Za darmo

Das Überlebensprinzip

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21. Tag

Unsere Reise ging nach diesem Ruhetag wieder weiter. Wir verstauten alles auf unsere Räder und folgten dem Verlauf der Autobahn Richtung Süden. Derart schnell vorwärtskommend würden wir eine Menge Zeit einsparen, was dann der Nahrungsbeschaffung wieder zugutekäme.

Ab und zu fuhren wir an liegengebliebenen und verlassenen Fahrzeugen vorüber. Den meisten dürfte wohl einfach der Sprit ausgegangen sein. Auch boten die Abfahrten mit ihren Schildern eine kleine Abwechslung zur der doch sehr monotonen Strampelei auf den Rädern…

Bei einer der Ausfahrten musste ich schmunzeln - hier wurde ein bekannter Freizeit- und Vergnügungspark angezeigt. Den kannte ich sogar ziemlich gut. Mit der Schulklasse waren wir ein paar Mal schon dort gewesen. Ich machte Ben auf das Schild aufmerksam. Er schaute mich fragend an, ob wir vielleicht einen kleinen Umweg machen könnten?

„Also wenn wir mehr Zeit hätten, könnten wir einen Abstecher machen. Aber was erwartest du dort? Keine der Anlagen wird in Betrieb sein. Eine einzige Geisterstadt.“

So traten wir wieder kräftig in die Pedale und genossen die warm scheinende Sonne die nach dem langen Winter sich endlich wieder zurück gemeldet hat.

Gegen Mittag machten wir Pause an einer Raststätte. Hier gab es einen klasse Kinderspielplatz mit jeder Menge Klettergeräten - einfach super! Das war genau der richtige Ausgleich zum ewigen Sitzen und Strampeln - und noch besser wie ein Freizeitpark. Während Ben die Klettertürme von außen bezwang, gönnte ich mir ein ausgiebiges Trampolinspringen. Es war fast wie im Urlaub. Leider mussten wir aber bald wieder weiter.

Gegen Abend fanden wir einen geschützten Platz für die Nacht: ideal unter einer Brücke gelegen, dort wo die Autobahn einen größeren Fluss überquert. Direkt in Ufernähe unter einem der großen Brückenpfeiler schlugen wir unser Camp auf. Da wir ja unsere Angelhaken dabei hatten, machten wir uns gleich ans Werk und bastelten uns eine entsprechende Angelrute. Wie Tom Sawyer und Huckleberry Finn lagen wir gemütlich mit der Angel am Ufer. Sitzen war im Moment sowieso nicht sehr zu empfehlen. Um besser an die Fische zu kommen, hatte sich Ben barfuß auf einen größeren Betonbrocken, der von der Brücke abgefallen war, mitten ins Wasser gestellt.

Und tatsächlich - der Fischreichtum war unglaublich! Nur eine Viertelstunde dauerte es, bis wir beide einen dicken Fisch an der Angel hatten. Das Feuer war schnell gemacht und der Fisch noch vor dem Untergang der Sonne verzehrt. Zufrieden und satt krochen wir in unsere Schlafsäcke im Zelt. Ben schlief als erster ein. Ich werde nun auch bald Schluss machen und mich hinlegen.

22. Tag

So schön es hier auch war, wir überquerten die Brücke und folgten der Autobahn weiter in Richtung des ersehnten Südens. Es ging nun direkt am Fluss entlang, so dass wir mittags noch einmal unsere Angeln auswarfen. Es war eigentlich nicht die optimale Zeit zum Fischen, aber der Versuch hatte sich wieder gelohnt! Der Fischreichtum war wirklich gut. So schnell konnte die Natur sich also erholen wenn man sie ein paar Jahre nur in Ruhe lässt.

Nachmittags begann auf einmal die Gegend sich zu verändern. Erst kamen Städte mit großen Wohnblocks und Hochhäusern, dann Gewerbegebiete - immer wieder unterbrochen von ehemaligen landwirtschaftlichen Flächen - und schließlich Industrie. Beruhigend fand ich das nicht. Es schien zwar alles aufgegeben und verlassen zu sein weil es keinen Nutzen mehr bot, aber mir sind solche Gegenden mit ihren unendlichen Schlupfwinkeln nicht geheuer. Ein einsamer Wald wäre mir zehnmal lieber gewesen. Diese Region zu umgehen kam trotzdem nicht in Frage, dafür war der Weg zu umständlich und einfach zu weit.

Riesige Hallen, hohe Türme und Anlagen mit Leitungen, Stegen und mächtige Schienenkräne am Hafen standen unheimlich still nebeneinander. Auch die Binnenschiffe wirkten merkwürdig ruhig am Ufer vertäut - bereit zum Auslaufen, aber ohne Mannschaft… Wenn man so etwas ein paar Jahre lang nicht gesehen hatte, dann wirkte das sehr aufregend. Wir schlängelten uns auf der großen Zubringerstraße zwischen den liegen gebliebenen LKW-Kolonnen hindurch. Nein, hier gab es wirklich kein Leben mehr. Nur Beton und Asphalt.

Plötzlich entdeckten wir ein Hinweisschild, was auf ein mit Stacheldraht umzäuntes Grundstück wies. Im ersten Moment dachte ich mir nichts dabei, aber dann wurde mir auf einmal mulmig: „Kernenergie Südwest“ Das bedeutete doch, dass hier eines der Atomkraftwerke stand. Nachdenklich hielt ich kurz an und blickte den Zaun hindurch auf das gespenstisch leere Gelände.

„Hey, warte mal einen Moment, Ben!“ rief ich und pfiff auf meinen Fingern, dass er mich hörte.

Er blickte über die Schulter und machte in einer großen Schlaufe kehrt. Als er in voller Fahrt mit Vollbremsung neben mir stehen blieb schaute er mich verärgert an, als ob er fragen würde was das jetzt eigentlich sollte.

„Das hier ist eine der vielen Atomkraftanlagen in unserem Land.“ begann ich zu erklären „Wie lange, meinst du, kann dieses Kraftwerk ohne Wartung schadensfrei existieren? Ich meine, ein einfacher Riss genügt um die ganze Umgebung zu… verdammt!“

Ben schaute mich fragend an.

„Die Fische, die wir gegessen haben! Warum waren die wohl so üppig groß??“ - mir ekelte es auf einmal.

Ben zuckte nur mit den Achseln, nach dem Motto: dann waren die halt verseucht, aber umgebracht hat es uns nicht. Was regst du dich so auf…

„Du kapierst das wohl nicht ganz. Die Strahlenverseuchung verspürt man nicht unbedingt sofort. Erst viel später geht man daran zugrunde. Wahrscheinlich hat man zwar den Kern im Reaktor runtergefahren und abgeschaltet. Aber alle Anlagenteile werden irgendwann alt und leck. So läuft für ewig die Strahlung aus! Und es ist niemand da der mit der notwendigen Technik den Krempel wenigstens tief genug verbuddeln könnte…“

Ein innere Zorn und hilflose Verzweiflung überkamen mich. Wütend stieg ich vom Rad ab und trat mit voller Wucht gegen das wehrlose Schild. So hatte ich mir die Zukunft nicht vorgestellt! Wo soll man denn jetzt noch auf der Welt hin? So weit können wir gar nicht weglaufen…

Mit Tränen auf den Wangen erblickte ich auf der Wand des vordersten Gebäudes eine Handschrift, die in großen Buchstaben folgendes an die Wand geschmiert hatte: „Hier ruht der Fluch der Pharaonen - niemals betreten oder öffnen!“ Eine klare Warnung an die, die es begreifen.

Die Hände in den Maschendrahtzaun geklammert, senkte ich meinen Kopf traurig zur Erde. Ich spürte Ben’s Hand auf meiner Schulter. Er zog mich sanft und mitfühlend nach hinten.

„Ja, ich komme.“ seufzte ich leise „Wir sollten besser gehen. Wer weiß, wie verseucht die Luft hier am Ende ist.“

Wir setzten uns auf die Räder und strampelten weiter. Die Sonne hatte sich zwar schon geneigt, aber wir wollten nicht so nahe an diesem Ort kampieren. So war es bald fast schon dunkel als wir hinter einem Hügel eine geschützte Stelle für das Nachtlager fanden. Ein wenig umständlich war der Zeltaufbau ohne genügend Licht schon - trotz der täglichen Übung. Als es endlich geschafft war, streckten wir uns hundemüde auf unseren Matten aus und kuschelten uns in die Schlafsäcke.

23. Tag

Der Himmel war schon den ganzen Morgen wolkenverhangen, auch die Luft war wieder kälter geworden und es sah so aus, als ob der Winter noch mal eine Runde drehen wollte. Das drückte natürlich auf unsere Laune. Aber egal, jeder Schritt nach vorne brachte uns dem Süden näher. Rein mechanisch erfüllte jeder seine Aufgabe, packte die Sachen zusammen, verstaute und verzurrte sie auf den Fahrrädern.

Wir radelten nun allmählich wieder aus dem Industriegebiet hinaus. Die Gegend wurde wieder ländlich und - irgendwie schöner. Hier fühlte ich mich schon viel wohler, auch wenn alles zugewachsen und verunkrautet war. Ein riesiges Buschland das nur durch die Straßen zerschnitten wurde.

Unsere Fahrt ging gut voran da wir einen kräftigen Rückenwind hatten. Immer wieder kamen kleine Windböen und gaben uns von hinten den richtigen Anschub. Als unsere Straße eine kleine Biegung machte, blickte ich zufällig über die Schulter nach hinten. Ein düsterer Himmel zog sich hinter uns zusammen. Sein Rand war ein riesiges anthrazitgraues Wolkenband, welches uns aus nordwestlicher Richtung seit Stunden verfolgt hatte und nun einholen würde. Von weitem erkannten wir die typischen Regenschleier an der Wolkenunterseite. Immer näher kam diese Wand aus feinen Tropfen.

Wir waren gezwungen abzusteigen, die Räder zu verstecken und einen Unterstand zu suchen. Notfalls wäre auch das Zelt gegangen, aber es nass einzupacken wäre auch nicht gut gewesen. Lange fanden wir keinen passenden Platz, bis Ben hinter einer Baumgruppe einen Schuppen oder Stall herausragen sah. Ob das Gebäude dort bewohnt war? Einfach hineingehen wäre zu riskant - nicht das wir bei jemandem plötzlich mitten im „Wohnzimmer“ stünden. So völlig ungebeten könnte der Besuch mit einer kleinen Stich- oder Schnittwunde an einer entscheidenden Stelle im Körper rasch enden…

Da war nass werden die bessere Alternative. So warteten wir ungeduldig im Schutz eines Gestrüpps und wurden durch den einsetzenden Regen allmählich feucht bis auf die Haut. Die Fenster des Gebäudes waren dunkel verschmiert, so dass man nicht hineinschauen konnte. Vorsicht war geboten! Eigentlich sah es hier sehr unbewohnt aus, aber das konnte auch beabsichtigt sein.

Es wurde uns eiskalt. Der Regen hatte zu den sowieso fehlenden Sonnenstrahlen die Temperatur nochmals abgesenkt. Ich musste mir das Niesen echt verkneifen. Das würde hoffentlich keine Erkältung werden…

 

„So, genug.“ zischelte ich Ben schließlich zu „Wir gehen jetzt dichter ran und zwar nebeneinander, Seite an Seite. Du schaust nach rechts, ich überwache die linke Hälfte vom Haus.“ ordnete ich an.

Ben nickte kurz und los ging es. Als kleine Kampfeinheit gingen wir in die Richtung der Seitentür. Von drinnen war kein Mucks zu hören. Wir trennten uns und stellten uns jeweils links und rechts neben der Tür auf. Durch Handzeichen erklärte ich Ben mein Vorhaben.

An die Wand gepresst schubste ich dann mit meinem Gewehrlauf ruckartig die Tür auf. Nichts passierte - ich täuschte eine Bewegung meines Oberkörpers in der Öffnung an und schnellte gleichzeitig wieder zurück. Wieder kam keine Reaktion. Ben nahm einen Stock und warf ihn hinein. Man hörte ein Klappern. Nur kurz, als wenn er etwas mit dem Stock getroffen und umgefallen wäre. So warf ich endlich einen Blick an der Kante des Türrahmens vorbei in das Innere.

Ich musste laut lachen! So was blödes aber auch. Ben schaute irritiert nach mir. Auch er blickte nun in das Innere des Hauses - es fehlte das komplette Flachdach! Hier wohnte garantiert keiner mehr. Wir hatten allen Ernstes eine abgebrannte Bruchbude observiert und eingenommen.

Aber wo sollten wir nun einen Unterschlupf finden?! Wenn wir unser Zelt wenigstens halbwegs regengeschützt aufbauen könnten, so dass nicht alles gleich nass würde. Ben winkte mir von der gegenüberliegenden Ecke des Hauses zu, dass ich zu ihm kommen sollte. Ich war neugierig ob er was entdeckt hatte und stieg über die verkohlten Balken und den Schutt rüber zu ihm.

„Was gibt es denn so aufregendes, Ben?“ fragte ich.

Er deutete auf eine halb verschüttete Treppe nach unten. Es war ein seitlicher Kellerzugang! Das war unsere Rettung. Dort konnten wir endlich Unterschlupf finden und die Nacht verbringen. Wir räumten gemeinsam die Trümmer, die uns den Zugang versperrten, weg und stiegen vorsichtig hinab in das dunkle Loch. Was auch immer uns hier erwarten würde…

Es roch ein wenig muffig und nach einer kurzen Weile hatten sich die Augen an das Halbdunkel gewöhnt. Alles war recht duster und dreckig. Aber nur wenige Tropfen fanden ihren Weg durch die Decke. So war es relativ trocken in diesem Keller und ein idealer Ort um das Zelt aufzubauen.

An Einrichtung erkannten wir ein paar Schränke, verschiedene Behälter und Kanister mit irgendeiner Flüssigkeit darin und - eine seltsame Apparatur mit Schläuchen. Dazu noch ein paar kleine und größere Gefäßen sowie einer Feuerstelle zum Beheizen. Alles war rußbedeckt. Das Feuer schien wohl von hier unten ausgebrochen zu sein. Da der Keller aber massiv war, hatte es ihm nicht viel geschadet - im Gegensatz zum Rest des Hauses.

Irgendwie faszinierte mich die Anlage total - was um alles in der Welt sollte das sein? Und wozu? Was wurde hier hergestellt? Als ich eines der Gefäße öffnete, kam mit ein stechender Geruch entgehend. Es biss richtig in Augen und Nase.

„Igitt - das ist ja…“ ich musste mich räuspern und ausspucken, so eklig scharf war es „… purer Alkohol!“

Somit war das Gerät vor uns nichts anderes als eine Art Destillerieanlage. Ob das Zeug was in den Gefäßen schwamm allen Ernstes zum Trinken verwendet werden sollte? Man hätte es eher zum Fensterreinigen nehmen können…

So richteten wir unser Nachtlager für dieses Mal in einer heimlichen Schnapsbrennerei ein, zogen die nassen Sachen aus, hängten sie zwischen den Regalen von Flaschen zum Trocknen auf und kuschelten uns endlich mit müden und kalten Gliedern in die Schlafsäcke hinein.

24. Tag

Da wir nicht wie sonst von der Sonne geweckt wurden, begann unser Tag ein wenig verspätet. Ich kroch als Erster aus unserem Kellerversteck und schaute nach oben in den Himmel. Ein nebliger, dunstiger weißgrauer Wolkenschleier verdeckte zwar die Sicht zur Sonne. Wenn dieser aber im Laufe des Vormittags sich auflöste, konnte es heute noch richtig warm werden, schätzte ich die Situation ein.

Wir packten unsere Sachen wie gewohnt ein - dank der Routine waren wir einschließlich Zeltabbau in nur einer viertel Stunde fertig. Nur die Kleider waren über Nacht nicht richtig trocken geworden. Auch die Schuhe waren noch total feucht.

Zum Glück hatten wir je ein zweites paar Hosen im Gepäck. Die Pullover ließen wir aber besser aus, ebenso die Schuhe. Wir banden die Sachen einfach an unsere Rucksäcke und ließen sie zum Trocknen seitlich runter baumeln. Nach unserem Frühstück ging es dann barfuß und mit freien Oberkörpern raus in die frische Morgenluft. Ben zitterte am ganzen Körper und auch ich bekam eine Gänsehaut. Trotzdem war es warm genug, so dass unsere Körper nicht froren.

Wir hatten eine solche Situation mal in einen Herbst ausprobiert: bis wie viel Grad konnte man sich ohne Kleidung draußen dauerhaft aufhalten? Nun, meine persönliche „Schmerzgrenze“ lag bei ungefähr 10°C. Ben meinte sogar es auch noch kälter aushalten zu können. Das hatten wir dann aber nicht mehr genauer getestet.

Einzelne Nebelschwaden lagen über den feuchten Wiesen und zwischen den Bäumen. Es sah ein wenig wie in einer Moorlandschaft aus, fand ich. Wir stapften wie die Störche durch das hohe, nasse Gras des vergangenen Sommers den Pfad entlang zurück zu der Stelle, an der wir gestern unsere Fahrräder versteckt hatten. Wir holten sie aus den Büschen hervor, trockneten sie notdürftig ab und verstauten unsere Sachen so, dass der Fahrtwind ihnen beim Trocknen helfen würde.

Nur allmählich kamen wir in Fahrt, traten mühsam ohne Schuhe an den Füßen in die Pedale. Was würden wir jetzt für ein bequemes, beheiztes und trockenes Auto geben…

„Stopp, halt an - warte Ben!“ rief ich nach vorne, wo er verbissen gegen die Kälte des Fahrtwinds ankämpfte „Das macht keinen Sinn so. Wir werden nur eine tüchtige Erkältung bekommen und dann haben wir wieder ein paar Tage verloren.“

Ben blickte mich bitter enttäuscht an.

„Hey Kumpel, heute ist eben einer der Tage, die ich als Verzögerung mit eingerechnet habe.“

Das schien nicht sonderlich seine Stimmung aufzuhellen. So legte meinen Arm kameradschaftlich um seine Schulter: „Wir machen jetzt keine Pause - wir schieben die Räder einfach nur zu Fuß weiter. Solange, bis es heute wärmer wird und dann geht’s wieder ab!“

Ben blickte trotzig vor sich auf den Boden, nickte aber nur ein wenig zur Bestätigung.

„Komm, schau’ mir in die Augen.“ bat ich ihn lächelnd.

Er guckte mich schräg aus den Augenwinkeln an und grinste schließlich unter den nach vorne gesenkten Haaren hervor - wollte heißen: „Alles OK.“

So marschierten wir nebeneinander die sechsspurige Autobahn entlang. Meter für Meter. Wie erwartet hatte sich der Nebel gelichtet und nach oben aufgelöst. Ein hellblauer Himmel schimmerte allmählich hindurch - die Sonne zeigte sich wieder! Und mit ihr die ersehnte Wärme. Der Asphalt fing an zu dampfen. Es wurde nun wirklich Frühling. Schließlich setzten wir uns wieder auf die Räder und legten los.

Immer wieder tauchten Unmengen von liegen gebliebene Fahrzeuge auf. Sie waren einfach mitten auf der Fahrbahn abgestellt und verlassen. Manche hatten die Besitzer sauber verschlossen, als wenn sie einmal wiederkommen würden um es mit einem Kanister Sprit abzuholen. Andere hatten einfach alles offen gelassen. Wieder andere - und das sind zum Glück nur ganz wenige - hatten sich voll in den Graben gefahren, überschlagen, waren aufgeprallt oder nur einfach auf dem Dach gelandet. Kurzschluss, durchgeknallt, völlig überfordert…

Als die Sonne wieder im Zenit stand, suchten wir uns einen hübschen Platz auf einen kleinen Rastplatz. Wir setzten uns auf die Betonbänke und breiteten die restlichen Lebensmittel aus.

„Wir müssen heute Nachmittag noch neues Essen in einer der Ortschaften hier in der Gegend besorgen. Vielleicht finden wir auch nochmal einen Bauernhof.“ erklärte ich nach einem Blick in unseren Proviantsack.

Doch Ben war schon total vertieft ins Essen und hörte nur mit halbem Ohr zu. Während wir uns je eine kalte Dose Ravioli reinlöffelten, schweifte mein Blick gelangweilt über den Parkplatz. Eigentlich suchte ich nach nichts besonderem, doch dann blieben meine Augen unwillkürlich an einem Fahrzeug, das da im Schatten stand, hängen. Und dann kamen die Erinnerung hoch…

„Ich glaub’s ja nicht! Ben, schau’ mal da drüben das Auto. Was sag ich - Auto! Der absolute Hammer der Automobilgeschichte.“ rief ich begeistert aus. „Von denen gibt es nur ganz wenige Modelle, alles Einzelanfertigungen für die Käufer.“

Ein wenig interessiert schaute Ben während er weiter kaute in die Richtung wo dieses angeblich aufregende Fahrzeug stehen sollte. Essen ist für ihn eben wichtiger als alles andere. Ich hingegen ging sofort hinüber um mir die Maschine mal näher anzuschauen. Sie hatte diesen typischen fünfschichtigen Weißlack mit dem leicht schimmernden Neoneffekt, was aber völlig unaufdringlich wirkte. Alleine der Lack kostete schon ein Vermögen. Die Sitze und Innenverkleidungen waren mit hellbraunem Leder ausgekleidet. Aber erst das Cockpit! Absolut keine Schalter oder Knöpfe - eine rein ergonomisch geformte Touch-Oberfläche aus Glas - der Wahnsinn! Die Funktionen die hier aufrufbar waren, ließen keine Wünsche offen. Dazu eine gut abgestimmte Motorisierung mit vierfach synchronisierter Automatikschaltung…

Mich als gelernter Mechatroniker begeisterte das Fahrzeug total. Nach einer Weile kam Ben zu mir herüber. Ich versuchte gerade die Motorhaube zu öffnen, als er fragend meine Dose mit Ravioli in der Hand hielt.

„Wage dich bloß nicht mein Mittagessen auch noch zu verputzen! Ich werde es nachher noch zu Ende essen. Du bist echt gefräßig…“ entgegnete ich und fügte leicht schmunzelnd hinzu: „…was wohl an deiner Wachstumsphase liegt.“

Ben zeigte auf das Auto und zuckte mit den Schultern. Er fragte sich bestimmt was die ganze Aufregung hier sollte. Die Kiste fuhr doch eh nicht. Reine Zeitverschwendung also.

„Schau’ mal das hier!“ ich hielt ihm einen Gegenstand, der ungefähr die Form einer Scheckkarte hatte, entgegen.

„Weist du was das ist?“ ich grinste breit „Das ist sozusagen der Zündschlüssel zu diesem Wagen. Die Karte lag hier direkt unter dem Sitz. Funktioniert zwar elektronisch, aber wenn ich noch Restspannung an der Batterie bekomme, kann ich die Technik hier starten…“

Ben hatte sich auf einen Bordstein unter den nächsten Baum gesetzt und schaute mir nun etwas mehr interessiert zu während ich es endlich geschafft hatte die Motorhaube auf zu bekommen. Ich inspizierte nun das Innere der Maschine. Diese neuartige effektive Antriebstechnik sollte damals der Schlüssel zur Energiewende werden. Offensichtlich war noch etwas Spannung vorhanden - nur wenn ich jetzt den Wagen ganz normal starten würde, würden zu viele elektronische Bausteine aktiviert und die Batterie wäre im Nu leergesogen. So musste ich zusehen, dass ich diese erstmal abkopple, um nur das Nötigste zu versorgen. Es dauerte bis in den Nachmittag hinein…

„Ben, schau mal bei den anderen Fahrzeugen hier in der Nähe nach, ob die noch einen Rest Treibstoff haben.“ rief ich unter dem Fahrzeug liegend zu ihm rüber.

Langsam stand Ben auf und ging zum ersten PKW. Den verschlossenen Tankdeckel brach er mit einer Stange auf und roch kurz hinein. Nichts. Dann ging er von Fahrzeug zu Fahrzeug. Jedoch hatte keines von ihnen irgendeinen Rest Sprit im Tank. Mit Schulterzucken kam er zu mir zurück.

„Wirklich nichts?!“ fragte ich noch mal nach. „Dann haben wir ein ziemliches Problem.“

Ich setzte mich neben den Kotflügel und die Wagentür gelehnt hin und dachte nach. Woher sollten wir nur zwei oder drei lumpige Liter Sprit herbekommen? Es wäre fast egal was, Hauptsache leicht brennbar. Die Motorelektronik würde das schon regulieren können. Es könnte sogar billiger Schnaps sein…

„Aber genau - DAS ist es!!“ rief ich „Ben, kannst du dich an unseren letzten Unterschlupf in dem abgebrannten Haus erinnern? Im Keller war eine Destillieranlage für Alkohol gewesen.“

Ben nickte bestätigend. Er begriff sofort was ich sagen wollte, lief zu seinem Fahrrad und schwang sich auf seinen Sattel um loszufahren.

„Bring so viel mit, wie du findest! Ich mache das Auto schon mal startklar.“ rief ich ihm hinterher.

Nach nur einer guten Stunde war er wieder zurück. Auf dem Gepäckträger einen Blechkanister voll mit Alkohol festgebunden.

„Das ist völlig ausreichend - gut gemacht!“ lobte ich Ben und goss vorsichtig den kostbaren Inhalt in den Tankstutzen.

 

„So - alle einsteigen, es geht los!“

Aufgeregt nahmen Ben und ich Platz in den weichen lederbezogenen Sesseln. Diese passten sich sofort unsere Körperform an und gingen leicht zurückfedernd in eine bequeme Kippstellung. Vor uns das gläserne Tableau, noch völlig dunkel und funktionslos.

Ich aktivierte die Zündkarte und startete die Maschine. Ein grünes Licht leuchtete kurz auf, dann erschien der Bildschirm mit dem Hinweis: „Motor startet.“ Den dazugehörigen Stimmen-Generator und die Soundanlage hatte ich vorsorglich abgeklemmt. Ein kurzes Summen war zu hören - der Motor ging nach so vielen Jahren tatsächlich an! Riesige Freude überkam uns. Es war wahnsinnig aufregend!

Ben schnappte sich unser Gepäck und warf es hinter die Frontsitze. Ich ließ den Motor im Leerlauf erstmal warmlaufen. Dann fing ich vorsichtig an die Sicherungen wieder einzustecken mit denen ich die zum Starten unnötigen Funktionen übergangen hatte… Als das Display im Cockpit mit allen Informationen aktiv war, setzte ich mich zu Ben wieder ins Fahrzeug. Es war irre: eine Musiksammlung von über 8.000 Titeln! Wir ließen das Verdeck selbstständig öffnen. Dann setzte ich schließlich mit dem Wagen aus der Parklücke zurück.

Sofort ertönt die Stimme der Navigation: „Bitte vergessen sie nicht sich anzuschnallen! Beachten Sie die gesetzlichen Sicherheitsanweisungen.“

Ich lachte - welches Gesetz? Trotzdem schnallten wir uns an, aber nur weil unser elektronischer Freund so hartnäckig darauf bestand. Den Hinweis dringend zu tanken ignorierten wir. Mit einer leichten Drehung nach links schlug ich die Fronträder ein und gab sanft Gas. Ebenso sanft setzte sich unser Gefährt tatsächlich in Bewegung - mit einem ruhigen und turbinenartigen Summen von gut 400 PS purer Kraft.

Wir verließen den Parkplatz und fuhren auf die Autobahn auf. Kein Verkehr, also zog ich rüber in die Mitte der Straße und beschleunigte: „Mal sehen, was für einen Anzug die Maschine bietet. Halt’ dich fest, Ben.“

Ruckartig trat ich das Gaspedal durch und sofort wurden wir sanft in die Sitze nach hinten gedrückt. Dank der elektronischen Fahrstabilitätskontrolle regulierte der Motor meinen Wunsch nach einem Katapultstart. Ich nahm den Fuß etwas vom Pedal und blickte kurz zur Seite um nach Ben zu sehen. Er saß kreideblass und ein wenig verkrampft in seinem Sitz. Hoppla, das war wohl etwas zu krass gewesen.

„Ähm, wenn du möchtest kannst du ja einen Musiktitel raussuchen.“ schlug ich ihm vor, um ihn etwas abzulenken. Das würde hoffentlich die sichtliche Angst nehmen. Es war wohl für Ben schon zu lange her, dass er sich noch an das Autofahrens erinnern konnte. Mir machte es jedenfalls richtig Spaß nach so langer Zeit dieses Gefühl genießen zu können! Der Wind rauschte über unsere Köpfe hinweg. Ich hielt eine Hand in die Höhe und spürte den Luftzug.

Plötzlich zuckte ich zusammen - denn aus sämtlichen Lautsprechern vorne und hinten ertönte laute Musik. Ein völlig ungewohntes Geräusch. Früher dachte ich, ich könnte ohne laute Musik nicht glücklich sein. Aber das hier war wohl zu unvorbereitet gewesen!

Ich erinnerte mich an das Lied, das Ben zufällig ausgesucht hatte. Es war damals wenige Monate vor dem Ende auf Platz eins gelandet. Ein absoluter Party-Pusher: zuerst ganz melodisch und dann mit einem Bass, der einen zum Tanzen bringt! Unbewusst begann ich zu beschleunigen. Ben grinste und nickt mit dem Oberkörper im Takt zur Musik.

„Jetzt testen wir mal, wie schnell die Maschine wirklich ab geht. Immerhin steht 320 km/h auf dem Tacho!“

Die Musik trieb uns vorwärts, hinter uns wirbelten die Blätter des letzten Herbstes als Spirale durch die Luft. Der Motor schaltete schließlich bei 180 km/h den Kompressor hinzu und drehte nun richtig auf - ganz ohne Probleme. Die Straßenlage war perfekt! Schon waren wir bei 225 km/h, was für unsere Augen schon beängstigend wirkte. Ich konzentrierte mich auf den Horizont. Es waren hier und da doch einige Äste auf der Fahrbahn, die ich möglichst sanft umfuhr. Stärkeres Lenken war jetzt nicht mehr möglich…

Gespannt beobachteten wir immer wieder die Tachonadel. Unglaubliche 250 km/h wurden überschritten! Als Ben versuchte seine Finger über den Rand der Windschutzscheibe zu halten, wurden sie sofort nach hinten gedrückt.

Als wir die 272 km/h erreichten, leuchtet nur kurz ein kleiner roter Punkt auf: „Tank leer“

Der Musiktitel ging fast zeitgleich zu Ende und ich schaltete die Soundanlage ganz aus. Eine merkwürdige Stille entstand. Der Motor fuhr sich automatisch runter, vom Gegenwind wurden wir allmählich ausgebremst, doch der Wagen steuerte präzise weiter, denn die Elektronik war noch immer aktiv und ließ das Fahrzeug kontrolliert ausrollen…

Es dauerte noch gut drei Kilometer bis wir allmählich und fast unbemerkt zum Stehen kamen. Bei den letzten Metern spürten wir jede Unebenheit, jeden Ast oder Schlagloch. Dann kam der finale Stopp.

Wir saßen bestimmt noch eine viertel Stunde unbewegt und voll von Eindrücken in unseren bequemen Sitzen.

„Komm“ sagte ich schließlich, „wir gehen weiter.“

Da wir unsere Fahrräder zurück gelassen hatten, mussten wir unser Gepäck nun wieder selber tragen. Es war schon spät am Tag und wir suchten uns abseits der Autobahn einen Zeltplatz.

Ich stelle gerade fest, dass ich heute eine Menge Seiten beschrieben habe. Dieses Erlebnis möchte ich aber möglichst genau festhalten, denn es wird wohl nie wieder kommen. Es bleibt nur die Erinnerung, dass es einfach cool gewesen war.