Vertragsärztliche Zulassungsverfahren, eBook

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b) Zuständigkeit

323

Für die Anordnung der sofortigen Vollziehung sind gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG grundsätzlich die Behörden zuständig, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden haben, in Zulassungsverfahren also Zulassungs- und/oder Berufungsausschuss. Gemäß § 86a Abs. 3 S. 5 SGG umfasst die Anordnungsbefugnis grundsätzlich auch die Änderungs- und Aufhebungsbefugnis.[602] Im Verfahren vor den vertragsärztlichen Zulassungsgremien war und ist die Zuständigkeitsverteilung zwischen Zulassungs- und Berufungsausschuss allerdings umstritten.[603]

aa) Zuständigkeit des Zulassungsausschusses

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Der Zulassungsausschuss besitzt nach umstrittener aber heute h.M. die Kompetenz, die sofortige Vollziehbarkeit seiner Beschlüsse anzuordnen.[604]

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Die von Teilen des Schrifttums bisher vertretene sogenannte absolute Unzuständigkeit des Zulassungsausschusses ist nicht gegeben, weil die Befugnis des Zulassungsausschusses zur Anordnung der sofortigen Vollziehung einen sachlichen Bezug zu seinem Aufgabenbereich hat.[605] Auch aus § 97 Abs. 4 SGB V lässt sich die fehlende Kompetenz des Zulassungsausschusses für Vollzugsanordnungen nicht herleiten. Der Gesetzgeber des 6. SGG-ÄndG hat mit den §§ 86a, 86b SGG eine umfassende Regelung des vorläufigen Rechtsschutzes in sozialrechtlichen Angelegenheiten beabsichtigt.[606] § 97 Abs. 4 SGB V dient nur der Klarstellung, dass auch der Berufungsausschuss die sofortige Vollziehung seiner und der Beschlüsse des Zulassungsausschusses anordnen kann, da dies aus § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG nicht zwingend herzuleiten ist.[607]

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Die Entscheidung des BSG vom 5.6.2013 wird insbesondere vom LSG Nordrhein-Westfalen kritisiert.[608] Dieser Kritik ist zuzugeben, dass sich der bisherige Begründungsansatz des BSG auf den Hinweis reduziert, Sinn und Funktion des § 97 Abs. 4 SGB V sei es klarzustellen, dass der Berufungsausschuss nach Einführung des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG trotzdem die Kompetenz zum Erlass einer Vollzugsanordnung behalten habe. Mit sämtlichen weiteren dogmatischen und rechtspolitischen Argumenten gegen eine Anordnungskompetenz des Zulassungsausschusses hat sich das BSG bisher nicht auseinandergesetzt. Aus Sicht der Praxis ist die Entscheidung des BSG aber jedenfalls zu begrüßen.

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Fraglich ist, ob die Zuständigkeit des Zulassungsausschusses und des Sozialgerichts nebeneinander bestehen. Dies wird zwar auch für das sozialgerichtliche Verfahren grundsätzlich so vertreten.[609] Da sich jedoch in vertragsärztlichen Statusverfahren die Zuständigkeiten von Zulassungs- und Berufungsausschuss gegenseitig ausschließen,[610] und nach der Rechtsprechung des BSG die Zuständigkeit des Berufungsausschusses neben der des Sozialgerichts besteht,[611] kann während des sozialgerichtlichen Verfahrens keine Zuständigkeit des Zulassungsausschusses zur Anordnung der sofortigen Vollziehung bestehen.

bb) Zuständigkeit des Berufungsausschusses

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An der Kompetenz des Berufungsausschusses, die sofortige Vollziehung eigener Entscheidungen anzuordnen, besteht wegen § 97 Abs. 4 SGB V kein Zweifel. Fraglich kann aber sein, ob dem Berufungsausschuss auch die Kompetenz zusteht, Beschlüsse des Zulassungsausschusses für sofort vollziehbar zu erklären. Diese Frage hat erhebliche praktische Bedeutung, da zwischen der Anrufung des Berufungsausschusses und dessen Entscheidung häufig ein längerer Zeitraum vergeht, in dem die rechtlichen Wirkungen der Entscheidung des Zulassungsausschusses blockiert sind, wenn dieser nicht selbst die sofortige Vollziehung angeordnet hat, und den Beteiligten, etwa bei einer von einem Dritten angefochtenen Nachbesetzung eines Vertragsarztsitzes, durch den Suspensiveffekt erhebliche wirtschaftliche Einbußen entstehen können. Aufgrund der Entscheidung des BSG vom 5.6.2013[612] ist davon auszugehen, dass der Berufungsausschuss die Kompetenz hat, die Beschlüsse des Zulassungsausschusses für sofort vollziehbar zu erklären.[613] Hierfür spricht zum einen die Einordnung des Zulassungs- und Berufungsausschusses als Ausgangs- bzw. Widerspruchsbehörde im Sinne des § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG,[614] zum anderen das Gebot des effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG. Anders als im Verwaltungsverfahren, wo dies umstritten ist,[615] erlangt der Berufungsausschuss diese Kompetenz allerdings erst mit der Begründung seiner Zuständigkeit durch den Widerspruch eines Beteiligten. Es handelt sich um eine ausschließliche Zuständigkeit, die vor dem Widerspruch allein beim Zulassungsausschuss und nach dem Widerspruch allein beim Berufungsausschuss liegt.[616] Die Zuständigkeiten von Zulassungs- und Berufungsausschuss stehen also nicht selbstständig nebeneinander, sondern schließen einander aus. Vollziehbarkeitsanordnungen des Berufungsausschusses wirken ex nunc.[617]

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Die Befugnis zur Anordnung der sofortigen Vollziehung ermächtigt den Berufungsausschuss nach § 97 Abs. 4 SGB V somit, die gemäß § 96 Abs. 4 S. 2 SGB V i.V.m. § 86a Abs. 1 SGG eingetretene aufschiebende Wirkung auszuschließen und seinem oder dem Beschluss des Zulassungsausschusses sofort die intendierten bzw. die ihm nach der Rechtsordnung zukommenden Wirkungen zu verschaffen.[618] Dem kommt insbesondere bei Zulassungsentziehungen und bei Konkurrentenstreitigkeiten erhebliche praktische Bedeutung zu.[619]

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Die Zuständigkeiten des Berufungsausschusses und des Sozialgerichts bestehen nebeneinander.[620] Die gleichzeitige Anhängigkeit zweier Verfahren und die Möglichkeit sich widersprechender Entscheidungen ist hinzunehmen.[621] Eine vom Berufungsausschuss getroffene Anordnung der sofortigen Vollziehung behält ihre Wirksamkeit auch nach Klageerhebung,[622] wenn sie nicht vom Sozialgericht geändert oder aufgehoben wird (§ 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2, S. 4 SGG).[623]

c) Anordnungszeitpunkt

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Die Vollzugsanordnung kann – schon vor Erhebung eines Widerspruchs oder einer Klage – gleichzeitig mit dem zugrunde liegenden Beschluss oder in einem späteren Zeitpunkt erlassen werden, solange die Zuständigkeit der anordnenden Stelle andauert, sie kann geändert und wieder aufgehoben werden.[624] In der Regel wird der Sofortvollzug mit dem Hauptsachebeschluss des Zulassungsausschusses beziehungsweise Berufungsausschusses angeordnet werden. Insoweit ist darauf zu achten, dem Betroffenen im jeweiligen Verfahren, spätestens in der Sitzung, rechtliches Gehör zu gewähren.[625] Eine spätere Anordnung der sofortigen Vollziehung setzt einen erneuten Beschluss des Zulassungs- oder Berufungsausschusses aber nicht zwingend eine mündliche Verhandlung[626] voraus. Da der Zulassungsausschuss mit Einlegung des Widerspruchs seine Zuständigkeit für die Anordnung der sofortigen Vollziehung vollständig verliert,[627] werden Vollzugsanordnungen des Zulassungsausschusses in aller Regel in dem Hauptsachebeschluss erfolgen müssen.

d) Verfahren und Form der Vollzugsanordnung

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Die Anordnung der sofortigen Vollziehung durch die Zulassungsgremien[628] kann von Amts wegen erfolgen, auch wenn dadurch ein Dritter begünstigt wird.[629] Die Erwägung, ob die sofortige Vollziehung anzuordnen ist, gehört zu den Amtspflichten der Zulassungsgremien.[630] Die Anordnung darf aber nicht regelhaft ergehen, da die aufschiebende Wirkung von Rechtsbehelfen die Regel ist[631] und dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis hierdurch auf den Kopf gestellt würde.[632] Sie muss schriftlich erfolgen.[633] Dem Betroffenen ist vor der Anordnung grundsätzlich rechtliches Gehör zu gewähren, zumindest dann, wenn die Angelegenheit nicht so eilbedürftig ist, dass eine Anhörung den mit der Anordnung verfolgten Zweck gefährden würde.[634]

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Die Anordnung der sofortigen Vollziehung kann vom Begünstigten jederzeit beantragt werden, d.h. schon mit dem Antrag auf Erlass des Verwaltungsakts oder später.[635]

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Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist zwar nach allgemeinen Grundsätzen nicht als Verwaltungsakt anzusehen, aufgrund der speziellen Vorschriften des Zulassungsverfahrens bedarf es jedoch auch für die Anordnung der sofortigen Vollziehung zwingend eines Beschlusses gemäß § 36 Ärzte-ZV, also einer Sitzung.[636] Soweit es um Zulassungen und Zulassungsentziehungen geht, ist fraglich, ob es auch für die Anordnung der sofortigen Vollziehung dieser Entscheidungen einer mündlichen Verhandlung bedarf oder ob diese Anordnung ohne mündliche Verhandlung erfolgen kann. Für letzteres spricht, dass der Zweck der mündlichen Verhandlung, die verbesserte Klärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts[637] bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung bereits erreicht ist, und dass die Vollzugsanordnung ein bloßer Annex zur Hauptsacheentscheidung ist. Einer mündlichen Verhandlung bedarf es für die Anordnung somit nicht.

e) Begründungspflicht

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Die besondere Begründung für eine Anordnung der sofortigen Vollziehung ist aus rechtsstaatlichen Gründen geboten.[638] Ohne einzelfallbezogene Begründung, warum ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit erforderlich ist, ist die Anordnung rechtswidrig, so dass die aufschiebende Wirkung auf Antrag des Betroffenen gemäß § 86a Abs. 3 bzw. § 86b Abs. 1 SGG wiederherzustellen ist. Mit (neuer) Begründung kann die sofortige Vollziehbarkeit jederzeit wieder angeordnet werden.[639]

 

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Inhaltlich muss die Begründung nicht besonders detailliert sein, vielmehr braucht das besondere öffentliche Interesse am Sofortvollzug, d.h. dessen tragende Gesichtspunkte, nur „schlaglichtartig“ dargelegt zu werden.[640] Die Begründungspflicht dient der Transparenz und Rechtsklarheit, sie soll die Entscheidungsinstanz zu besonderer Sorgfalt anhalten und damit eine Warnfunktion erfüllen. Aus der Begründung muss hervorgehen, dass und warum im konkreten Fall dem Vollziehbarkeitsinteresse Vorrang vor dem Aufschubinteresse des Betroffenen eingeräumt werden muss und warum dies verhältnismäßig ist.[641]

f) Besonderes Vollzugsinteresse

aa) Anordnung im öffentlichen Interesse

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Das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit des Beschlusses stellt sich als das Ergebnis einer Abwägung aller im konkreten Fall betroffenen öffentlichen und privaten Interessen dar, unter Berücksichtigung der Natur, Schwere und Dringlichkeit des Interesses an der Vollziehung bzw. an der aufschiebenden Wirkung und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, die Folgen der Anordnung oder ihres Unterlassens rückgängig zu machen.[642] Die aufschiebende Wirkung ist die Regel, die sofortige Vollziehbarkeit ist die Ausnahme.[643] Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist gerechtfertigt, wenn eine umfassende Abwägung zu dem Ergebnis kommt, dass das Interesse an der Vollziehbarkeit schwerer wiegt als das gegenläufige Interesse an der aufschiebenden Wirkung.[644] Das öffentliche Interesse an der Anordnung einer sofortigen Vollziehung verlangt mehr als das für den Erlass des Verwaltungsakts erforderliche Interesse. Notwendig ist ein zusätzliches öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung, so dass die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass des Verwaltungsakts nicht zur Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung ausreichen.[645] Bei Statusentziehungen (z.B. Entziehung der Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung) sind besonders hohe Anforderungen zu stellen. Hier müssen überwiegende öffentliche Belange es auch mit Blick auf die Berufsfreiheit des Betroffenen rechtfertigen, seinen Rechtsschutzanspruch gegen den Beschluss der Zulassungsgremien einstweilen zurückzustellen, um unaufschiebbare Maßnahmen im Interesse des allgemeinen Wohls rechtzeitig in die Wege zu leiten.[646] Das Verhältnismäßigkeitsprinzip ist zu beachten.[647]

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Bei der Abwägung sind primär die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs (d.h. der Anrufung des Berufungsausschusses bzw. der Klage) von Bedeutung,[648] weswegen die Rechtmäßigkeit des zugrundeliegenden Beschlusses summarisch geprüft werden muss.[649] Ist der Rechtsbehelf erkennbar aussichtslos, fällt die Abwägung von vornherein zugunsten der Vollziehbarkeit aus.[650] Ist der Verwaltungsakt erkennbar rechtswidrig, fällt die Abwägung von vornherein gegen die sofortige Vollziehbarkeit aus.[651] Ist keiner dieser Fälle gegeben, bedarf es der umfassenden Berücksichtigung aller betroffenen Interessen,[652] d.h. aller betroffenen (Grund-)Rechte und Pflichten, Werte und Güter, Risiken und Gefahren, Vorteile und Nachteile sowie aller gedachten Folgen.[653] Zulassungsgremien und Sozialgerichte haben viel Raum für weitreichende Interessenabwägungen,[654] müssen dabei aber die betroffenen Belange zutreffend erfassen und abwägen.[655]

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Selbst wenn der Rechtsbehelf gegen den Beschluss erkennbar aussichtslos ist, muss bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung zusätzlich begründet werden, warum ein besonderes Interesse gerade daran besteht, dass die Rechtswirkungen des Beschlusses schon vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens eintreten.[656] In Zulassungs- und Ermächtigungssachen kann sich dieses Interesse aus der Notwendigkeit der Sicherstellung der vertragsärztlichen Versorgung der Versicherten ergeben.[657] In Nachbesetzungsverfahren kann bei der Anordnung des Sofortvollzugs auch das Interesse des Praxisabgebers am Erhalt des wirtschaftlichen Werts der Praxis berücksichtigt werden.[658] Bsp.: Spricht nach summarischer Prüfung manches dafür, dass eine (qualitative) Versorgungslücke besteht, so kann sich daraus ein überwiegendes Interesse des die Ermächtigung begehrenden Krankenhausarztes ergeben, bereits vor dem Abschluss des Hauptsacheverfahrens von der Ermächtigung Gebrauch zu machen.[659] Müssen konkrete Gefahren für wichtige Gemeinschaftsgüter abgewendet werden (z.B. Gesundheitsgefährdungen der Versicherten) oder besteht Anlass zu der Annahme, der Arzt werde sein gröbliches Fehlverhalten unverändert fortsetzen, kann die sofortige Vollziehung der Zulassungsentziehung angeordnet werden.[660]

bb) Anordnung im überwiegenden Interesse eines Beteiligten

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Der Berufungsausschuss ist bei seiner Entscheidung über die Anordnung der sofortigen Vollziehung trotz des Wortlauts des § 97 Abs. 4 SGB V nicht auf Aspekte des öffentlichen Interesses beschränkt, sondern kann die Anordnung auch auf überwiegende Interessen eines Beteiligten stützen.[661] Das BSG lässt die Anordnung der sofortigen Vollziehung im überwiegenden Interesse eines Beteiligten zu, etwa dann, wenn dieser von der ihm zugebilligten Rechtsposition überhaupt nur unter der Voraussetzung Gebrauch machen kann, kein Hauptsacheverfahren abwarten zu müssen. Z.B. kann es im Verfahren über die Nachbesetzung eines in einer Gemeinschaftspraxis ausgeübten Vertragsarztsitzes im Interesse der in der Gemeinschaftspraxis verbleibenden Vertragsärzte geboten sein, dem vom Zulassungsausschuss zugelassenen Nachfolger durch Anordnung der sofortigen Vollziehung die Aufnahme der vertragsärztlichen Tätigkeit zu ermöglichen; die Feststellung der Überversorgung steht dem nicht entgegen.[662] Es reicht allerdings nicht jedes persönliche Interesse des Beteiligten aus, insbesondere nicht das bloße Verdienstinteresse eines Ermächtigten, der bereits durch sein Gehalt als angestellter Arzt finanziell ausreichend gesichert ist.[663]

4. Vorläufiger Rechtsschutz durch die Sozialgerichte während des Zulassungsverfahrens

a) Grundlagen

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Für den gerichtlichen vorläufigen Rechtsschutz ist zwischen Anfechtungssachen und Vornahmesachen zu unterscheiden. In Anfechtungssachen betrifft der vorläufige Rechtsschutz die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs. Es geht also entweder um die sofortige Vollziehung oder um die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung. Der vorläufige Rechtsschutz durch die Gerichte richtet sich in diesen Fällen nach § 86b Abs. 1 SGG.[664]

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In Vornahmesachen richtet sich der gerichtliche Rechtsschutz nach § 86b Abs. 2 SGG. Er ist auf den Erlass einer einstweiligen Anordnung (Regelungsanordnung[665]) gerichtet und kommt nur in Betracht, wenn in der Hauptsache nicht die Anfechtungsklage die richtige Klageart ist (Vorrang der Anfechtungsklage).[666]

343

Voraussetzung des gerichtlichen vorläufigen Rechtsschutzes ist ein ordnungsgemäßer schriftlicher Antrag, für den § 92 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 SGG entsprechend gilt.[667] Die Sollvorschrift des § 92 Abs. 1 S. 4 SGG verdichtet sich im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu einem faktischen „Muss“. Das Vorbringen des Antragstellers muss klar ergeben, auf welche rechtlichen und tatsächlichen Aspekte er sein Begehren stützt. Das Gericht ist nicht gehalten, zu weiterem Vorbringen aufzufordern.[668] Der Antrag ist nicht fristgebunden und kann schon vor Einlegung eines Rechtsbehelfs gestellt werden. In Anfechtungssachen kann ihm jedoch nur stattgegeben werden, wenn im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung der die aufschiebende Wirkung begründende Rechtsbehelf schon eingelegt worden ist.[669] Ein vorheriger Antrag auf Anordnung der sofortigen Vollziehung bei den Zulassungsgremien ist hingegen nicht Voraussetzung eines an das Sozialgericht gerichteten Antrags. Das Sozialgericht kann direkt mit der Anordnung befasst werden.[670] In sachlicher Hinsicht sind für die gemäß § 86b Abs. 1 SGG gebotene Abwägung wirtschaftliche Interessen ein Kriterium neben einer Vielzahl anderer in die Abwägung einzubeziehender Umstände und können je nach Sachlage auch von untergeordneter Wertigkeit sein.[671]

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Der Beschluss des Gerichts über die Anordnung der sofortigen Vollziehung oder die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung wirkt in Zulassungsangelegenheiten nach dem allgemeinen Grundsatz des BSG nur ex nunc und nicht ex tunc.[672] Er ist der materiellen Rechtskraft fähig und bindet die Beteiligten bis zur Hauptsacheentscheidung, wobei eine Änderung gemäß § 86b Abs. 1 S. 4 SGG beantragt werden kann. Hat das Gericht bspw. die aufschiebende Wirkung des Beschlusses der Zulassungsgremien wiederhergestellt, weil die Interessenabwägung ergab, dass die Vollzugsanordnung rechtswidrig war, dürfen die Zulassungsgremien eine erneute Vollzugsanordnung nur bei einer Änderung der Sach- oder Rechtslage beschließen. Es wäre bei gleicher Sach- oder Rechtslage unzulässig, einen neuen gleichlautenden Beschluss zu fassen und diesen erneut mit einer Vollzugsanordnung zu versehen.[673]

b) Anordnung der sofortigen Vollziehung

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Das zuständige Sozialgericht kann auf Antrag die sofortige Vollziehbarkeit eines Beschlusses des Berufungsausschusses anordnen (§ 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG).[674] Ob das Sozialgericht auch Entscheidungen des Zulassungsausschusses für sofort vollziehbar erklären kann, ob § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG also schon vor der Entscheidung des Berufungsausschusses eingreift, ist umstritten. Dagegen wird die Einordnung des Verfahrens vor dem Berufungsausschuss als „zweitinstanzliches Verwaltungsverfahren“ angeführt.[675] Wegen der Sonderregelungen der §§ 96 Abs. 4, 97 Abs. 4 SGB V sei einstweiliger Rechtsschutz – auch durch die Sozialgerichte – erst nach der Entscheidung des Berufungsausschusses zu gewähren.[676] Nur bei einer Verletzung des Gebots effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) sei ausnahmsweise schon vor der Entscheidung des Berufungsausschusses vorläufiger Rechtsschutz zulässig.[677] Diese Ansicht widersprach schon vor der Entscheidung des BSG vom 5.6.2013[678] dem gesetzgeberischen Willen, den einstweiligen Rechtsschutz durch das 6. SGG-ÄndG umfassend auszugestalten. Dass der Zulassungsausschuss die sofortige Vollziehung seiner Beschlüsse nicht anordnen konnte, beruhte auf Gründen, die bei den Sozialgerichten nicht vorlagen. Dass dem Sozialgericht keine Anordnungsbefugnis zukommen sollte, solange der Berufungsausschuss nicht entschieden hatte, war § 97 Abs. 4 SGB V nicht zu entnehmen.[679] Da das BSG nunmehr schon dem Zulassungsausschuss die Kompetenz für Vollzugsanordnungen zuerkennt und § 97 Abs. 4 SGB V nicht als Sonderregelung betrachtet, fehlen überzeugende Argumente gegen die Kompetenz der Sozialgerichte, wie sonst auch bereits Beschlüsse der Ausgangsbehörde (des Zulassungsausschusses) für sofort vollziehbar zu erklären. Es ist heute somit davon auszugehen, dass das Sozialgericht jederzeit die sofortige Vollziehung der vom Zulassungsausschuss getroffenen Entscheidung anordnen und diese Anordnung auch wieder ändern kann.[680]

346

Die Voraussetzungen einer gerichtlichen Anordnung der sofortigen Vollziehung wurden in § 86b SGG nicht geregelt. Sie entsprechen denen, welche die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu § 80 Abs. 2 Nr. 4 und Abs. 5 VwGO entwickelt hat.[681]