Oh mein Gott!

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Sabbatpremiere
Am siebten Tage sollst du ruhen

Im bayrischen Eggenfelden geht gerade die Sonne unter. Damit beginnt mein erster Sabbat. Heute Abend ist im Landkreistheater an der Rott die Musical-Premiere von Evita. Bei dem Stück führt meine Schwester Elke Regie.

Am Sabbat darf ein gläubiger Jude nicht arbeiten, darf er sich aber passiv unterhalten lassen? Bereits bei unserem ersten Treffen im Café Hawelka habe ich das Thema mit dem Oberrabbiner diskutiert. »Ich bin ja Kabarettist. Darf ich am Sabbat auftreten, Herr Oberrabbiner?«

Der Oberrabbiner blickt mich etwas verständnislos an und schüttelt den Kopf. »Nee.« Diese Antwort habe ich leider erwartet. Ich gehe in Gedanken meinen Jänner-Spielplan durch und überlege, ob ich irgendwann an einem Freitag auftrete.

Zögerlich stelle ich die nächste Frage: »Darf ich selber ins Kabarett oder ins Theater gehen?«

»Kommt drauf an. Wenn Sie eine Freikarte bekommen, dann ja. Sonst nicht.« Ich atme durch, denn meine Schwester hat mich eingeladen. Doch Eisenberg ist mit seinen Ausführungen noch nicht fertig.

»Über den Sabbat und seine Regeln wird so viel erzählt, aber das Wichtigste ist, und das können Sie sich merken: Über allem steht das Leben. Dann kann jede Regel gebrochen werden. Wenn jemand zum Beispiel kurz vorm Verhungern ist und es ist nur ein Schweinsschnitzel da zum Essen, dann darf er das essen.«

»Was sind sonst noch Grundregeln, an die ich mich halten soll? Kein Handy, kein Fernseher?«

»Ja, kein Fernseher, kein Handy«, sagt der Oberrabbiner. »Autofahren soll man am besten auch nicht, weil es anstrengend ist. Außer es handelt sich um eine kurze Fahrt in die Synagoge«, fügt Eisenberg mit einem Augenzwinkern hinzu. »Wenn Sie dringend jemanden ins Krankenhaus fahren müssen, dann dürfen Sie natürlich Autofahren. Wie gesagt, das Leben steht über allem. Mitfahren ist immer erlaubt.« Und dann sagt der Oberrabbiner, was für mich den bedeutendsten Teil des Sabbats darstellt.

»Wichtig ist, sich am Sabbat Gott, seiner Familie und seinen Freunden zu widmen. Jeder Jude muss für sich selbst wissen, wie er seinen Sabbat anlegt.« Orthodoxe Juden legen den Sabbat so streng wie möglich und nach jahrtausendalten Gesetzen an.

So streng wird es bei mir eher nicht werden. Beachten muss ich zunächst die Sonnenuntergangszeiten. Der Sabbat dauert von Freitagabend bis zum Samstag. Von Sonnenuntergang bis Sonnenuntergang. In dieser Zeit werde ich weder Fernseher noch Smartphone einschalten. Kein WLAN am Sabbat, der Draht zu Gott muss reichen. Das Thema Autofahren werde ich folgendermaßen lösen: Ich fahre am Freitagvormittag mit meiner Familie nach Eggenfelden, da ist noch kein Sabbat. Problematischer ist die Rückfahrt, da ich vor Sabbatende wieder in Wien sein muss. Mitfahren ist ja erlaubt, also wird meine Freundin Heidi den 300 Kilometer langen Rückweg übernehmen.

Den Synagogenbesuch lasse ich aus, weil keine in der Nähe ist. Allerdings habe ich meine Kippa und Tora dabei und werde zu Sabbatbeginn eine Stunde in der Tora lesen. Zeit für Gott ist also eingeplant, genauso wie für die Familie.

Die erste Hürde muss ich bereits bei der Begegnung mit meiner Familie überwinden, als meine Schwester sagt: »Setzt euch zum Essen! Ich habe einen Schweinsbraten gemacht.« Gott stellt mich also auf die Probe, jetzt muss er mir auch beistehen. Es gilt, den eingeschlagenen Weg nicht zu verlassen.

»Elke, Schweinefleisch ist für mich tabu.« Ich beginne meiner Familie von meinem Experiment zu erzählen. Meine Mama schaut mich verdutzt an und sagt: »Du warst schon immer etwas verrückt, aber jetzt hat’s dich erwischt.« Darauf habe ich die passende Antwort. »Im Gegenteil. Ich bin jetzt zum ersten Mal koscher.« Für mich werden also nur Kraut und Knödel serviert und mein Dasein als Jude wird von meiner Familie nicht nur akzeptiert, sie beginnt sich sogar dafür zu interessieren. Ich bin selbst überrascht, was ich alles vom Judentum mitgenommen habe, als ich von den ersten Tagen erzähle. Übernachten werde ich mit Freundin und meiner kleinen Tochter in einem Hotel, wir sind pünktlich zu Sabbatbeginn um 16:30 Uhr im Zimmer. Ich brauche oft tagelang keinen Fernseher, aber hier im Hotelzimmer würde ich gerne sofort zur Fernbedienung greifen und alle Kanäle rauf- und runterzappen. Doch der Versuchung kann ich ebenso widerstehen wie zuvor dem Schweinsbraten. Stattdessen widme ich mich der Tora und beginne im ersten von insgesamt fünf Büchern Moses zu lesen, der Genesis, die Schöpfungsgeschichte. Bald bin ich vertieft, und wenn nicht die Evita-Premiere rufen würde, ich würde wohl länger als die eingeplante Stunde in der Tora verweilen.

Mein Smartphone habe ich bereits eine Stunde vor Sabbatbeginn ausgeschaltet. Es war ein nahezu feierlicher Akt. Während ich also keine Anrufe entgegennehmen oder Nachrichten verschicken muss, bemerke ich, wie ich mich durch mein Smartphone oft mit vielen Leuten beschäftige, nur nicht mit denen, die gerade da sind.

Doch an diesem Abend kann ich mich ganz auf die anwesenden Menschen konzentrieren und vor allem auch auf das Stück. Dem Sabbat sei Dank. Evita wird ein Erfolg, die Premiere wird bejubelt und beklatscht, ich freue mich für meine Schwester, die ich nach dem Stück im Theatercafé umarme. Ich stoße mit ihr mit einem Weißbier an. Dann fällt mir ein: Ob Alkohol am Sabbat erlaubt ist oder nicht, habe ich gar nicht gefragt. Glauben heißt bekanntlich nicht wissen, und weil ich es nicht weiß, glaube ich einmal, dass ein Bier am Sabbat erlaubt ist. Auf alle Fälle hier in Bayern. Der nächste Tag wird genauso eingehalten, wie ich ihn geplant habe, und so ziehe ich am Samstagabend Bilanz über meinen ersten Sabbat. Er war tatsächlich richtig erholsam, quasi ein 24-Stunden-Urlaub mit Tora lesen. Hat es was mit dem Judentum zu tun, oder habe ich nur gut abschalten können, weil auch mein Smartphone abgeschaltet war? Um die Antwort dafür zu bekommen, habe ich noch drei Sabbats Zeit. Meine Vorfreude auf den nächsten ist jetzt schon groß.

Synagoge statt Streif
Mein Tora-Wunder

Meinen dritten Sabbat möchte ich, nachdem ich den zweiten einfach mit Lesen in der Tora und sonstigem Nichtstun verbracht habe, so streng wie möglich begehen. Wir verzichten in unserer Wohnung komplett auf elektrisches Licht und benützen keine elektrischen Geräte wie die Waschmaschine oder den Geschirrspüler. Ausnahme: Eine Herdplatte darf für den Brei von Ivy aktiviert werden, sonst wäre es wohl rasch vorbei mit der Ruhe am Sabbat. Smartphone und Internet sind sowieso tabu, das ist nach zwei Sabbats schon zur Selbstverständlichkeit geworden. Ich ärgere mich, dass zu wenig Zeit war, um ihn noch ordentlicher vorzubereiten oder zumindest pünktlich zu starten.

Heidi muss noch einiges erledigen und ist noch nicht zurück. Doch ohne die Frau des Hauses kann der Sabbat nicht begonnen werden, denn 18 Minuten vor Beginn des Sabbats sind die Sabbatkerzen anzuzünden. Grundsätzlich gibt es zwei Kerzen, die jeweils für Mann und Frau stehen, mittlerweile wird für jedes Familienmitglied eine Kerze angezündet. Traditionellerweise zündet die Frau diese Kerzen an, außer ein Mann lebt alleine in einem Singlehaushalt, dann muss natürlich er die Sabbatkerzen anzünden. Heute hätte dieses Ritual um 16:18 Uhr stattfinden sollen, es ist aber nun bereits knapp nach 17 Uhr, als ich die Wohnungsschlüssel höre und Heidi nach Hause kommt. Wenn die Tora wortwörtlich ausgelegt werden würde, dann hätte ich jetzt vielleicht ein ernstes Problem, denn im 2. Buch Mose, im Exodus, steht Folgendes:

»Und der Ewige sprach zu Moscheh, indem er sagte: Du aber rede zu den Söhnen Jisraels und sprich: Nur meinen Sabbat müsset ihr halten, denn ein Zeichen ist es zwischen mir und euch für eure Geschlechter, dass ihr erkennet, dass ich der Ewige, der euch heiliget. Und haltet Sabbat, denn heilig ist er euch. Wer ihn entweiht, soll getötet werden.«

Sehr freundlich und großherzig klingt das nicht gerade, aber ich hoffe, Gott sieht über unsere Unpünktlichkeit hinweg oder zumindest gerade nicht auf die Uhr. Die Zeremonie kann beginnen. Heidi zündet die Kerzen an, danach führt sie beide Hände in einer Kreisbewegung zu ihren Augen und hält diese zu. Nun ist es Zeit für sie, den Segensspruch aufzusagen. Leider kann ihn keiner von uns auswendig und ich habe auch vergessen, ihn auszudrucken. Was aber ohnehin sinnlos wäre, weil Heidi die Hände vor ihren Augen hat und ihn nicht lesen könnte. So wünschen wir uns einfach »Good Schabbes«, eine Mischung aus dem englischen Wort für gut und dem jiddischen Wort für Sabbat. Zwei Wörter, die sich die Mitglieder der jüdischen Gemeinde am Sabbat vor allem zur Begrüßung in der Synagoge sagen. Doch die drei Sabbatkerzen sind nicht die einzigen, die meine Freundin anzündet. Es folgen noch einige mehr. Ich bin direkt verwundert, wie viele Kerzen sie bei uns gelagert hat. Sollte dem Flughafen Wien-Schwechat einmal das Licht für eine Landebahn ausgehen, könnten wir mit unseren Kerzen locker aushelfen. Mit jeder Kerze, die brennt, so habe ich das Gefühl, werde ich innerlich ruhiger.

Jetzt gilt es, sich nur nicht anzustrengen. Es gibt sogar Juden, die das Streichholz beim Kerzenanzünden nicht ausblasen, sondern warten, bis es von selbst erlischt, weil das Ausblasen zu anstrengend sein könnte. Eine Besonderheit bei den orthodoxen Juden ist auch der sogenannte Sabbatlift. Dieser ist so programmiert, dass er automatisch von oben nach unten fährt und in jedem Stockwerk stehen bleibt, damit kein Jude einen Knopf betätigen muss. Diesen Sabbatlift findet man in Krankenhäusern, Wohnhäusern, auch in Synagogen und Hotels, allen voran natürlich in Israel. Im Jahr 2001 wurde dort sogar ein Sabbat-Aufzugsgesetz verabschiedet, das für die Planung und den Bau aller Wohngebäude sowie öffentlicher Gebäude, die über mehr als einen Aufzug verfügen, zur Einrichtung eines Steuermechanismus für Sabbat (Sabbat-Modul) in einem der Aufzüge verpflichtend vorsieht.

 

Die Lösung muss manchmal aber gar keine technische sein, sondern kann allzu menschlich ausfallen, indem man einen sogenannten Sabbat-Goi beschäftigt. Als Goi werden alle Nicht-Juden bezeichnet. Und so kann zum Beispiel in einem großen Hotel einfach ein Sabbat-Goi beauftragt werden, die Liftknöpfe für Juden zu drücken. Die Treppe nehmen kommt gar nicht infrage, weil das viel zu anstrengend ist. Für mich persönlich ist es allerdings anstrengender, an all die Regeln zu denken und die Vorbereitungen dafür zu treffen als einfach gar nichts zu tun.

Eine solche Vorbereitung hätten wir auch für die Sabbat-Mahlzeiten treffen sollen: Drei Mahlzeiten vorkochen und auf eine Wärmeplatte stellen. Bei uns fehlt es gerade an beidem, an den drei Mahlzeiten und an der Wärmeplatte. Aber es fehlt mir nicht an Kreativität, und so wird der gute österreichische Kompromiss gewählt: Es wird einfach nicht warm gegessen, sondern kalt gejausnet. Zumindest habe ich mit meiner Freundin jetzt, nachdem Ivy bereits tief und fest schläft, ein romantisches Candle-Light-Dinner in der eigenen Wohnung, oder besser gesagt eine Candle-Light-Jause. Kornspitz bei Kerzenschein.

Ich widme mich also meiner Familie, wie es der Sabbat vorschreibt. Und jetzt kommt das Beste: Es gibt das Gebot, am Sabbat Sex zu haben. Da kann ich mir ein Lachen nicht verkneifen. Den Liftknopf zu drücken ist nicht erlaubt, Sex jedoch schon. Aber vielleicht strengen sich manche beim Sex noch weniger an als beim Drücken des Liftknopfes. Dieses Gebot betrifft allerdings nur Ehepaare, und nachdem ich nicht verheiratet bin, bleibt mir nun nichts anderes zu tun, als meine Liebe Gott zu widmen. So klingt der Abend beim Toralesen im Kerzenschein aus. Anstelle von Musik höre ich das leise Schnarchen von Heidi, die neben mir auf der Couch eingeschlafen ist. Einige Bibelstellen später schleiche ich dann wie ein Nachtwächter durch die Wohnung und blase alle Kerzen aus. Und nachdem es so viele sind, verbrauche ich dabei mindestens so viel Luft wie bei einem Halbmarathon.

8 Uhr nächster Tag. Viele Skifans sind unterwegs zur Streif, heute findet wieder der legendäre Abfahrtsklassiker in Kitzbühel statt. Ich werde das Rennen nicht einmal im Fernsehen verfolgen können, für mich heißt es heute Synagoge statt Streif. Ich würde mein Experiment als Jude nicht ernst nehmen, wenn ich nicht auch einmal einen Sabbatgottesdienst besuchen würde. Im Vergleich zum Morgengebet, das um 7 Uhr abgehalten wird, findet der Sabbatgottesdienst erst um 9 Uhr statt, dafür wird er nicht eine Stunde, sondern mitgestoppte zwei Stunden und 52 Minuten dauern. Ich habe mich bereits angemeldet und zusätzlich habe ich Raphael, ein Mitglied der jüdischen Gemeinde, als »Begleitschutz« mit dabei.

Die schönste Erfahrung mache ich bereits nach wenigen Minuten. Das Gefühl der Fremdheit, beinahe ein Gefühl der Angst, das ich noch bei meinem ersten Synagogenbesuch verspürt habe, ist komplett verschwunden. Das liegt auch daran, dass ich sofort freundlich aufgenommen werde. Ich treffe an der Garderobe wieder auf Mirko, einen Fahrlehrer aus Wien, der mir beim Morgengebet zu Beginn meines jüdischen Monats durch Zurufen der Seitenzahlen geholfen hat. Er freut sich, mich wiederzusehen. In der Synagoge sehe ich auch bekannte Gesichter, die mir schon beim Morgengebet begegnet sind. Wir geben uns die Hand und wünschen uns gegenseitig »Good Schabbes«. Ich weiß nicht, ob ich bei meinem ersten Morgengebet einen guten Eindruck hinterlassen habe, aber auf alle Fälle habe ich einen Eindruck hinterlassen. Von vielen werde ich sofort wiedererkannt. Das hilft mir sehr, mich heute in der Synagoge um einiges wohler zu fühlen. Auch kenne ich mich bereits besser aus und bin vorbereitet.

Ist mir beim ersten Mal meine Kippa noch zwei oder drei Mal runtergefallen, weiß ich mir mittlerweile mit einer Klammer zu helfen. Dieses Fettnäpfchen lasse ich diesmal aus, ebenso weiß ich, dass ich mich nicht auf den ersten Platz in der letzten Reihe setzen soll. Denn der Mann, der mich beim Morgengebet noch zurechtgewiesen hat, tat das völlig zu Recht. Immerhin habe ich mich damals auf den Platz des Shames, des Synagogendieners, gesetzt. Er hat die Aufgabe, für Ordnung in der Synagoge zu sorgen.

Heute ist die Synagoge fast komplett gefüllt, beim Morgengebet, zu Beginn meines Monats im Judentum, waren nur etwas mehr als ein Dutzend Leute anwesend. Auch viele Frauen befinden sich heute in der Synagoge, aber sie sitzen wie in der jahrtausendealten Tempelordnung einen Stock höher. Auf Nachfrage erklärt mir Mirko, dass das alles seinen Sinn hat. Die Geschlechtertrennung soll symbolisieren, dass jeder, egal ob verheiratet oder nicht, vor Gott gleich ist, und so kann auch kein Neid innerhalb der Synagoge entstehen.

Generell wird heute weniger untereinander gesprochen als noch beim Morgengebet. Das liegt vielleicht am Sabbat oder einfach daran, dass mein jüdischer Meister Yoda, Oberrabbiner Paul Eisenberg, fehlt. Er verbringt den Sabbat-Gottesdienst scheinbar woanders. Die Leitung übernimmt diesmal der nun amtierende Oberrabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde, Arie Folger, ein großgewachsener, überaus netter Belgier, der mir auch gleich zu Beginn »Good Schabbes« gewünscht hat. Neben ihm am Altar stehen der Oberkantor und dahinter der Chor. Es wird immer sehr viel gesungen während des Sabbat-Gottesdienstes. Mein Hebräisch hat sich weder verbessert noch verschlechtert, es ist konstant bei null geblieben. Aber dem liturgischen Ablauf kann ich besser folgen. Laute Gebete, stille Gebete, dann wieder ein Gesang, und ab und zu aufstehen und sich wippend nach vorne beugen. Langsam finde ich etwas rein, auch dank der Hilfe und den Anmerkungen von Mirko. Langsam steuern wir wieder auf den Höhepunkt des Gottesdienstes zu, der Aushebung der Tora. Das schöne blau-goldene Tuch hinter dem Altar wird weggezogen, der Schrein wird aufgemacht und die schwere Torarolle rausgeholt. Dann geht der Oberkantor, gefolgt vom Oberrabbiner Folger, eine Runde durch die Synagoge, dabei berührt jeder mit der Hand die Tora und küsst danach seine Hand. Der Oberrabbiner schüttelt einem danach die Hand.

Im Vergleich zum Morgengebet wird auch aus der Tora gelesen. Jeder liest die gleiche Stelle, aber jeder für sich. Nun erlebe ich wirklich einen mystischen Moment. Heute wird genau an jener Stelle zu lesen begonnen, an der ich gestern Abend bei mir daheim, im Schein der Kerzen, aufgehört habe. Das kann kein Zufall sein, immerhin hat die Tora, die ich mir gekauft habe, über 1100 Seiten. Da muss göttliche Fügung dahinter stecken. Ich bin wirklich perplex und muss das sofort Mirko zu meiner Linken zuflüstern. Er ist glaubenstechnisch viel stabiler als ich und nimmt mein persönliches Tora-Wunder cool zur Kenntnis. Stattdessen klärt er mich auf, dass im Kreislauf eines Jahres die ganze Tora einmal durchgelesen wird, jeden Gottesdienst am Sabbat ist eine andere Stelle dran. Irgendein kluger, mathematisch begabter Jude muss sich das wohl vor Tausenden Jahren ausgerechnet haben. In Gedanken bin ich aber noch dabei, zu begreifen, dass wir wirklich genau dort weiterlesen, wo ich gestern aufgehört habe. Vielleicht ist Gott gar nicht so brutal wie in vielen Stellen der Tora beschrieben. Vielleicht schenkt er mir etwas Zeit zurück, immerhin so viel Zeit, wie ich durch die Sabbatverspätung eingebüßt habe. Good Schabbes!

Wie geht es weiter?
Der Jude und das Jenseits

»Wenn einer einen Fuß amputiert bekommt, dann begraben wir zunächst gleich den Fuß. Und erst Jahre später den Rest des Körpers.«

Das klingt nach einem Ausschnitt aus einem Krimi von Simon Beckett oder Stieg Larsson, es ist aber Teil der jüdischen Begräbnisordnung.

Ich sitze im Verwaltungsgebäude des jüdischen Friedhofs beim Tor 4 des Wiener Zentralfriedhofs, Simmeringer Hauptstraße 244. Mir gegenüber, an seinem Schreibtisch, Chaim Tetruashvili, der Friedhofsleiter, ein frommer jüdischer Mann um die vierzig mit Bart und Kippa am Kopf. Ich höre gebannt seinen Schilderungen über jüdische Begräbnisse und das Leben nach dem Tod. »Männer müssen unbedingt eine Kopfbedeckung tragen«, steht mit weißer Schrift auf einer blauen Tafel am Eingangstor des Friedhofs. Da kann heute nichts falsch gemacht werden, ohne Haube frieren einem sowieso die Ohren ab. Ich weiß nicht, ob die Formulierung »saukalter Jännertag« koscher ist, aber anders kann ich es nicht ausdrücken.

Ich stelle Chaim Tetruashvili im Schutz des warmen Zimmers alle Fragen, die mir auf der Zunge liegen. »Stimmt es, dass Juden innerhalb von nur zwei Tagen beerdigt werden müssen?«

»Nein, wenn möglich wird das viel früher erledigt. Das Ziel ist, die Beerdigung so schnell wie möglich durchzuführen. Ein bis drei Stunden nach dem Tod. Am besten wäre es sogar, wenn jemand weiß, dass er stirbt, und sich gleich neben das Grab legt«, sagt Tetruashvili mit einem Schmunzeln. »Der Seele tut es einfach nicht gut, wenn die Beerdigung dauert. Daher dürfen Tote auch auf keinen Fall alleine sein, es muss immer jemand Totenwache halten.«

Dass es dafür im Judentum spezielle Regeln gibt, muss mir mittlerweile nicht mehr extra erzählt werden. Die Organisation eines jüdischen Begräbnisses übernimmt in Österreich nicht ein Bestattungsunternehmen, sondern die Israelitische Kultusgemeinde. Im sogenannten Tahara-Raum wird der Leichnam gewaschen. Tahara ist das Wort für Waschung. Danach kommt der oder die Tote in ein schlichtes Totengewand aus weißem Leinen. Der Sarg ist ein anspruchsloser Holzsarg, er soll auf keinen Fall prunkvoll ausfallen. Auch dadurch wird dem Gedanken Ausdruck verliehen, dass vor Gott alle Toten gleich sind.

Wie das Begräbnis selbst abläuft, hat mir davor schon Jiri Schreiber, der hier am jüdischen Friedhof seit 1970 Steinmetz ist, in seiner Werkstatt erklärt. Es ist im Grunde dem christlichen Begräbnis sehr ähnlich, es gibt allerdings keine große Anzahl von Grabrednern. In der Aufbahrungshalle spricht lediglich ein Rabbi oder ein Oberkantor über das Leben des Verstorbenen. Danach begleitet die Trauergemeinde den Toten zu seinem Grab. Hier wird nicht wie im Christentum nur ein kleines Schäuflein Erde von den Angehörigen auf den Sarg geworfen, nein, das Grab wird von der Trauergemeinde gleich komplett zugeschüttet. Zu einer zweiten Zeremonie kommt es meistens ein knappes Jahr später, bei der Enthüllung des Grabsteins, sagt mir der Steinmetz. Die beiden hebräischen Zeichen für »Hier ruht« müssen dabei auf dem Grabstein sein. In vielen Fällen wird auch der Name des Verstorbenen auf Hebräisch in Stein gemeißelt. Auf meine Nachfrage, ob seine Arbeiter denn Hebräisch können müssen, lächelt der ältere Herr mit weißem Bart und sagt: »Nein, dafür gibt es zum Glück Schablonen.«

Die Frage des Begräbnisses wäre also geklärt, nun stelle ich aber Chaim Tetruashvili die entscheidenden Fragen jeder Religion: »Wie geht es nach dem Tod weiter? Wie sieht das Jenseits aus?« Der sympathische Friedhofsleiter gibt mir zu meiner Überraschung zunächst die einzig richtige Antwort auf solche Fragen: »Ich kann es nicht genau sagen, ich war ja noch nie dort.« Nach einem kurzen Lachen von uns beiden fährt er fort: »Der Tote kommt danach vor Gott, dort wird ihm das Leben noch einmal wie in einem Film vorgeführt. Nichts wird ausgelassen, weil Gott alles sieht und mitbekommt. Und nach diesem Film gibt es ein Gericht. Dort wird über gute und böse Taten geurteilt.«

Auf meine Nachfrage, ob es einen genauen Strafenkatalog gibt, wie zum Beispiel: ein Seitensprung bedeutet ein Jahr Hölle, bekomme ich zunächst ein Kopfschütteln als Antwort: »Wir wissen nicht genau, für welche Taten es welche Strafen gibt. Aber wir versuchen, hier auf Erden eben so gut wie möglich zu leben. Jeder hat seine schlechten Seiten, selbst ein Rabbi, und dafür müssen wir im Jenseits büßen. Aber wir glauben auch fest daran, dass schlussendlich jeder erlöst wird.«

»Und wie sieht es mit der Wiederauferstehung der Toten aus? Wann passiert die?«, frage ich. »Wenn der Messias kommt«, antwortet Chaim. »Allerdings ist es eine schwierige Frage, was mit denen passiert, die zu diesem Zeitpunkt leben. Dürfen die einfach so weiterleben, ohne vor ein Gericht zu kommen?«

Eines ist allerdings für die gläubigen Juden klar: Wenn der Messias kommt, dann wird er das wohl im gelobten Land Israel tun. Auch aus diesem Grund veranlassen viele, dass sie nach ihrem Tod nach Israel überstellt werden. Es gibt auch den Brauch, dem Toten einen kleinen Sack mit Erde aus Israel beizugeben.

 

Auf jeden Fall ist es gut, wenn der Tote im Falle einer Wiederauferstehung alle seine Knochen zusammen hat. Davon handelt auch die Geschichte der Amputation zu Beginn dieses Kapitels. »Es sind auch keine Tattoos erlaubt, da wir Juden unseren Körper nicht verletzen dürfen.«

»Daher gibt es auch kein Krematorium bei Ihnen, oder?«, frage ich weiter. Der Friedhofsleiter nickt und antwortet: »Das ist strengstens verboten bei uns.« Der Steinmetz, der mit mir ins Verwaltungsgebäude gekommen ist, schaut erstaunt aus seiner tief ins Gesicht gezogenen Kappe raus. Er dachte, das Verbot der Einäscherung hat mit dem so traurigen Kapitel unserer Geschichte und den Verbrennungen der Juden während der Naziherrschaft zu tun. Aber unter dem Aspekt der Wiederauferstehung bekommen diese unbeschreiblichen Gräueltaten noch eine weitere tragische Seite.

Ich bedanke mich bei Chaim Tetruashvili für das Gespräch, ich bin nun wieder ein Stück schlauer geworden. Für mich geht es zurück, raus in die Kälte, aber die Sätze und Ausführungen lassen mich so schnell nicht los. Sie begleiten mich beim anschließenden Sparziergang durch den jüdischen Friedhof mindestens ebenso wie die eisige Kälte. Letztendlich geht es am Ende immer um einen selbst. Könnte ich mit so einem Jenseits leben? Der Glaube daran fällt mir ehrlicherweise nicht leicht. Wenn ich die ganze Zeit nachdenken muss, ob das, was ich gerade tue, gut oder schlecht ist und welche Auswirkungen es im Jenseits auf mich haben könnte, dann stehe ich gedanklich sozusagen schon mit einem Bein im Grab. Manchmal passiert das im Judentum ja wortwörtlich.