Za darmo

Das Überlebensprinzip

Tekst
0
Recenzje
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

4. Tag

Unsere Nacht wurde jäh durch einen Höllenlärm unterbrochen! Von unten aus dem Dorf drang ein fürchterliches Geschrei herauf und laute Schüsse schallten durch das Tal.

Aus dem Schlaf aufgeschreckt zog ich mir meine kalten und gefrorenen Schuhe an um aus unserem Unterschlupf in der Höhle raus ins Freie gehen zu können. Ben sagte ich noch, dass er besser dableiben solle. Der Lärm war zwar weit genug weg aber er klang überhaupt nicht gut. Er reichte mir noch das Fernglas.

Im Schutz des Waldes ging ich bis an den Heckenrand und blickte hinunter ins Tal auf unseren Ort. Erst sah ich nichts. Dann hörte ich wieder ein Rufen und laute Befehle - als ich plötzlich zwei der Kerle auf der Straße mit Messern kämpfen sah. Leider konnte ich nicht deutlich genug verstehen, was sie sich zuriefen oder was der Grund für die Auseinandersetzung war. Mit dem Fernglas beobachtete ich ihren heftigen Kampf.

Erst jetzt entdeckte ich noch mehr auf der Straße verstreut liegende Körper - die brachten sich gerade gegenseitig um! Wahrscheinlich waren die so besoffen, dass sie voll durchgedreht waren…

Plötzlich ergriff einer der Kämpfer eine herumliegende Waffe. Er schrie etwas von „aufhören“. Der andere warf im selben Moment sein Messer nach ihm und traf. Ein Schuss löste sich und verwundet sanken beide zu Boden. Danach herrschte Totenstille.

Die ganze restliche Nacht hatte ich die Situation noch weiter beobachtet. Aber es sah nicht gut aus. Niemand regte sich. Nun zog der Morgen langsam auf. Ein gelblich fahler Streifen erhob sich über dem Nebelgrau des Waldes.

Ich ging zu Ben zurück und erzählte ihm kurz was vorgefallen war während er mir mit ernstem Gesicht und bedeutungsvoll nickend zuhörte. Dann legte ich mich erstmal hin und schlief ziemlich unruhig und halb erfroren ein. Den Schlaf brauchte ich jetzt dringend.

-

Als ich aufwachte saß Ben schon voller Erwartung neben mir. Der gute Kerl hatte mich noch etwas länger schlafen lassen. Nach einem tiefgefrorenen Frühstück, welches wir durch stetiges lutschen und knabbern zu uns nahmen, machten wir uns auf den Weg.

Es gibt hier einen prima Ausguck: das Flachdach eines Wasserhäuschens. Es ist rundum mit Tannen und Gebüsch zugewachsen, liegt aber genau oberhalb des Ortes direkt am Hang und hat den perfekten Überblick auf alle Straßen und Gärten. Ich ließ von da aus meinen Blick mit dem Fernglas hin und her schweifen. Auch Ben durfte mal durchschauen. Zusammen kamen wir auf nur fünf leblose Körper im Außenbereich. Wo aber waren nur die anderen?

Gegen Mittag ging Ben kurz zu unserem Unterschlupf um uns etwas zum Essen zu holen. Den ganzen Vormittag hatte sich an der Szenerie unten nichts verändert. Waren die restlichen der Gruppe etwa abgehauen? Das konnte aber nicht sein, da sie die auf dem Boden liegenden Waffen bestimmt nicht einfach so zurückgelassen hätten. Es nutzte nichts - wir warteten noch die nächste Nacht ab. Ben war davon überhaupt nicht begeistert. Unser Proviant hier draußen war längst nicht so gut wie im Haus. Tiefgefrorene Erbsensuppe in Stücke schlagen und wie ein Eis schlecken ist nicht jedermanns Geschmack. Aber meine Entscheidung stand fest. Abwarten war schließlich eine der Gründe warum ich noch lebe.

-

Es war nun wieder Abend geworden. Keine Anzeichen von Leben oder Veränderung. Kein Licht, kein Geräusch.

Wir entschlossen uns morgen früh zurück ins Dorf zu gehen und nachzuschauen. Selbst wenn jemand nicht tot sondern schwer verletzt wäre, so dürfte er die lange Zeit in der Kälte nicht überlebt haben. Wie ich mich bei diesen Gedanken fühle, möchte ich jetzt lieber nicht aufschreiben…

5. Tag

Wieder hatten wir eine eiskalte Nacht hier draußen in unserem Unterschlupf im Steinbruch verbracht. Mürrisch und ziemlich schlecht gelaunt verließen Ben und ich unser Versteck. Unsere Notvorräte waren seit gestern komplett aufgebraucht, so dass wir kein Frühstück hatten und in den Ort zurückgehen mussten.

Nachdem wir uns von unserem Aussichtspunkt aus vergewissert hatten, dass sich seit gestern nichts verändert hat, gingen wir im Schutz der Hecken langsam auf den Ort zu. Unsere Fußspuren dabei immer wieder verwischend damit man unsere Herkunft nicht nachvollziehen konnte. Wir schlichen uns durch den Schnee zwischen den ehemaligen Gärten hindurch zu der Stelle, wo die ersten Körper lagen.

Während Ben auf die Straße hinausging, blieb ich mit meinem Gewehr abseits am Rand zurück und passte auf das Umfeld auf… Nach kurzer Untersuchung des Ersten deutete Ben mit dem Daumen nach unten - kaum merkbar und ohne Andeutung einer Richtung, so dass er mich als Empfänge dieser Botschaft nicht verraten würde. Auch bei den nächsten drei zeigte er mir dieselbe Diagnose: kein Leben mehr.

Ich kam langsam aus meinem Versteck hervor und ging nun auch zum ihm rüber auf die Straße vorm Haus. Die Gesichter der Kerle waren sehr fein und schmal, fast knochig schlank. Als ich bei Ben ankam sagte ich, dass er die Waffe, die auf dem Boden lag, zusammen mit der Munition nehmen sollte. Er schaute mich mit großen Augen an, als wollte er mich fragen ob das wirklich sein müsste? Ich nickte mit entschlossenem Blick.

Komisch - Ben ist der Einzige den ich kenne der zu seinem Schutz keine Schusswaffe nehmen möchte. Vielleicht ein Trauma? Wer weiß…

Ich fragte mich, wo der Rest der Bande geblieben war? Vielleicht im Haus, dort wo der Streit ausbrach? Bevor wir zum Eingang hineingingen spähten wir durch die Fensterscheiben nach innen. Ja, tatsächlich - da lagen sie!

Ich öffnete vorsichtig die Tür und ging als erster hinein. Das Wohnzimmer sah furchtbar aus! Überall Müll, leere Flaschen und Zigarettenkippen. Das letzte Mal wo ich solch ein Chaos gesehen hatte, war auf dem 18. Geburtstag meines Cousins. Als wir morgens aufwachten sah es so ähnlich aus…

Als ich mich von dem leblosen Zustand des Mädchens und der beiden Jungs in ihrer Nähe überzeugt hatte, merkte ich im Augenwinkel wie plötzlich hinter mir der dritte Kerl seinen Kopf leicht zur Seite bewegte und mit ausgestrecktem Arm zu mir herüber schaute!!

„Schieß!“ rief ich Ben zu. Sofort zielte er mit seiner Waffe auf ihn, drückte aber nicht ab! So ein Mist - ich drehte mich ruckartig selbst um, hob mein Gewehr zum Ziel an - da stöhnte der Kerl ein gequältes: „Ja mach!“ zu mir herüber.

Das machte mich so perplex, dass ich erstmal nur da stand - jedoch ihn keine Sekunde aus den Augen lassend! Am Ende zündete er noch eine Handgranate oder so etwas und reißt uns alle in den Tod. Ich wusste in diesem Moment auch nicht warum ich nicht geschossen und uns diesem Risiko ausgesetzt hatte.

Während ich ihn so betrachtete, bemerkte ich immer deutlicher den sehr schlechten Zustand von ihm. Er schien sehr viel Blut verloren zu haben so dass er viel zu schwach war überhaupt noch etwas zu machen. Außerdem musste er total ausgehungert sein wenn er sich seit vorgestern nicht mehr bewegt und hier nur rumgelegen hatte. Kein Wunder, dass er lieber sterben wollte - es gibt ja keine Ärzte mehr und erste Hilfe brachte hier leider auch nicht mehr viel…

„Wenn ihr mich nicht umbringt, dann gebt mir wenigstens eine Waffe.“ krächzte seine Stimme.

„Kommt gar nicht in Frage.“ antwortete ich.

„Bitte - wenigstens ein Messer…“

„Nein!“

Erschöpft blickte er mit leeren Augen an die Decke. Er hatte schulterlanges, blondes Haar. Dazu einen Dreitagebart und grüne Augen. Ich war irgendwie müde und hatte einfach keine Lust jemanden in einer derart hilflosen Situation zu töten. Selbst wenn es ihn von seinen Leiden befreit hätte. Ich kann den Tod nicht mehr sehen!

„Wie heißt du eigentlich?“ fragte ich ihn, einfach um ein Gespräch anzufangen und auf andere Gedanken zu kommen.

„Viktor.“ sagte er ohne seinen Kopf umzuwenden.

„Was ist den passiert?“ wollte ich wissen und setzte mich dabei mit Ben etwas entspannter ihm gegenüber auf den Boden. Allerdings noch immer mit der Waffe auf ihn gerichtet.

Er erzählte uns seine ganze Geschichte: wir er mit seinen Kumpels damals sich zu einer Bande zusammengeschlossen hatte. Als die Gewalt überhandnahm, wollte er gerne aussteigen. Aber das ließen die anderen nicht zu - nur die Gruppe biete ihm Schutz… Der Schnee hatte sie gezwungen irgendwo Quartier zu beziehen. Dieses Haus mit seinen vielen Vorräten war ein echter Glückstreffer gewesen. (Kann ich mir denken!)

Dann feierten sie eine Party. Mit scharfen Getränken natürlich. Bis plötzlich ihr Bandenchef einen anderen anmachte, er solle seine Freundin nicht anfassen! Danach geriet alles außer Kontrolle…

Seine Lippen waren noch blasser geworden und er fing fürchterlich an zu husten.

„Viktor, magst du etwas trinken?“

„Ja gerne. Es tut mir nur so weh beim Schlucken…“

Ihm lief eine Träne über die Wange.

„Es hat mir schon lange keiner mehr einen Gefallen getan. Ich musste mir immer alles selbst nehmen.“ Viktor schaute zu uns herüber.

Ben brachte ihm ein Glas eiskaltes Wasser. Ich nahm es und ging zu ihm rüber. In der einen Hand das Glas, in der anderen mein Messer. Ben behielt ihn dabei fest im Auge und ließ den Lauf seiner Waffe stets auf ihn gerichtet.

Als Viktor große Augen machte und verängstigt auf mein Messer schaute, beruhigte ich ihn: „Keine Sorge, ich tue dir schon nichts. Es ist nur zu meiner Sicherheit.“

Er ließ es geschehen. Vorsichtig setzte ich das Glas an seine Lippen und er trank gierig aber mit Schmerzen in der Brust.

„Danke dir.“ stotterte Viktor und versuchte zu lächeln. „Ich wollte nie so werden und auch nicht so enden. Wenn meine Eltern jetzt hier wären würde ich mich schämen…“

 

„Niemand wollte so werden.“

„Ich hätte einfach abhauen sollen - aber wohin?“

„Ist schon gut - niemand kann seine Vergangenheit im Nachhinein ändern.“ versuchte ich ihn zu beruhigen.

„So viele, die ich auf dem Gewissen habe und jetzt bin ich selber dran!“

Ich versuchte ihn auf andere Gedanken zu bringen:

„Ist dir nicht kalt? Soll ich dir eine Decke holen?“

Ich stand auf ohne seine Antwort abzuwarten.

„Bitte geh nicht fort!“ rief Viktor mir nach während ich im Nebenraum verschwand und eine Decke besorgte.

Ich setzte mich neben ihn, deckte ihn zu und nahm seine rechte Hand. Angst hatte ich keine mehr. Ben beobachtete uns von der anderen Seite des Zimmers. Viktor erzählte mir noch so einiges aus seinem Leben. Es war so schön mal mit einem Menschen reden zu können. Doch auf einmal schwieg er.

„Ich werde nicht wieder gesund, oder? Was wird sein, wenn ich tot bin?“

„Keine Ahnung.“ gab ich ehrlich zu.

„Muss ich dann Rechenschaft ablegen? Ich, ich… es tut mir leid. Es tut mir ALLES so leid!“ er weinte.

Ich wischte seine Tränen von den Wangen ab. Hier vor mir lag ein kleiner, kaputter Junge der sich einfach nur wünschte angenommen zu werden.

„Viktor, du bist ein feiner Kerl. Glaubst du mir das?“

„Ich weiß nicht, wie denn - meinst du das wirklich ernst?“

„Ja, weil du zu den wenigen gehörst denen es von Herzen leid tut…“

Ich war selbst darüber verblüfft, dass es überhaupt noch möglich sein konnte jemanden nicht als potentielle Lebensbedrohung sondern als Mitmenschen erleben zu können Viktor war nun viel gelassener. Er hatte sein Leben noch innerlich ordnen können. So starb er dann wenig später.

6. Tag

Nachdem wir unser Haus aufgeräumt und die Toten etwas weiter weg in einem Garten versteckt hatten, konnten wir diese Nacht wieder in unserem „Zuhause“ verbringen. Leider war von den Lebensmitteln die wir für die Reise zusammengesucht hatten nichts mehr übrig. Zum Glück aber waren unsere Kleidungsstücke noch unversehrt.

So machten wir noch mal eine Runde durch alle Häuser. Aber das Ergebnis war eher spärlich. „Dann müssen wir halt gleich beim nächsten Ort nachschauen was es dort noch gibt.“ entschied ich.

Glücklicherweise begann allmählich wieder das Tauwetter, denn schließlich war vor ungefähr zwei Wochen schon Frühlingsanfang gewesen. Die Toten werden in der Wärme bald zu verwesen anfangen. Sie aber jetzt noch zu beerdigen, dazu fehlt uns die Zeit und die Kraft. Wir werden diesen Ort eh für immer verlassen - gleich morgen früh!

7. Tag

Es ging nun endlich los! Ben und ich waren total aufgeregt als wenn wir in Urlaub fahren würden. Ein spürbar wärmerer Wind strömte von Südwesten übers Land und den Schnee schnell zum Schmelzen brachte. Das werden wir unbedingt ausnutzen.

Wir hatten gut gefrühstückt und unsere Rucksäcke gepackt. Ein wenig Melancholie überfiel mich plötzlich. Wir hatte es uns so gut eingerichtet und uns an alles gewöhnt. Nun mussten wir loslassen und wieder ganz von vorne anfangen. Aber die Notwendigkeit weg gehen zu müssen lag nicht nur seit dem letzten Vorfall auf der Hand - es gibt hier einfach keine Zukunft.

Wir schlugen unseren Weg Richtung Süden ein, folgten aber nicht der Straße, sondern gingen querfeldein und meistens durch den Wald. Anders geht es nicht ohne dabei Gefahr zu laufen von weitem gesehen zu werden - und das wäre tödlich. Immer wenn ein Tal vor uns lag suchten wir uns einen guten Ausblick und ich prüfte mit dem Fernglas ob es Spuren von Menschen gab: Felder die bewirtschaftet wurden, Rodungen, eingezäunte Tiere, aufsteigender Rauch, Trampelpfade und so weiter…

Auf einmal entdeckten wir frische Spuren in den noch vorhandenen Schneeflächen. Zum Glück war es nur eine einzelne. Wir schlugen sofort eine völlig andere Richtung ein und verwischten dabei unsere Abdrücke mit den belaubten Zweigen einer Eiche. Dies kostete uns natürlich ungeheuer viel Zeit. Wir kamen an diesem Tag nur halb so schnell vorwärts! Ständig versicherten wir uns rückblickend, dass uns ja niemand folgte.

Am Abend stellten wir relativ gefrustet unser Zelt zum ersten Mal im Freien auf. Wenn das in diesem Tempo so weitergehen würde, schaffen wir es nicht bis zum nächsten Winter über die Berge nach Süden zu kommen. Außerdem hatten wir beide mächtig Hunger. Eigentlich hatten wir ja vor in den Nachbarorten nach Lebensmitteln zu schauen zu.

Als Ben eingeschlafen war, schaute ich beim Mondschein in das Tal vor uns. Weiter links lag am gegenüberliegenden Hang ein Dorf. Den ganzen Abend lang hatte ich weder Rauch noch Licht sehen können. Ob ich es wagen sollte alleine im Schutz der Dunkelheit nach Lebensmitteln zu schauen? Vielleicht wäre das sogar besser als bei Tag, dachte ich mir.

Ich nahm eine Tasche und mein Messer mit. Für Ben schrieb ich schnell noch eine Notiz - falls er aufwachen würde und ich bis dahin noch nicht wieder zurückgekommen wäre. Dann machte ich mich auf den Weg durch die glitzernd weiß gefrorene Schneefläche.

Erst wechselte ich etwas weiter oberhalb die Talseite damit man nicht nachvollziehen konnte aus welcher Richtung ich kam. Die Spur wurde vorsichtshalber gründlich verwischt. Wenn es noch mal schneien würde, wird man sie so schnell nicht erkennen können. Nun begab ich mich von hinten an den Ortsrand. Hier auf der dem Süden zugewandten Höhe lag ein ehemaliges Neubaugebiet. Im Dunkel der Nacht wirkten die verlassenen Häuser gespenstisch. Junge Familien hatten sich hier ihr Zuhause errichtet, mit allem was das Herz begehrt! Spielgeräte und Baumhäuser im Garten, den gemütlichen Kachelofen drinnen, große Garagen mit Fahrrädern, Anhängern, Motorrädern und sogar Traktoren. Nun waren die Häuser verlassen. Es waren alle geflohen - wohin auch immer. Niemand dekorierte und pflanzte mehr, keine Kinder rannten und riefen und der angehäufte Wohlstand macht keinen Sinn mehr.

Egal - hoffentlich gab es noch jede Menge Reste an Lebensmittel. So stieg ich in jedes Haus hinein, nach und nach die ganze Straße entlang. Es war nur wenig was ich fand, aber für die nächsten zwei, drei Tage würde es wohl reichen.

Plötzlich bemerkte ich, dass draußen jemand rumlief. Nackte Angst überfiel mich. Ich lauschte und spähte zum Fenster vorsichtig hinaus. Ob man auf mich lauerte und wartete bis ich zur Tür rausging? So einfach wollte ich mich nicht abknallen lassen!

Nachdem ich eine halbe Stunde nichts mehr gehört hatte, suchte ich mir ein Fenster Richtung Garten hinaus. Hier konnte ich schnell zum Waldrand rüber laufen und zur Not hinter den Gartenlauben noch mal Deckung nehmen. Alles lief völlig geräuschlos und störungsfrei ab. Im Nu war ich raus aus dem Ort und rannte rüber bis in den schützenden Wald. Ab hier begann ich wieder damit die Spuren zu verwischen und lief in einem großen Bogen mit meiner Ausbeute an Lebensmitteln wieder Richtung unseres Lagerplatzes.

Als ich mitten im Wald war, bemerkte ich wieder diese Laufgeräusche hinter mir. Es waren sogar mehrere! Und ganz schnelle Schritte. Es war komisch. Das waren doch keine Menschen - das waren Tiere! Eine Horde verwilderter Hunde hetzte mir nach. Sie hatten meine Witterung aufgenommen und wollten nun ihr Revier verteidigen! Solche Tiere sind wild aufgewachsen und benehmen sich wie ein Rudel hungriger Wölfe. Sie bellten gefährlich scharf als sie durch den Wald auf mich zu rannten. Wohin sollte ich jetzt? Was tun? Mit dem Messer konnte ich nichts gegen diese Horde ausrichten.

Ich ließ meine Sachen fallen und rannte stapfend zum nächsten Baum, versuche daran hochzuklettern und rettete mich in die Höhe. Es war geschafft! Der Baum wurde sofort umringt und angebellt. Wann würden diese Viecher wieder verschwinden? Es war eine wirklich dumme Situation. Ich ärgerte mich dabei am allermeisten über meine Hilflosigkeit.

Doch plötzlich jaulten die Hunde auf. Zogen den Schwanz ein, liefen kurz weg, kamen aber wieder und benahmen sich dabei sichtlich gequält. Ich verstand das Ganze nicht. Schließlich rannten sie alle bellend davon. Es war mir ein Rätsel. Ob ich es wagen soll die Gelegenheit zur Flucht zu nutzen?

So sprang ich runter von meinem Ast und sammelte die Sachen schnell wieder ein. Da hörte ich wie sich ein Mensch näherte! Sofort warf ich mich hinter den nächsten Busch auf den Boden in Deckung. Das Messer lag bereit in meiner Hand. Die Gestalt kam näher und sucht nach mir…

Aber zu meiner Überraschung war es Ben! Verblüfft kam ich aus meinem Versteck hervor. Er freute sich mich zu sehen und grinste. In der einen Hand hatte er meinen Zettel und in der anderen eine Hundepfeife! Jetzt kapierte ich. Es ist eine der Pfeifen die für das menschliche Ohr unhörbare Hochfrequenz-Töne erzeugt, die aber für Hundeohren äußerst schmerzhaft sind. Ich musste lachen! Wo hatte er die nur her? Die musste er sich vor unserer Abreise noch eingesteckt haben.

„Super Ben! Danke. Erstklassig reagiert.“ lobte ich ihn. Er aber grinste nur stolz.

8. Tag

Nach einem opulent großen und gutem Frühstück - es gab für jeden ein halbes Glas mit Schokoladencreme, die ich die Nacht über in meinen Schlafsack mit reingelegt hatte damit sie nicht einfriert, sowie einer noch intakten Packung Knäckebrot - begaben wir uns gut gelaunt auf die nächste Tagesetappe. Zu unserer weiteren Freude fing jetzt endlich das warme Frühlingswetter an durchzubrechen. Der Himmel leuchtete blau und die Sonne löste die ihrer Wärme hilflos ausgesetzten Schneedecken immer mehr auf. Es fühlte sich herrlich schön an!

Wir gingen unseren Weg weiter durch den Wald und kreuzen nur gelegentlich eine Lichtung. Uns begegneten jede Menge Tierspuren aber keinerlei menschliche Abdrücke. Das machte mich schon sehr nachdenklich. Wo sind nur die Leute alle hin? Sind es wirklich nur noch so wenige? Irgendwann wird diese ganze Landschaft verwildert sein und irgendwann wird es hier nur noch hektarweise Wälder geben. Wie vor gut zweitausend Jahren…

Als wir am Abend zusammen saßen und mitten im Wald zwischen den hohen Stämmen der Bäume unser Lager aufgeschlagen hatten, überfiel mich beim Rauschen des Windes in den Ästen eine melancholische Stimmung. Ben bemerkte es, setzt sich direkt neben mich und legte seinen Arm um meine Schultern.

„Ich vermisse die anderen Menschen um mich herum.“ erklärte ich ihm meinen traurigen Blick. Ben schaute mir direkt in die Augen und zeigt auf sich. Ich verstand und lächelte ein wenig. „Das ist wahr, wir haben ja uns beide.“

Dabei war es noch gar nicht so lange her, dass wir uns kennen gelernt hatten. Vor ca. zweieinhalb Jahren sah ich zwischen den Feldern diesen Jungen herum streunen. Blondes langes Haar, völlig wild und ungekämmt hing es ihm ins Gesicht und über seine lange schmale Nase. Wie ein wildes, struppiges Vogelnest sah es aus. Seine Kleidung war verdreckt und teilweise zerrissen. Schuhe besaß er keine. Sein Blick war umsichtig, sein Gang aber eher müde und erschöpft, ein wenig lustlos.

Solche Begegnungen passierten nur alle vier bis fünf Monate. Er hatte mich zum Glück nicht gesehen und stöberte hungrig in den Häusern nach Essbarem herum. Ärgerlich, dass er ausgerechnet in meinem Dorf Unterschlupf suchte und ich mich nicht mehr draußen blicken lassen konnte! Wenn man Glück hatte, war dies nur kurzzeitig bis so ein Besucher dann endlich wieder weiterzog. Für diesen Fall hatte ich ja mein Versteck im Wald, was ich nun notgedrungen aufsuchen musste…

Ich beobachtete ihn bestimmt zwei Wochen lang. Er blieb.

Es kamen auch keine weiteren Menschen nach. Da er alleine und nur mit einem Messer bewaffnet herum lief war für mich klar, dass ich ihn möglichst bald beseitigen müsste damit ich ohne Gefahr weiter leben konnte. Ich meine - verstehst du mich? Kannst du diese zwingende Notwendigkeit meiner Situation überhaupt nachvollziehen? Ich hatte Menschen gesehen, die andere am Leben ließen, teilweise aus Mitleid oder Ehrfurcht vor dem Leben. Sie wurden letztendlich alle Opfer ihrer Entscheidung. Es ist einfach nicht mehr möglich jemand anderen am Leben zu lassen. Oder glaubst du dich einfach Schlafen legen zu können ohne ein Risiko einzugehen der Andere neben dir könnte dich nicht doch umbringen?

So entschloss ich mich die nächste Nacht noch abzuwarten. Seine Tagesgewohnheiten waren mir durch die ständige Beobachtung ja schnell vertraut geworden. Er ging immer wieder an den Fischteich um dort Fische zu angeln und dann roh zu verspeisen. Der Junge hatte wohl kaum Erfahrungen im Überleben sammeln können denn er war gerade mal schätzungsweise zehn Jahre alt. Als das Ende von allem stattfand war er noch nicht einmal eingeschult gewesen. Meistens saß er dann nach dem Essen noch lange am Ende des Stegs am Fischteich und blickte ohne einen Ton zu sagen ins Wasser. Er redete eigentlich nie, was ungewöhnlich war. Ich selber führe ständig Selbstgespräche mit mir - schon aus purer Einsamkeit.

 

Keine Ahnung was den Jungen so innerlich beschäftigt hat, jedenfalls stand er an diesem Tag auf, stellte sich an die Kante des Stegs und ließ sich mitsamt der Kleidung hineinfallen. Es war aber kein echtes Springen. Es war ein „sich einfach fallen lassen“.

Im ersten Moment dachte ich mir nicht viel dabei. Nur als der Junge nicht wieder auftauchte, wurde es mir mulmig. Ich durfte ihn nicht aus den Augen verlieren. Ich musste immer wissen, wo er war! Das war für mich höchste Alarmstufe! Das ganze Ufer beobachtet ich - aber er tauchte einfach nicht mehr auf.

So rannte ich den Hang hinunter zum Steg und blickte in das klare Wasser des Fischteichs. Da lag er auf dem Grund in etwa zwei Meter Tiefe. Regungslos und mit dem Gesicht nach unten. Es sah unheimlich aus. Sofort wurde mir klar, dass dies kein Zufall war. Der Junge wollte, warum auch immer, seinem Leben wohl ein Ende setzen. Ich hatte leider schon viele Leute sehen müssen die sich selbst das Leben genommen haben - es schockiert mich bis heute noch. An so etwas kann man sich nicht einfach gewöhnen.

Plötzlich entdeckte ich im Augenwinkel ein paar abgepflückte Blumen, die auf den Planken des Steges lagen. Erst waren sie mir gar nicht aufgefallen. Sie waren von ihm liebevoll an die Stelle neben sich gelegt worden, wo er eben noch gesessen hatte. Ein merkwürdiges Gefühl überkam mich.

Sofort zog ich einen Teil meiner Kleidung aus und sprang hinterher, tauchte runter zu ihm und griff nach seinen treibenden Armen. Ich versuchte ihn hochzuziehen, aber es ging nicht! Da war irgendetwas, was ihn schwerer machte. Und tatsächlich: ich musste ihm die Jacke ausziehen da er sie mit Steinen beschwert hatte. Mühsam kamen wir beide zurück an die Oberfläche. Mehr oder weniger geschickt schwamm ich auf dem Rücken mit ihm im Arm und legte ihn durch den mit Schilfgras überwucherten Uferrand endlich auf festen Boden.

Keine Ahnung welche der von mir ausprobierten und hilflosen Wiederbelebungsmaßnahmen letzten Endes halfen. Er kotzte mir den flüssigen Inhalt seine Lunge ins Gesicht und begann richtig ekelig zu röcheln. So legte ich ihn auf die Seite, dass er alles restliche Wasser erstmal aushusten konnte…

Schließlich bemerkte er, dass jemand ihn gerettet hatte. Das war der kritische Moment! Mein Messer hatte ich bereits in meiner Hand um es in einem Nahkampf schneller benutzen zu können. Er aber blickte nur erstaunt in mein Gesicht und fing dann einfach an zu weinen. Ganz lautlos, zuckend und voller Scham und Schmerz. Er tat mir Leid. Verwirrt sah ich ihn an wie er sich zusammenkrümmte und vor tiefem Kummer zitterte.

Prüfend schaute ich nach ob er vielleicht doch noch bewaffnet war. Sein Messer hatte er nach dem Essen auf dem Steg zurück gelassen.

„Hallo … du“ sprach ich ihn an „kann ich dir vielleicht helfen?“

Aber es war ganz offensichtlich: dieser Junge brauchte jemanden der ihn nach so einem Erlebnis einfach nur in den Arm nahm. Und das tat ich schließlich. Ganz ohne weitere Worte.

„Wie heißt du eigentlich? Wie ist dein Name?“ fragte ich schließlich meinen neue Begegnung.

Statt zu antworten blickte er nur verwirrt an mir vorbei.

„Okay - ich heiße Michael. Und du?“

Wieder keine Reaktion von ihm und ich wurde ungeduldig.

„Kannst du nicht sprechen oder was? Sag’ schon.“ - eigentlich eine sinnlose Frage wie mir im Nachhinein klar wurde.

Als Antwort bekam ich zu meiner Überraschung ein zögerliches Nicken. Ich war völlig verblüfft. Wie es sich allmählich herausstellte, hätte er zwar reden können, war aber nicht fähig dazu. Eine Art festgesetzter Schockzustand oder so. Wer weiß was der Junge alles erlebt hatte und was ihm die Sprache blockierte? An seinen Namen konnte er sich auch nicht erinnern. So war jedenfalls meine Hoffnung auf Kommunikation in der Einsamkeit erstmal dahin!

Dennoch entwickelte sich mein neuer Partner prima: er war immer an meiner Seite und lernte schnell durch seine Hilfsbereitschaft die nötigen Handgriffe. Das tat mir wirklich gut. Ich wurde für ihn sogar zu einer Art Vorbild. Schließlich entschloss ich mich eines Tages ihm einen neuen Namen zu geben weil er sich an seinen alten eh nicht erinnern konnte.

„Junge, komm mal her zu mir.“ rief ich ihn eines Morgens. „Ich werde dich ab heute mit einem Namen rufen. Wie wäre es mit: Ben?“

Er nickte eifrig und fand es echt cool einen eigenen Namen zu bekommen. Man war er stolz wenn ich ihn mit „Ben“ ansprach! Das schweißte uns noch mehr zusammen und ich muss ehrlich gestehen, dass ich nach langer Zeit das Gefühl hatte, dass das Ende von allem ein wenig an seiner Unveränderlichkeit verloren hatte…