ihm an, dass sie ihre Hände fest um das Ende des Pfeils schloss. „Jetzt!“, kommandierte er und brüllte im gleichen Moment laut auf, als der Armbrustbolzen mit einem hässlichen Knirschen an der zersplitterten Rippe entlang glitt. Zum Glück war die Spitze glatt und hatte keine Widerhaken.

„Danke!“, presste Taureau mühsam hervor. Warm rann das Blut über seinen Rücken. Nun wurde es wirklich Zeit, dass er ins Wasser kam, um die Heilkräfte des Meeres auf sich wirken zu lassen. Nur dann konnte er überleben. Aber zuerst gab es hier noch etwas zu erledigen. Er schaute die Kleine, die neben ihm stand und immer noch den blutigen Pfeil in der Hand hielt, nachdenklich an.

„Wirf das weg!“

Gehorsam ließ das Mädchen den Pfeil fallen.

„Gib mir deine Hand!“

Die Kleine streckte ihm die Hand entgegen. Der Darksider ergriff sie, bedeckte sie mit der anderen Hand und konzentrierte sich.

„Tut das gut?“, wollte Taureau von dem Mädchen wissen.

Die Kleine sah ihn verwundert an und nickte stumm.

„Spürst du die Kraft, die in dich hineinströmt?“

Wieder ein Nicken.

„Du wirst lange leben“, sagte Taureau und ließ die Hand des Mädchens los. „Geh jetzt!“ Er nahm den Bann der Hypnose von ihr.

Die Kleine schaute sich erstaunt um, sah den Leichnam, das Blut, den Pfeil und die Waffen. Mit entsetztem Gesichtsausdruck wich sie vor dem fremden Mann zurück, wirbelte herum und rannte davon. Schnell wie ein verängstigtes Reh flüchtete sie über die Düne und war Augenblicke später verschwunden.

„Langes Leben, Kleine“, flüsterte Taureau, lächelte, streifte achtlos den Rest seiner Kleidung ab und ging hinunter zur Wasserlinie, die in der kurzen Zeit schon deutlich zurückgewichen war. Erleichtert seufzte er auf, als die erste Brandungswelle ihn erreichte und seine Füße mit Salzwasser benetzte. Viel zu lange hatte er auf das Meer verzichten müssen. Langsam und kontrolliert ging er voran. Jeder Schritt tiefer in die eiskalte Brandung hinein brachte mehr Erleichterung. Er spürte, wie sein Körper begann, sich umzustellen. Er spürte die beißende Kälte des Wassers nicht mehr. Der Schmerz in seinem Rücken war unbedeutend geworden. Es gab nur noch das wohlige Gefühl, endlich da angekommen zu sein, wohin er wirklich gehörte.

Nach diesem Vorfall würde Taureau nicht mehr nach Saint Malo zurückkehren können, das war ihm klar, aber es war nicht das erste Mal, dass er eine Stadt fluchtartig verlassen und seine Identität ändern musste. Vielleicht würde er für eine Weile nach Cornwall gehen, wo Sochon, der König seines Volkes zurzeit residierte. Alles Weitere würde sich finden.

Ein letztes Mal schaute Taureau sich um, aber außer dem Toten war niemand mehr am Strand zu sehen. Kraftvoll stieß er sich von einem Felsen ab und war sofort in den Wellen verschwunden.

01 TOTENGANG

Mir ist kalt. Die Luft ist feucht und es riecht modrig. Der Boden ist mit kalkiger Nässe und milchigen Pfützen bedeckt. Fröstelnd ziehe ich die dünne Sweatjacke enger um meine Schultern. Aber die Gänsehaut bleibt.

Langsam gehe ich weiter durch diesen düsteren Gang, der kein Ende zu nehmen scheint. Die anderen sind schon lange vorgegangen, aber ich kann mich nicht so schnell trennen von diesem Anblick. Dunkle Augenhöhlen starren mich aus Totenschädeln an, die ordentlich ausgerichtet in Reih und Glied an beiden Seiten des Stollens gestapelt sind.

All diese vergangenen Leben voller Freude und Trauer, Liebe und Hass. Was mögen diese nun leeren Augenhöhlen wohl alles gesehen haben? Ich stehe vor einem Schädel und versuche mir auszumalen, wie dieser Mensch wohl ausgesehen haben mag. War es ein Mann oder eine Frau? Wie alt war er? War er glücklich in seinem Leben? Hat er geliebt, wurde er geliebt, musste er einen schmerzhaften Tod sterben?

Mich schaudert, denn mir wird bewusst, dass nichts übriggeblieben ist von all diesen Menschen, weder ihre Namen, noch ihr Geschlecht oder ihr Alter. Sie durften noch nicht einmal die Knochen behalten, die früher zu ihrem Körper gehört haben. Die liegen nun seit Jahrhunderten in einer grotesk geometrischen Anordnung aufeinandergestapelt in diesem Gruselkabinett.

 

Ein paar von Diegos Leuten könnten diese Menschen hier noch gekannt haben. Tatsächlich, das wäre doch möglich, wenn ich Diegos Erklärungen richtig verstanden habe. Darksider können sehr alt werden. Nachdenklich betrachte ich den Schädel vor mir. Vielleicht war dies hier ja ein Händler und Adriano hat mit ihm in längst vergangener Zeit in einer Schänke zusammengesessen und Geschäfte gemacht. Dieser Mensch hat vielleicht Pastis getrunken und Adriano wahrscheinlich Wasser, weil Darksider ja keinen Alkohol vertragen. Und dann, als dieser arglose Bürger von Paris ein bisschen angetrunken war, hat sich Adriano unauffällig etwas näher zu ihm gesetzt, um sich ganz nebenbei ein wenig von seiner Lebenskraft zu nehmen.

Am nächsten Morgen hatte der ahnungslose Kerl dann einen heftigen Kater und hat das auf den übermäßigen Genuss von Pastis zurückgeführt. In Wirklichkeit hat er ein paar Jahre seines Lebens verloren. Mich schaudert, und wieder stehen die Ereignisse des letzten Sommers so lebendig vor mir, als sei das alles gerade erst geschehen.

Hinter mir höre ich ein leises Atmen. Erschrocken fahre ich herum und starre in den halbdunklen, nur von wenigen Lampen beleuchteten Stollen. Nichts! Erleichtert atme ich auf. Ich dachte schon, da hätte mich einer belauert.

‚Ach quatsch Lana, das ist vorbei!’ schimpfe ich mich selbst. Trotzdem mache ich mich lieber auf den Weg. Kaum bin ich ein paar Schritte gegangen, höre ich ein gedämpftes Räuspern. Wie unter Zwang bleibe ich stehen, drehe mich langsam um und starre in das gespenstische Dämmerlicht. Eigentlich will ich nur weg hier, ich will fliehen, aber meine Muskeln versagen mir den Dienst, sie sind wie erstarrt.

In meinem Kopf wummert es in gleichmäßigem Takt. Ich will den anderen hinterher, aber ich kann mich nicht rühren. ‚Das kenne ich, das kenne ich doch!’ Ich fühle mich, als würden sich bleischwere Hände um meinen Schädel legen und vor mir taucht das Bild einer Yacht auf. ‚Du musst dich losreißen Lana’, schreit es in mir, ‚das ist derselbe Trick wie damals. Reiß dich los! Befreie dich!’ Mit einem Aufschrei gelingt es mir, diese merkwürdige Starre, die mich befallen hat, zu überwinden.

Unsicher drehe ich mich um und versuche, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Es geht langsam, viel zu langsam. Ich komme mir vor, wie in einem Traum, in dem man fliehen will und nicht vorwärts kommt.

‚Nimm deine Kräfte zusammen Lana und geh schneller.‘ Ich versuche es, aber es wird nur ein Dahinstolpern daraus. Erst als ich in eine Pfütze trete, und die kalte, kalkige Brühe mir bis an die Knöchel spritzt, werde ich wirklich wach und meine Muskeln gehorchen mir wieder.

Viele Gedanken wirbeln mir im Kopf herum. Bilder von dieser Yacht, Dolores, die mich aus ihren Katzenaugen mustert, das Whisky-Glas, der Sprung über die Reling, das Wasser, das kalte dunkle Wasser und das Gefühl zu ersticken. Wo ist oben, wo ist unten? Die Strömung will mich in die Schiffsschraube hinein reißen. Die Erinnerung wird übermächtig, hier, in diesem dunklen unheimlichen Gang. Ich höre mich selber keuchen und mir wird bewusst, dass ich kurz davor bin, in Panik zu geraten. Wie besinnungslos hetze ich weiter.

Meine todbringende Feindin mit ihren mächtigen Helfern hat immer noch Macht über mich. Ich spüre noch den kalten tiefen Sog unter dem Schiffsrumpf und meine schreckliche Angst, nie wieder Luft holen zu können. Wenn Diego nicht gewesen wäre, würde ich jetzt nicht hier sein. Andererseits wünsche ich mir in diesem Moment eigentlich nichts sehnlicher, als wirklich nicht hier zu sein.

Meine Nackenhaare und mein ganzer Rücken geben mir knisternde Signale, die sagen, dass ich verfolgt werde! Aber wenn ich einen vorsichtigen Blick über die Schulter wage, sehe ich keine Bewegung, keinen Schatten, nur die Gebeine längst Verstorbener. Dass ich das mal als beruhigend empfinden würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen.

Schweiß rinnt mir in die Augen. Wo verdammt noch mal sind die Anderen? Wie lange habe ich denn dort gestanden, ohne zu merken, dass die alle schon weg sind?

„Diese Inschrift hier sagt uns, das die sterblichen Überreste 1859 vom Friedhof Madeleine hierher verbracht wurden ...“ Die rauchige Stimme von Madame Ulliette hallt gedämpft von den Wänden wider und klingt in meinen Ohren wie Engelsmusik. Endlich in Sicherheit. Schatten von Menschen sind hinter der nächsten Biegung zu sehen. Ich werde langsamer und versuche meinen keuchenden Atem in den Griff zu bekommen. Es muss ja nicht gleich jeder merken, das Lana Rouvier hier wie ein panisches Karnickel um die Ecke geflitzt kommt.

Na, ja, jeder merkt es nicht, aber Beatrice allemal. „Hey, Lana, wo warst du denn? Mein Gott, wie siehst du denn aus? Hast du einen Geist gesehen?“

„Halt die Klappe Bea!“, unterbreche ich sie leise und stelle mich möglichst unauffällig neben sie, während mir das Herz immer noch bis zum Hals hinauf hämmert. Ich versuche meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. Unruhig schaue ich mich zum Gang hin um, aber dort ist niemand.

Beatrice Dupont ist meine älteste Freundin. Wir kennen uns seit der ersten Vorschulklasse. Sie mustert mich mit kritisch zusammengekniffenen Augen und schluckt weitere lustige Sprüche runter. Ist auch besser so. Bea kennt mich gut genug um zu wissen, dass ich es wirklich ernst meine, wenn ich so pampig werde. Schließlich stupst sie mich an und flüstert: „Ey, ist ja gut, beruhig dich.“

Es ist kalt, es ist feucht, es ist gruselig, was Madame Ulliette aber leider nicht daran hindert, uns in der Crypte de la Passion ausführlich Einzelheiten aus der Geschichte der Katakomben zu erzählen: „Von den über 300 Kilometern dieses Stollensystems haben wir gerade mal zwei Kilometer gesehen“, berichtet sie mit wichtiger Stimme und erhobenem Zeigefinger.

Ich gähne leise hinter vorgehaltener Hand.

„Pass lieber auf und merk dir das!“ flüstert Coco und schubst mich.

„Merk‘s dir doch selbst!“, flüstere ich zurück.

„Nö!“ Coco streicht sich grinsend über ihre lila gesträhnten kurzen Haare, zwinkert mir zu und gesellt sich zu ihrem Freund Hervé.

Hervé legt den Arm um sie und schaut sie dabei zärtlich lächelnd an. Die beiden sind seit einem halben Jahr ein Paar. Wie schon so oft frage ich mich, wie er sich gleich nacheinander in zwei so unterschiedliche Mädchen verlieben konnte: Zuerst in mich. - Fast so groß wie er, dünn und blond, und dann in die kleine Coco mit ihren schwarz-lila kurzen Haaren und dem ewigen Kaugummi zwischen ihren gepiercten Lippen. Ich bin nicht eifersüchtig, ganz im Gegenteil, ich mag Coco sehr. Auch wenn sie ganz anders aussieht, sie erinnert mich in ihrer lustigen, kumpelhaften Art ein bisschen an Felix.

Felix! Während ich Hervé und Coco folge, tauchen die Erinnerungen an sie und Port Grimaud wieder auf: Unsere Aktion bei der Miss Teen Beach Wahl und der Spaß, den wir beim Üben hatten und wie sie tanzen konnte und dann ...

Ein leichter Stupser in die Seite treibt mich vorwärts. „Träum nicht, Chérie, jetzt geht’s an die frische Luft.“ Bea drängt sich an mir vorbei in den Aufgang zu einer schmalen Wendeltreppe.

„Oh Gott, ich krieg Platzangst!“, stöhne ich auf, als ich zögernd in diese steinerne Enge schaue.

„Los, mach schon, sonst hältst du noch den ganzen Verkehr auf. Jetzt komm! Du schaffst das schon, sind ja nur 83 Stufen.“

„Nur ist gut“, maule ich und folge ihr.

Keuchend erreichen wir den Ausgang. „Tatsächlich, 83 Stufen“, schnauft Bea vor mir.

Ich hab nicht gezählt. Ich bin froh, dass ich diese bedrückende Enge endlich hinter mir habe und wieder frei atmen kann.

„Na toll, wenn da unten einer umkippt, muss man erst bis hier hoch hecheln, um Hilfe zu holen“, meckert Bea und deutet auf den Defibrillator an der Wand.

„Na, der hat’s wohl nicht mehr geschafft“, prustet Coco hinter mir los und zeigt auf einen Totenschädel, der neben dem Glaskasten mit dem Elektroschockgerät auf einer Ablage liegt. - Vermutlich das konfiszierte Beutestück eines Touristen.

Zwei Bedienstete der Katakomben kontrollieren sorgfältig unsere Taschen und Rucksäcke. Sie finden unser Gespräch gar nicht witzig, denn sie sind Knochenjäger. Sie suchen nach geklauten ‚Souvenirs‘ aus den Katakomben. Unser Grinsen quittieren sie mit ziemlich bösen, misstrauischen Mienen. Aber sie werden nicht fündig. Keiner von uns hat Knochen oder Schädel dabei - außer dem eigenen natürlich.

Helles Sonnenlicht blendet mich und eine wohltuende Wärme schlägt mir entgegen, als ich endlich auf die Straße hinaustrete. Mit dem Sonnenlicht schwinden jetzt endlich auch meine Beklemmungen, die ich die ganze Zeit über dort unten empfunden habe. Dieses leise Atmen hinter mir habe ich mir bestimmt nur eingebildet. Vielleicht waren das ja auch Geräusche vom Belüftungssystem. Und dass ich mich wie betäubt gefühlt habe und kaum weglaufen konnte, diese Muskelstarre, nein, das war wohl doch kein hypnotischer Einfluss. Bestimmt ist die Luft dort unten von betäubenden Gasen durchsetzt und es war ja auch ziemlich kalt, rede ich mir ein. Trotzdem fühle ich mich so, als sei ich gerade in großer Gefahr gewesen.

Nach und nach sammeln wir uns am Geländer vor dem Ausgang. Ich könnte jetzt ne Cola gebrauchen, aber hier gibt es leider keinen Kiosk. Komisch eigentlich. Die Pariser Katakomben locken doch jede Menge Touristen an.

Bea stößt mir leicht in die Rippen. „Du sag mal, was war denn vorhin los mit dir?“ Neugierig sieht sie mich an.

„Ach nichts, mir war nur unheimlich, weil ich euch nicht gleich gefunden habe“ - Tolle Erklärung! Es gab dort nur einen Gang. Unmöglich, eine Gruppe von 20 Schülern zu verfehlen.

„Mmh“, meint Bea nur und sieht mich stirnrunzelnd an.

„Na Kinder, auch froh, wieder an der frischen Luft zu sein?“ Mit hochrotem Gesicht erscheint Madame Ulliette im Ausgang und tupft sich mit einem Taschentuch seufzend die schweißglänzende Stirn. Ihr Blick fällt dabei auf meine Schuhe. „Na Lana, bist wohl auch in so eine Kalkpfütze getreten. Ob du das wieder raus kriegst?“, zweifelnd schüttelt sie den Kopf.

„Ihre Schuhe sehen aber auch nicht besser aus, Madame Ulliette“, meint Coco. „Oh und meine eigentlich auch nicht“, fügt sie betroffen hinzu, als sie an sich selber hinunter schaut. Keiner ist bei diesem Marsch durch die Katakomben gut weggekommen und überall wird Genörgel laut.

Schmieriges Weiß bedeckt meine Chucks. Während ich sie betrachte und meine Zehen darin hin und her bewege, merke ich, dass sich der rechte Schuh total vollgesogen hat. Na toll, die Schuhe habe ich mir vorige Woche erst gekauft.

„Wir fahren jetzt mit der 4 von Alésia zur Châtelet und gehen dann an der Seine entlang zum Louvre“, verkündet Madame Ulliette und reißt mich aus meinen Gedanken.

„Och nee!“, stöhnt Hervé auf, „warum können wir denn nicht in die 1 umsteigen und direkt bis zum Louvre fahren? Wozu gibt es denn die Metro?“

Madame Ulliette schüttelt energisch den Kopf. „Also bevor wir in Ch?telet durch diese vielen Tunnel gelaufen sind, haben wir den Louvre dreimal erreicht.“