Der Traum von Heilung

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Konkurrenz unter Kurorten

Die Idee des immunen Klimas und die damit verbundene Begründung der Höhentherapie weckten auch das Interesse von Ärzten in der Schweiz. Der Hygieniker und ehemalige Chefarzt des Hôpital général von Genf, Henri-Clermont Lombard (1803–1895), veröffentlichte 1856 eine Studie mit dem Titel Les climats de montagnes considérés au point de vue médical.65 Als wichtigen Wirkmechanismus des Höhenklimas identifizierte Lombard den abnehmenden Luftdruck und die dünnere Luft mit weniger Sauerstoff in der Höhe, was für verschiedene Phänomene des menschlichen Körpers verantwortlich sei.66 Mit Verweis auf die Berichte von Gelehrten wie Johann Jakob von Tschudi kolportierte Lombard, dass die Lungentuberkulose bei den Bewohnern hoch gelegener Orte Südamerikas fast unbekannt sei. Er führte die Lungentuberkulose unter denjenigen Krankheiten auf, bei denen ein Aufenthalt in der Höhe zuträglich sei. Doch nicht immer sei eine Höhenkur angezeigt: Es gebe bestätigte Fälle, bei denen die Tuberkulose in der Höhe schneller fortschreite als in der Ebene. Auch sei die Furcht vor Lungenblutungen durch den Höhenaufenthalt berechtigt.67 Trotz solch kritischer Einwände sprach der Umstand, dass Lombard Regionen von über 1500 Meter über Meer als frei von der Tuberkulose erklärte, deutlich für eine immunisierende Wirkung des Höhenklimas. Lombards Buch über die Anwendung des Höhenklimas in der Medizin erlebte drei Auflagen. Seine Befunde dienten als Begründung, weshalb später Sanatorien in Davos, Arosa, Montana oder Leysin errichtet wurden.68 Der Gründer des Kurorts Davos, Alexander Spengler, stützte sich wohl ebenfalls auf Lombards Hypothese, dass die Tuberkulose ab einer Höhe von 1500 Meter über Meer «verschwinde», wie ich im nächsten Kapitel zeigen werde.

Zunächst war es aber der deutsche Arzt Hermann Brehmer, der die Theorie des immunen Klimas in den Sudeten Schlesiens für therapeutische Zwecke nutzte und daraus in Form eines wachsenden Kurbetriebs Kapital schlug. Brehmer nannte seine eigene Behandlungsmethode «rationell» und kritisierte die bis dahin gängigen Methoden, beispielsweise die Molkenkuren, als «nicht rationell»: Man schicke Lungenschwindsüchtige in Molkenkurorte, «wo irgendein Schweizer ganz vortreffliche Molken» zubereite, und bedenke nicht, dass man den Patienten damit mehr schade als nütze. Auch Kuren in Mineralbädern brachten gemäss Brehmer keinen Nutzen. Und wenig sinnvoll seien auch Aufenthalte in südlichen Klimakurorten wie Nizza, Kairo oder Madeira, in denen die Lungenschwindsucht endemisch vorkomme.69 Dass seine «rationelle» Behandlung gerade in Davos Nachahmer fand und dass dortige Ärzte ebenfalls eine «Immunität von der Lungenschwindsucht» geltend machten, behagte Brehmer indes ebenso wenig. Als grundsätzliche Regel stipulierte er, dass die Immunität von der Schwindsucht in Norddeutschland schon bei rund 450 Meter Höhe beginne. Je näher ein Ort aber beim Äquator liege, umso grösser müsse die Elevation sein. In der Schweiz liege die Grenzlinie der Immunität deshalb bei rund 1500 Metern.70 Brehmer mahnte, dass auch dann nicht jeder Ort des Gebirges frei von der Phthise sei. Zudem dürfe man Lungenschwindsüchtige keineswegs starken Winden aussetzen.71

Gerade die Schweiz sei für die Lungentherapie gar nicht geeignet, befand Brehmer. Deren hoch gelegene Täler würden nämlich in der Nähe der Gletscher liegen. Und die Luft des ewigen Schnees scheine «entschieden schädlich» auf den Menschen zu wirken.72 Um dies zu belegen, verwies Brehmer auf Mitteilungen des Chemikers Jean-Baptiste Boussingault, der auf Empfehlung von Alexander von Humboldt Südamerika bereist hatte, und auf den berühmten Text Voyages dans les Alpes des Alpenforschers Horace-Bénédict de Saussure.73 Diese Männer ertrugen gemäss Brehmer die Gletscherluft schlecht. Brehmer warnte vor der Gefahr, dass Lungenkranke in Schweizer Hochtälern die «entschieden unreine Gletscherluft einatmen» würden. Unbekümmert von solchen Bedenken hätten aber einige Ärzte in Davos den Versuch unternommen, Schwindsüchtige zu behandeln – mit laut Brehmer unerfreulichen Resultaten. Er kritisierte, dass in Davos gemäss einer Mitteilung von 34 Kranken deren fünf starben. Die Resultate von Davos blieben damit laut Brehmer weit hinter denjenigen zurück, die in Görbersdorf erzielt wurden.74

Animositäten unter rivalisierenden Kurorten sollte es in der Geschichte der Höhenkur noch öfters geben, kämpften die Kurbetriebe doch um die gleiche, zahlungskräftige Klientel. Aus einer Publikation von 1874, in der Brehmer Kritik an seiner Behandlungsmethode zurückwies, geht hervor, dass ökonomische Interessen bei diesen Auseinandersetzungen ein zentrales Motiv waren. Die Kritik sei häufig «das Produkt persönlicher und geschäftlicher Animositäten», schrieb Brehmer. Diese geschäftlich bedingten Feindseligkeiten beinhalteten laut Brehmer «Angriffe» von Ärzten, die im Höhenklima Phthisiker behandeln würden. Zu diesen zählte Brehmer auch einen Freund von «Dr. Spengler in Davos».75 Allerdings gab es auch von unparteiischer Seite Einwände gegen Brehmers Behandlungskonzept. Solche äusserte etwa Hermann Lebert (1818–1878), Professor für klinische Medizin in Zürich und später in Breslau, im zweiten Teil seines umfangreichen Handbuchs über die Klinik der Brustkrankheiten von 1874.76 Lebert übernahm zwar die Meinung, dass sich die Höhe günstig auf die Tuberkulose auswirke. Doch waren seiner Ansicht nach alle bisherigen Erklärungen für die «angebliche Höhenimmunität» ungenügend. Insbesondere komme es auch auf der Höhe von 1500 Meter über Meer noch gar nicht zu einer erheblichen Abnahme der Sauerstoffmenge und zu physiologischen Reaktionen, welche die Wirkung des Höhenklimas erklären könnten.

Zudem bemängelte er, dass wissenschaftliche Nachweise für die Wirkung der Höhenkurorte fehlen würden.77 Der wissenschaftliche Status der behaupteten heilsamen Wirkung des Höhenklimas war also von Anfang an umstritten, weshalb die Verfechter der Höhenkur in den kommenden Jahrzehnten grosse Anstrengungen leisteten, wissenschaftliche Anerkennung zu gewinnen. Anfangs verdankten Görbersdorf wie auch Davos ihren Aufstieg dem Verweis auf die Hypothese der immunisierenden Wirkung hoch gelegener Orte. Diese Hypothese war verführerisch und stimulierend, wie Daniela Vaj schreibt, und regte zum Bau grosser Sanatorien und zur Gründung von Höhenkurorten an, auch wenn sie wissenschaftlich nie bewiesen wurde.78 Untersuchungen, die zum Teil noch zu Lebzeiten Brehmers entstanden, zeigten demgegenüber, dass das Höhenklima keineswegs immun gegen die Tuberkulose machte und auch Bewohner hoch gelegener Orte an dieser Krankheit starben.79 Felix Wolff, der im Jahr nach Brehmers Tod 1889 Chefarzt von dessen Anstaltskomplex in Görbersdorf wurde und später das auf 700 Meter über Meer gelegene Sanatorium Reiboldsgrün in Sachsen leitete, rückte von der Hypothese der immunen Orte ab. Er schrieb 1895, dass «die Immunitätslehre, in der Weise, wie sie Brehmer vertrat, schlecht oder gar nicht begründet war». Doch auch er hielt daran fest, dass dem Gebirge «eine eigene, fast nirgends wieder aufzuweisende Kraft» innewohne, die «vielleicht ein Heilmittel sein» könne.80

Eine Landschaft wird zum Sanatorium
Der Mann, der Davos erfand

1853 trat Alexander Spengler seine Stelle als Landschaftsarzt von Davos an. Spengler (1827–1901) ist «[d]er Mann, der Davos erfand».1 Der deutsche Arzt aus Mannheim erkannte, welches Potenzial die damals zirkulierenden Berichte über einen heilsamen Effekt des Höhenklimas hatten, und nutzte dieses Wissen für die Behandlung von Lungenkranken im Landwassertal. Mit Spengler begann der Aufstieg von Davos zum weltbekannten Lungenkurort, der 1901, in Spenglers Todesjahr, über 15 000 Gäste beherbergte.2 Spengler schrieb rückblickend, er habe mit der Behandlung der Lungentuberkulose begonnen, weil er während Jahren unter den Einwohnern der Landschaft keinen einzigen Fall von Lungenschwindsucht beobachtet hatte.3 Es ist jedoch fraglich, ob er sein Therapieangebot wirklich aufgrund eigener Erfahrungen lancierte. Denn Spenglers Beschreibungen stimmen auffällig häufig mit früheren Beobachtungen anderer Ärzte überein. So übernahm Spengler von Hermann Brehmer, dem Pionier der Klimabehandlung der Lungenschwindsucht, die Hypothese der hoch gelegenen, tuberkulosefreien Orte. Zu einem solchen erklärte Spengler nun auch Davos.4 Zudem stellte Spenglers Vorgänger als Landschaftsarzt von Davos, Luzius Rüedi, sehr ähnliche Beobachtungen über die Absenz tuberkulöser Erkrankungen unter der Davoser Bevölkerung an. Guido Ramann, einer der ersten Kurgäste in Davos, schrieb 1870 in einem aufschlussreichen Buch denn auch, dass die in Davos übliche Heil- und Behandlungsmethode keine neue, sondern deutschen Ursprungs sei, «geistiges Eigentum des Dr. Brehmer in Görbersdorf».5 Im Folgenden werde ich zeigen, wie der Aufstieg von Davos von der ärmlichen Berglandschaft zum weltberühmten Kurort gelang und wie Alexander Spengler diesen Aufstieg möglich machte, indem er das zirkulierende Wissen über die Höhenbehandlung geschickt für seine Zwecke nutzte. Er war also in meiner Deutung – anders als häufig beschrieben – nicht der Entdecker eines «Heilklimas», sondern übernahm verbreitete Ideen über die gesunde Höhenluft und vermarktete diese geschickt. Davos entwickelte sich dann auch deshalb zum viel besuchten Kurort, weil es neben Spengler weitere tatkräftige Persönlichkeiten ins Landwassertal verschlug, die den Höhenkurort voranbrachten: so einen holländischen Financier und Unternehmer, der wegen seiner lungenkranken Frau nach Davos kam und trotz ihres raschen Tods blieb, weil er das kommerzielle Potenzial der Höhenkur erkannte, oder einen preussischen Verleger, der zahlreiche Schriften veröffentlichte, in denen die Vorteile des jungen Kurorts beschrieben wurden, und so beste Werbung für den Kurort betrieb. Es ist somit das Zusammenspiel von Wissen und Geld, das Davos zum Weltkurort machte. Zudem war für die weitere Entwicklung von Belang, dass es im ärmlichen Davos – anders als in anderen hoch gelegenen Orten – keine florierende Tourismus- oder Badekurwirtschaft gab, welche durch die Tuberkulosekranken hätte konkurriert werden können.

 

Alexander Spengler, um 1853.

Alexander Spengler kam als politischer Asylant in die Schweiz. Er hatte in Heidelberg Jura studiert, als 1848 die revolutionären Aufstände gegen die restaurative Ordnung ausbrachen und auch das Grossherzogtum Baden erfassten. Die Revolution gab Spenglers Leben eine neue Richtung: Im Februar 1849 erhielt er ein Aufgebot der badischen Revolutionstruppen. Doch wurden diese von den preussischen und reichsdeutschen Interventionstruppen geschlagen. Tausende Revolutionäre flüchteten in Richtung Schweizer Grenze.6 Spengler, wie Brehmer also ein «1848er», rettete sich in die Schweiz und liess sich in Zürich nieder.7 Dank der Unterstützung von Bündner Studienfreunden aus seiner Zeit in Heidelberg erhielt er in Graubünden Asyl und konnte in Zürich studieren, obwohl die badische Regierung beim Bundesrat die Ausweisung des «Wühlers» verlangte.8 Es war offenbar niemand Geringerer als der deutsche Physiologe Carl Ludwig (1816–1895), seit 1849 ordentlicher Professor für Anatomie und Physiologie in Zürich, der ihm empfahl, Medizin zu studieren. Ludwig gilt als einer der bedeutendsten Physiologen des 19. Jahrhunderts und als Begründer der experimentellen Physiologie.9 Spengler lernte ebenfalls beim Pathologen Carl Ewald Hasse (1810–1902), der eine anatomische Beschreibung der Lungenkrankheiten und der Lungentuberkulose herausgegeben hatte.10 Als Spengler sein Studium 1853 beendete, war er erst «Candidat der Medicin». Über die ärztliche Zulassung entschied eine kantonale Prüfung. Er absolvierte diese vor dem Bündner Sanitätsrat und erhielt 1853 das Bündner Patent. Für ihn als wenig bemittelten Emigranten kam die Abfassung einer Dissertation nicht infrage.11 Nichtsdestotrotz wurde er aufgrund der schweizerdeutschen Umgangssprache «Doktor» gerufen und nannte sich später auch selbst «Dr. Spengler».12

Als Spengler 1853 seine Tätigkeit als Landschaftsarzt aufnahm, war Davos eine abgelegene Landschaft in den Bergen: arm, rural und unbekannt. Wirtschaftlich hatte die Landschaft einen Tiefpunkt erreicht, nachdem die Erzgruben im Silberberg bei Davos 1848 geschlossen worden waren. Gemäss seinem Vertrag mit der Davoser Obrigkeit betrug Spenglers Wartegeld (Jahresgehalt) 600 Franken. Für jeden Krankenbesuch konnte er zusätzlich 85 Rappen (am Tag) beziehungsweise 1 Franken 70 (in der Nacht) verlangen. Vor Spengler hatte Davos fünf Jahre lang keinen Landschaftsarzt gefunden, und auch Spengler erwog im zurückgebliebenen Hochtal immer wieder die Kündigung.13 «Der Anfang ist hart gewesen. Bei Wind und Wetter stundenlang zu Fuss oder zu Pferd durch das Hochtal; die Einheimischen verstehen seinen badisch-kurpfälzischen Dialekt nicht; auch fehlt ihm die anregende Atmosphäre von Mannheim, Heidelberg oder Zürich», beschreibt der Kulturhistoriker Alfred Georg Frei Spenglers Anfang in Davos.14 Doch langsam wendete sich das Blatt für Spengler. Er lernte seine spätere Frau, die aus einer wohlhabenden Davoser Familie stammende Elisabeth Ambühl (1837–1907), kennen.15 Und auch beruflich eröffneten sich neue Perspektiven: Er erkannte die Möglichkeit, Tuberkulosekranke zu behandeln, was seiner Tätigkeit als Arzt eine andere, ungleich attraktivere Richtung zu geben versprach.

Ein Zeitungsartikel bringt den Durchbruch

Spengler war nicht der erste Arzt, der sich vom Davoser Höhenklima heilsame Effekte versprach. Bereits in den 1840er-Jahren hatte der damalige Landschaftsarzt Luzius Rüedi (1804–1869) in Davos Kinder behandelt, die an Skrofulose litten. Diese damals verbreitete Erkrankung verursachte entstellende Schwellungen der Lymphknoten am Hals und Nacken wie auch Gesichtsekzeme und galt als tuberkulöse Krankheitsform. 1841 ersuchte Rüedi den Sanitätsrat des Kantons Graubünden um die Bewilligung zur Behandlung skrofulöser Kinder. In seinem Gesuch schrieb er, dass die Skrofulose unter Einheimischen höchst selten sei. Sie komme aber vor bei Kindern, die mit ihren Familien aus der Ferne zurückgekehrt seien. Gemäss Rüedi brachte dann «die Veränderung und Verbesserung klimatischer und diätetischer Verhältnisse» Heilung.16 Rüedi formulierte damit seine Beobachtungen wie später auch Brehmer und Spengler auf der Grundlage der Diätetik und ging implizit von einer höhenbedingten «Immunität» für Skrofulose aus. Vor oder zeitgleich mit Rüedi hatten bereits andere Ärzte, beispielsweise Johann Jakob Guggenbühl im Berner Oberland, günstige Wirkungen von Höhenlagen bei skrofulose-ähnlichen Krankheiten postuliert.17 Rüedi betreute die kranken Kinder in seiner Wohnung und nahm 16 bis 20 Bedürftige auf. Eine eigentliche Anstalt führte er also nicht, denn die Errichtung eines zweckmässigen Baus zur Skrofulose-Behandlung überstieg seine finanziellen Möglichkeiten. Der bekannte Zürcher Balneologe und Publizist Conrad Meyer-Ahrens (1813–1872) wurde auf Rüedi aufmerksam und trat mit ihm in Korrespondenz.18 Rüedi bestätigte gegenüber Meyer-Ahrens die heilsame Wirkung des Davoser Klimas bei skrofulösen Kindern. Bei Fällen von weit fortgeschrittener Lungentuberkulose sei dies anders: Diese ende «in dieser reinen Luft bald mit dem Tod», schrieb Rüedi.19 Wie andere Ärzte war Rüedi der Meinung, dass die Lunge durch die dünne Bergluft nicht übermässig belastet werden sollte.20 Conrad Meyer-Ahrens publizierte Rüedis Beobachtungen mehrfach in medizinischen Fachzeitschriften. Rüedi sehe den Grund für den günstigen Gesundheitszustand des Davoser Tals in den klimatischen Verhältnissen, berichtete Meyer-Ahrens 1845, vereint mit einer Ernährung, die fast ausschliesslich auf tierischen Produkten basiert.21 Er wiederholte Rüedis Einschätzung, dass weit fortgeschrittene Phthisis in der reinen Luft bald mit dem Tod ende. Dennoch würden Tatsachen vorliegen, welche bewiesen, dass «Natur und zweckmässige Pflege» in diesem Klima «Grosses» leisten würden. Meyer-Ahrens wies auch auf das Potenzial von Rüedis Behandlungsversuch hin: Dessen Anstalt erreiche in therapeutischer Hinsicht «ganz sichere Resultate». Und auch in ökonomischer Hinsicht würde sich gemäss Meyer-Ahrens ein Engagement lohnen.22 Trotz solch ermutigender Worte blieb das Interesse an Rüedis Beobachtungen zunächst gering. Dieser unternahm auch nicht den Versuch, seine Beobachtungen und sein Therapieangebot durch eigene Publikationen bekannt zu machen.23 Dies habe verhindert, dass Davos schon damals zur Blüte gelangt sei.24 Rüedi musste seine Einrichtung 1849 mangels Nachfrage schliessen. Er verliess Davos und übernahm die Leitung des Kurbetriebs im nahe gelegenen Bad Alvaneu.25

Erst rund 20 Jahre später, in den 1860er-Jahren, war die Zeit reif für die Etablierung eines Kurorts im Landwassertal. Verschiedene Faktoren hatten sich zugunsten von Davos verändert: Nach der Gründung des Schweizer Bundesstaats 1848 entstand ein Eisenbahnnetz, das die Schweiz mit dem Ausland verband und damit auch das Davoser Hochtal besser erreichbar machte. Die Zahl der Touristen in der Schweiz nahm zu.26 Ebenfalls in den 1850er-Jahren beschrieb Hermann Brehmer die Heilbarkeit der Tuberkulose in hoch gelegenen, angeblich tuberkulosefreien Orten. Zudem hatte Davos mit Alexander Spengler nun einen Vertreter, der die Heilkraft des Höhenklimas entschlossen und energisch zu propagieren vermochte. Bemerkenswert ist, dass auch Spengler offenbar anfänglich die vorherrschende Meinung vertrat, dass das Hochgebirge für Lungenkranke ungeeignet sei und nur ein milderes, südliches Klima Linderung verschaffen könne.27 Bei frühen Patienten vertraute er nicht auf das Davoser Klima, sondern praktizierte die Kuhstallkur oder Stabulation: Der Kranke hatte im Stall zu übernachten und sollte dabei von einer Heilwirkung der ammoniakalischen Gase profitieren.28 Doch änderte Spengler wohl aufgrund der Berichte Brehmers und Rüedis seine Meinung. Gut bekannt unter Ärzten waren damals auch die Studie des Genfers Henri-Clermont Lombard über das Bergklima aus medizinischer Sicht von 1856 oder diejenige des Freiburger Medizinprofessors Anton Werber (Die Schweizer-Alpenluft in ihrer Wirkung auf Gesunde und Kranke). Diese empfahlen das Höhenklima bei Lungentuberkulose. Vielleicht hatte Spengler auch von den bekannten Führern des englischen Arztes Edwin Lee gehört, der Europa bereiste und schon in den 1850er-Jahren eine therapeutische Wirkung der Alpenluft beschrieben hatte.29 Spenglers Meinungsumschwung läutete eine folgenreiche Entwicklung ein: Kleine, bislang unbedeutende Orte in den Schweizer Alpen wurden zu weltbekannten Zentren der Tuberkulosetherapie.

Bei Spenglers Initialzündung für die Behandlung der Lungentuberkulose in den Schweizer Alpen spielte der erwähnte Zürcher Arzt und Publizist Conrad Meyer-Ahrens eine tragende Rolle. Dieser machte 1860 in seinem voluminösen Handbuch Die Heilquellen und Kurorte der Schweiz auf das Davoser Klima aufmerksam. Der Zürcher Arzt gab in diesem bekannten Kurführer, der 1867 ein zweites Mal aufgelegt wurde, die Schilderungen von Rüedi aus den 1840er-Jahren wieder. «Das Klima ist ungemein gesund», berichtete er. Zudem verwies er erneut auf das ökonomische Potenzial eines Kurbetriebs in der Landschaft Davos: Er wundere sich darüber, schrieb er, dass Ärzte nicht häufiger «reiche oder auch nur wohlhabende Mütter» mit ihren kränkelnden Kindern an einen solchen Ort senden würden und dass man in den Alpen keine entsprechenden Einrichtungen eröffne.30 Doch sollte sich dies bald ändern: 1859 wurde die Prättigauer Strasse fertiggestellt, auf der sich Davos mit der Postkutsche von Landquart aus in sechs Stunden erreichen liess. Vermehrt fanden nun Gäste den Weg nach Davos. Alexander Spengler entschloss sich 1861 wegen der Zunahme der Fremdenfrequenz, doch in Davos zu bleiben.31 1861/62 entstand ein zweites Gasthaus in Davos, das Hotel oder Kurhaus Strela, erbaut vom Davoser Tierarzt Erhard Michel. Im Juni 1862 veröffentlichte Michel im Bündner Tagblatt ein Inserat, um auf sein Haus aufmerksam zu machen.32 Etwas später im Jahr 1862 kam es zur folgenreichen Begegnung von Alexander Spengler mit Conrad Meyer-Ahrens, der sich auf einer Studienreise in Graubünden befand und das Inserat gesehen hatte. Unter dem Titel «Balneologische Spaziergänge» veröffentlichte Meyer-Ahrens in einer Beilage zur Fachzeitschrift Deutsche Klinik im Rahmen einer Serie einen Bericht über seine Reise nach Davos, der für die weitere Geschichte der Landschaft entscheidende Bedeutung erhielt. Nachdem er schon mehrfach über «die grosse Salubrität [Heilsamkeit]» des Davoser Klima publiziert habe, würde er der Landschaft nun zum ersten Mal selbst einen Besuch abstatten, so Meyer-Ahrens. Im Artikel gab er dann vor allem Beobachtungen von Alexander Spengler wieder. Er hoffe, so schrieb er, dass «einige Notizen, die ich der gefälligen mündlichen Mitteilung des gegenwärtigen Landschaftsarztes, Hrn. Dr. Spengler, eines sehr gebildeten Arztes, verdanke, meine ärztlichen Leser interessieren» mögen.33

Die Notizen von Meyer-Ahrens stiessen bei seinen Lesern sehr wohl auf Interesse, wie sich gleich zeigen wird. Sie nehmen in der Sichtweise meiner Untersuchung eine wichtige Stellung im Diskurs über die Heilbarkeit der Lungentuberkulose durch das Höhenklima ein. Die «Balneologischen Spaziergänge» Meyer-Ahrens’ trugen nämlich dazu bei, dass sich im Rahmen der Diskussion um das kurierende Höhenklima nun Davos als Ort der Heilung etablierte. Meyer-Ahrens spendete dem Davoser Klima in seinem Beitrag in der Deutschen Klinik viel Lob: «Das Klima ist sehr gesund, eigentlich endemische Leiden findet man hier nicht.» Die Skrofulose komme bei Einheimischen selten in einer nicht durch «Diät und Fischthran» therapierbaren Form vor.34 Vor allem aber gab Meyer-Ahrens in diesem Text die spenglersche Einschätzung in Bezug auf die Therapie der Lungenschwindsucht wieder: «[E]benso soll der Erfolg ausgezeichnet sein bei chronischer Tuberculose, wenn sie noch nicht zu weit fortgeschritten ist, und zwar ist der Erfolg im Winter ebenso gut als im Sommer, wogegen Frühjahr und Herbst für Tuberculöse sich nicht zum Curaufenthalt eignen.»35 Dass Meyer-Ahrens bei noch nicht zu weit fortgeschrittener Lungentuberkulose von ausgezeichneten Behandlungserfolgen sprach, und zwar im Winter und im Sommer, blieb in einer Zeit des therapeutischen Notstands nicht ohne Echo. Er äusserte zwar Bedenken im Fall von akuter Lungentuberkulose: Hier sei der Aufenthalt in Davos entschieden schädlich.36 Doch erschienen diese angesichts der in Aussicht gestellten hervorragenden Erfolge bei noch nicht zu weit fortgeschrittener Tuberkulose weniger gewichtig.

 

Schon in der folgenden Sommersaison strömten mehr Gäste nach Davos. Die «Balneologischen Spaziergänge» mit ihrem Versprechen auf Heilung hatten offensichtlich auf Davos aufmerksam gemacht. Das Hotel Strela in Davos Platz musste Gäste wegen Überfüllung abweisen, obwohl es gerade erst erweitert worden war.37 Im Februar 1865 trafen dann die ersten beiden Wintergäste in Davos ein, deren Ankunft in der Geschichtsschreibung über Davos als bahnbrechendes Ereignis und als Beginn von Davos als Klimakurort gilt.38 Die beiden Wintergäste hatten in der Heilanstalt von Brehmer in Görbersdorf Genesung gesucht. Durch die «Balneologischen Spaziergänge» von Meyer-Ahrens wurden sie auf die Ansichten Spenglers aufmerksam und entschlossen sich zur weiten Reise nach Graubünden.39 Diese Episode zeigt beispielhaft, wie medizinische Texte mit dem Handeln von Personen verwoben sind: Die beiden ersten Lungenkranken, die sich zur Behandlung in den bisweilen eisig kalten Davoser Winter begaben, kamen aufgrund der Lektüre eines medizinisches Textes ins Landwassertal, das bis anhin nur im Sommer einige Kurgäste beherbergt hatte. Sie stiegen im Hotel Strela ab und fingen an, Brehmers Freiluftkur zu praktizieren, zum Erstaunen der Einheimischen, die diese noch nicht kannten. Nachdem sich ihr Zustand verbessert hatte, trugen sie ihrerseits gewichtig zur Verbreitung der Theorie des heilenden alpinen Höhenklimas bei.40 Die beiden versandten Briefe über ihre Kurerfolge, sodass bald weitere Lungenkranke anreisten. Der Arzt Friedrich Unger (1833–1893) war bei Brehmer in Görbersdorf Patient und Assistent gewesen und hatte den Artikel von Meyer-Ahrens gesehen.41 Nachdem er sich in Davos gesundheitlich erholt hatte, war er dort über 20 Jahre als Kurarzt tätig. Er kannte Brehmers Behandlungsmethode aus erster Hand und führte diese auch in Davos ein. Es war also Unger, dem Davos seine Kurmethode zu verdanken hat, und weniger Spengler.42 Der zweite Neuankömmling im Winter 1865 war der Buchhändler Hugo Richter (1841–1921), der aus Königsberg stammte. Er entfaltete in Davos und Basel eine verlegerische Tätigkeit, die für den Aufschwung des Kurorts sehr bedeutsam wurde. Richter gründete die heutige Davoser Zeitung und gab während rund zweier Jahrzehnte die Davoser Blätter heraus. Diese Kurortszeitung artikulierte die Interessen des Kurorts und informierte die Gäste über Davos. Ärzte veröffentlichten in ihr populärwissenschaftliche Artikel über die Tuberkulosebehandlung.43 Die Davoser Blätter erschienen später in verschiedenen Sprachen und trugen wesentlich zur Popularisierung der Davoser Höhenkur auch im Ausland bei. So wurden ab 1908 zu Werbezwecken 1000 Exemplare der russischsprachigen Ausgabe an russische Ärzte versandt.44

Hugo Richter erwarb 1867 die Schweighauserische Verlagsbuchhandlung in Basel und veröffentlichte Broschüren und Bücher über Davos.45 Indem er Literatur über den Kurort und die Landschaft Davos unter die Leute brachte, machte er wirksam Werbung. Da sein Leiden in Basel wieder ausbrach, verkaufte er seinen Verlag und führte seine Tätigkeit in Davos fort. Seine eigenen Geschäftsinteressen korrespondierten damit direkt mit der weiteren Entwicklung des Kurorts. Tatsächlich verfügte Davos dank des geschäftstüchtigen und dem Kurort wohlgesinnten Verlegers Richter fortan über einen wichtigen Standortvorteil. Richter verlegte beispielsweise die zweite Auflage des bereits erwähnten Buches Davos in seiner Eigenschaft als klimatischer Sommer- und Winter-Kurort für Brustkranke von Guido Ramann. Dieser war in den 1860er-Jahren als Kurgast nach Davos gekommen.46 Ramann betonte in der ersten Auflage von 1870, dass die in Davos angewandten Heilprinzipien «unbestreitbar Dr. Brehmers Verdienst» seien und von den Davoser Ärzten kaum verändert worden seien.47 Doch leiste Davos gegen die Lungenschwindsucht bei Weitem mehr, als bisher gehofft werden konnte. Durch viele glückliche Erfolge würden immer mehr Ärzte Vertrauen zu Davos gewinnen, weshalb die Zahl der Patienten stetig zunehme.48 Ramann warnte dabei vor zu kurzen Kuraufenthalten: Auch bei leichten Fällen brauche es bis zur Heilung Monate, bei schweren oft Jahre. Zudem konterte der langjährige Kurgast in seinem Buch Vorwürfe von Hermann Brehmer gegen den Kurort Davos. Dieser hatte, wie im letzten Kapitel gezeigt, etwa vor Gletscherluft gewarnt, die für Lungenkranke schädlich sei. Ramann erwiderte, dass der nächste bei Davos Platz gelegene Gletscher drei bis vier Stunden entfernt sei.49