Das Wagnis, ein Einzelner zu sein

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2 Innerlichkeit (1844)
A »Die Bestätigung in dem inwendigen Menschen« (1843)

Eine erbauliche Rede zu Eph 3,13–21

[Einleitung: Der gefangene Paulus]

In der Hauptstadt der Welt, in dem stolzen Rom, wo aller Glanz und alle Herrlichkeit der Erde sich gesammelt hatte; wo alles aufgeboten war, womit menschlicher Scharfsinn und menschliche Leidenschaft in verzweifelter Angst den Augenblick fristen, alles, was sie erdenken, um den sinnlichen Menschen staunen zu machen: wo jeder Tag Zeuge des Merkwürdigen, des Grauenhaften war, und der nächste Tag es vergessen hatte beim Anblick des noch Merkwürdigeren; in dem hochberühmten Rom, wohin ein jeder, der irgendwie meinte der Menge Aufmerksamkeit fesseln zu können, hastete als zu seinem rechten Schauplatz, im voraus alles zu seinem Empfang bereitend, um, bei allem Rausche des Selbstvertrauens, schlau den karg zugemessenen, beneideten, glücklichen Augenblick zu nutzen – da lebte der Apostel Paulus als ein gefangener Mann, da schrieb er den Brief, aus dem unser Text genommen ist. Als Gefangener ward er dahin gebracht, von keinem gekannt; und doch brachte er eine Lehre mit, von der er bezeugte, sie sei göttliche Wahrheit, ihm mitgeteilt durch besondere Offenbarung, und brachte mit die unerschütterliche Gewißheit, diese Lehre werde siegen über die ganze Welt. Wofern er dennoch ein Aufrührer gewesen wäre, der das Volk aufhetzte und den Tyrannen erbeben machte (wurde er doch jetzt gefangen nach Rom gebracht, damit der Herrscher seine Rache an des Apostels Leiden sättigen könne, ihn martern lassen könne mit den ausgesuchtesten Peinigungen), – ja, so wäre doch einige Wahrscheinlichkeit, daß sein Schicksal eine Weile jedermann erschüttert hatte, in dessen Ernst menschliches Gefühl noch nicht erstorben war, daß es für einen Augenblick mit seinem Grauen die wollüstige und neugierige Menge aufgeregt hätte – ja, vielleicht wäre der Thron des Tyrannen gestürzt worden! Indes, so wurde Paulus nicht behandelt: Er war zu unbedeutend, als daß Rom ihn gefürchtet hatte, seine Narretei zu unschuldig, um die Macht wider sich zu wappnen. Wer war er denn schon? Ein Mann, der einem verachteten Volk zugehörte; ein Mann, der nicht einmal mehr diesem zugehörte, sondern von ihm ausgestoßen war als ein Ärgernis – ein Jude, der Christ geworden war, der einsamste, der verlassenste, der unschädlichste Mensch in ganz Rom. Demgemäß wurde er behandelt. |60| Sein Gefängnis war milde, nur daß er Gefangener war; und er, der da jene sieghafte Gewißheit mitbrachte, ja, ihm war nun als Stätte seines Wirkens angewiesen die Einsamkeit des Gefängnisses und der Soldat, der täglich zu seiner Bewachung abkommandiert wurde. – In der Hauptstadt der Welt, in dem lärmenden Rom, wo nichts der losgelassenen Macht der Zeit widerstehen konnte, die alles so geschwinde wie es erschien wieder verschlang, die alles austilgte ohne Spur mit ihrem Vergessen – da lebte der Apostel Paulus, ein unbedeutender Mann, in einsamer Gefangenschaft, still und zurückgezogen, nicht erst dem Vergessen übergeben; denn es gab niemanden in der ungeheuren Stadt, der von seinem Dasein wußte oder darum sich bekümmerte. Jedoch indessen alles um ihn herum dahinschwand in Nichtigkeit, geschwinder denn ein Schatten, stand für ihn die Überzeugung fest, daß die Lehre, die er bekannte, siegen werde über die ganze Welt – über die ganze Welt, von der er jetzt abgesondert war, und der einzige Mensch, den er sah, war der Soldat, der ihn bewachte. Wenn ein Mensch, der schuldig leidet, seine Strafe mit Geduld trägt, so hat er keinen Ruhm davon: leidet er aber unschuldig mit Geduld, so hat er Ruhm. Dies ist schön zu bedenken, lieblich zu hören, gut zu bekennen; doch es ist schwer zu vollbringen. Ein Mensch aber, in dessen Herzen Gottesfurcht wohnt und Frömmigkeit, er wird mit Gottes Hilfe seine Seele schicken zur Demut, bis daß sie wiederum froh wird in Gott und stille im Herrn; alsdann wird er sich retten in Geduld, wenn es auch sehr hart gewesen, daß seine Erwartung entschwand wie ein Traum, daß er, welcher die ganze Welt hatte gewinnen wollen, als ein Gefangener endete, daß er nicht einmal im Kampfe unterlag, sondern sich abzehrte wie ein Schemen. Wären da einige, die ihr Vertrauen auf ihn gesetzt hätten, und auf ihn gehofft, so wird er ihrer gedenken, und seine Seele wird nicht unbekannt sein mit der schmerzlichen Sorge, ob sie ebenfalls ihn verlassen werden, er wird vielleicht aus seinem Gefängnis an sie schreiben: »verlaßt mich jetzt nicht, da ich von allen verlassen bin, bewahrt euch euer Vertrauen auf mich wie ehedem, vergeßt mich jetzt nicht, da ich von allen vergessen bin.« Vielleicht würde er ihr Herz bewegen, vielleicht würde ein einzelner zu ihm kommen, und falls man es erlaubte, den gefangenen Mann besuchen, mit ihm trauern, ihn trösten und mit ihm sich erbauen. Es ist schön, davon zu reden, der bloße Gedanke bewegt sicherlich jedes besseren Menschen Herz. Jedoch Paulus war ein Apostel. Ob schon traurig, war er doch allezeit fröhlich, ob schon arm, machte er doch allezeit viele reich, obschon er nichts hatte, hatte er doch alles. Aus seiner Gefangenschaft schreibt er an die ferne Gemeinde: »Darum bitte ich, daß ihr nicht müde werdet um meiner Trübsale willen, die ich für euch leide, welche euch eine Ehre sind.« Er, der selber wohl des Trostes zu bedürfen schiene, er ist, wenn man so sagen darf, geschwind in gutem Einverständnis mit dem Herrn, fröhlich in Trübsal, zuversichtlich in Gefahr, nicht mit seinem eignen Leiden beschäftigt, sondern um die Gemeinde besorgt; und nur insoweit denkt er an seine eigne Trübsal, als sie die Gemeinde dahin bringen könnte, müde zu werden.

|61| Gesetzt, ein Mensch habe in seinem Unglück Frieden und Ruhe gefunden, so könnte vielleicht die Sorge, daß andre um seiner Widerwärtigkeit willen Freimut und Glauben verlieren möchten, neue Unruhe in ihm wecken. Doch die Gottesfurcht wird in ihm siegen, und er wird die Geliebten vertrauensvoll in Gottes Hand befehlen. Es rührt das Herz, davon zu reden, jeder bessere Mensch fühlt sicherlich, diese stille Ergebung sei wohl wert, daß man danach strebe. Doch Paulus war ein Apostel, er schreibt aus seiner Gefangenschaft: »Diese meine Trübsale, die ich für euch leide, sind eure Ehre.«

[Das Zeugnis des Apostels]

[…] Stand er in der Mächtigen Gunst, so daß diese seine Lehre empfehlen konnte? Nein! er lag gefangen. Huldigten die Weisen seiner Lehre, so daß deren Ansehen für ihre Wahrheit bürgen konnte? Nein, sie war ihnen eine Torheit. Vermochte es seine Lehre, den Einzelnen rasch in den Besitz einer übernatürlichen Macht zu setzen, bot sie sich den Menschen feil mit Gaukelwerk? Nein, langsam mußte sie erworben, unter Prüfungen angeeignet werden, die anhoben mit der Entsagung von allem. Hatte Paulus denn da irgend ein Zeugnis? Ja! er hatte jedes menschliche Zeugnis wider sich, und dazu hatte er noch die Besorgnis, die Gemeinde möchte versagen, oder, was schlimmer war, an ihm Ärgernis nehmen; denn nie liegt das Ärgernis wohl näher, als wenn Wahrheit niedergetreten wird, wenn Unschuld leidet, wenn Ungerechtigkeit ihres Sieges sicher ist, wenn Gewalt gedeiht, wenn Unkunde noch nicht einmal nötig hat, Gewalt wider das Gute zu brauchen, sondern sorglos und unbekümmert darüber unwissend bleibt, daß es da ist. Indes, verzagt Paulus etwa als ein vom Zeugnis Verlassener? Keinerwege. Sintemal er kein andres Zeugnis hatte, sich darauf zu berufen, beruft er sich auf seine Trübsale. Ist das nicht einem Wunderwerke gleich? Hätte Paulus es sonst nicht kräftiglich erwiesen, daß er Macht hatte, Wunder zu tun, so ist dies doch wohl ein Beweis? Trübsale zu wenden zu einem Zeugnis für die Wahrheit der Lehre, Schande zu wenden zu einer Ehre für ihn und für die gläubige Gemeinde; die verlorene Sache zu wenden zu einer Ehrensache, welcher die ganze begeisternde Gewalt des Zeugnisses eigen ist, ist dies nicht ebenso viel wie den Lahmen gehen machen und den Stummen reden!

Was hat Paulus dazu die Macht gegeben? Er hatte selber ein Zeugnis; er war kein Mann des Zweifels, keiner[,] der da doch ganz im Innern die starken Gedanken widerrief. Ein Zeugnis hatte er, höher denn alles in der Welt, ein Zeugnis, das da um so stärker zeugte, je mehr die Welt sich wider ihn kehrte. War er denn da ein schwacher Mann? Nein, er war mächtig. War er wankend? Nein, er war gefestigt; denn er war machtvoll bestätigt durch Gottes Geist in dem inwendigen Menschen. Was also der Apostel selber gewesen ist, wofür sein ganzes Leben den Beweis führt, das wünscht er jedem Einzelnen in der Gemeinde. Mögen gleich die Umstände jener Zeit andre gewesen sein, mögen gleich Kampf und Streit es nötiger, vielleicht aber auch |62| schwieriger gemacht haben, diese Bestätigung in dem inwendigen Menschen zu gewinnen, es bleibt doch zu allen Zeiten und unter allen Umständen für einen Menschen das Eine[,] das not ist, seine Seele zu retten in dieser inwendigen Bestätigung; denn jeglicher Mensch zu jeglicher Zeit hat ja doch seinen Kampf und seine Anfechtung, seine Not, seine Einsamkeit, in denen er versucht wird, seine Angst und Ohnmacht, wenn das Zeugnis entgleitet. So laßt uns denn näher überlegen:

Die Bestätigung in dem inwendigen Menschen.80

B Interpretation

In seiner erbaulichen Rede über den »inwendigen Menschen«, die gleichzeitig mit den pseudonymen Schriften »Furcht und Zittern« und »Die Wiederholung« im Oktober 1843 veröffentlicht wurde, ringt Kierkegaard um die Innerlichkeit als innerstes Widerstands- und Freiheitszentrum eines Menschen. Er nimmt uns hinein in ein Zwiegespräch, in ein Hören und Nachdenken über die Stärkung des inneren Menschen. Emanuel Hirsch übersetzt hier wie auch sonst das dänische »bekraefte« mit »bestätigen«. Es bedeutet aber: stärken, bestärken, bekräftigen und erst dann auch bestätigen.81 Luther übersetzt Eph 3,16: »stark zu werden durch Gottes Geist an dem inwendigen Menschen«. Auf das Gestärkt-Werden durch Gottes Geist kommt es an. »Bestätigung« klingt zu sehr nach Selbstbestätigung, worauf unser Autor es gerade nicht abgesehen hat.

 

Kierkegaard deutet an, dass jeder Mensch seinen Kampf und seine Anfechtung habe und selber zusehen müsse, wie er dabei seine Seele rette. Weshalb ihm so viel daran liegt, dass der innere Mensch durch Gottes Geist gestärkt wird, will ich nun zu erklären versuchen. Dazu gehen wir dem Gedankengang der ganzen Rede nach und setzen ihn in Beziehung zu Kierkegaards damaliger Lebenssituation.

Zunächst eine Gliederung der Rede:

1 Gebet (126)

2 Bibeltext: Eph 3,13–21

3 Einleitung (126–130)

4 |63| Hauptteil (131–148)Der inwendige Mensch (131–134)Wohlgelingen dient zur Bekräftigung (134–140)Übelgelingen dient zur Bekräftigung (140–145)Wohl- und Übelgelingen dienen zur Bekräftigung (145–148)

5 Schluss (148)

Einleitung

Kommen wir auf die Einleitung (126–130) zurück! Hier malt Kierkegaard dem Leser ein Bild des Apostels Paulus vor Augen. Schon mit dem ersten weitgespannten Satz wird ein Kontrast gezeichnet, wie er größer kaum sein könnte: da ist die »Hauptstadt der Welt«, das stolze Rom, »wo aller Glanz und alle Herrlichkeit der Erde sich gesammelt hatte« – und da ist andererseits der Apostel Paulus, der »als ein gefangener Mann« dort lebte, glanzlos im Verborgenen. Der gefangene Paulus (den Kierkegaard als Verfasser des Epheserbriefes ansieht) war in Rom der einsamste und verlassenste Mensch. Doch er war überzeugt, »dass die Lehre, die er bekannte, siegen werde über die ganze Welt« (128). Diese Spannung im Verhältnis zu den äußeren Umständen soll sich dem Leser einprägen. Sie wird noch verstärkt durch rhetorische Gestaltungsmittel, zum einen den Wechsel von Frage und Antwort, zum anderen die stilisierte Wiederholung: »Es ist schön, davon zu reden …«, nämlich davon, wie Paulus seine Haft erträgt – aber Apostel zu sein ist noch einmal etwas anderes. Die ganze Beschreibung der Situation des Paulus weckt beim Hörer die Frage: Was macht einen Menschen, dem es so ergeht, innerlich stark? Was lässt ihn standhalten?

Paulus wird als Apostel vorgestellt, der dem Einzelnen ein Zeugnis gibt. Seine Stärke beruht auf diesem Zeugnis, nicht auf äußerer Macht. Denn äußerlich betrachtet, hat Paulus keine Macht. Kierkegaard macht den Leser aufmerksam, worauf es für den Apostel und für jeden Menschen ankommt. Man vergesse nicht: »höher als andre zu retten ist es, seine eigene Seele zu retten« (129). Wie ist das möglich, seine Seele zu retten? Die Lehre des Paulus kann den Einzelnen nicht rasch in den Besitz übernatürlicher Macht versetzen. Sie muss langsam und unter Prüfungen angeeignet werden. Da Paulus kein menschliches Zeugnis für seine Lehre beibringen kann, hat er seine Trübsale gewendet zu einem Zeugnis für die Wahrheit der Lehre. »Was hat Paulus die Macht dazu gegeben?«, fragt Kierkegaard. Antwort: »er war machtvoll bestätigt durch Gottes Geist in dem inwendigen Menschen« (130).

So wird der Leser schon in der Einleitung darauf aufmerksam gemacht, dass der Apostel in dem existiert, was er lehrt, und einsteht für ein Zeugnis »höher denn alles in der Welt« (130). Kierkegaard braucht Paulus als Lehrmeister |64| und maßgebendes Beispiel, wie ein Mensch in Einsamkeit und Abhängigkeit seine Seele zu retten vermag, d. h. sein Selbst, den inneren Menschen. Die äußere Welt, und sei es eine imponierende große Weltstadt, hilft ihm dabei nicht. Deutlich wird, wie hier Kierkegaard selbst um seine Innerlichkeit, sein innerstes Widerstandszentrum ringt, um nicht im Schmerz um Regine zu vergehen. Er ist es, der auf Hilfe einer höheren Macht angewiesen ist. In seiner Einsamkeit schreibt er in einem Brief an seinen Freund Emil Boesen: »Ich kann mich selbst nicht dahin bringen zu glauben, daß nach diesem Winter ein Frühling kommt, ich habe mir heute wieder eine Flasche Maiglöckchenduft gekauft, um wenigstens den Gedanken an die Möglichkeit davon zu erwecken.«82 Regine Olsen liebte diesen Duft, und Kierkegaard hatte ihr in der Verlobungszeit ein Maiglöckchen-Parfum geschenkt. Für ihn verband sich dieser Duft mit »Sehnsucht und Erinnerung«83 an glückliche Augenblicke. Der junge Mann, von dem er in seiner Schrift »Die Wiederholung« erzählt, erklärte »Ich bin wieder ich selbst!«, als er erfuhr, dass das von ihm geliebte Mädchen mit einem anderen verheiratet war. Aber so weit ist Kierkegaard zu diesem Zeitpunkt nicht! Er ringt noch darum, zu sich selbst zu finden. Eine »religiöse Individualität … ruht in sich selbst«84 – das weiß er, dahin möchte er gelangen und Frieden und Ruhe finden in seinem Unglück.

Hauptteil der Rede
A. Der inwendige Mensch (131–134)

Für Kierkegaard ist es entscheidend, wie man das Leben betrachtet. Denn damit hängen die Haltung und der Stil zusammen, in dem jemand sein Leben führt. Insofern berührt Kierkegaard die heute aktuelle Frage nach dem richtigen Lebensstil und das Interesse an Religion als einer Frage des Lebensstils. Aber im Unterschied zu anderen, auch heute gängigen Auffassungen setzt er voraus, dass der biblische Text ein Zeugnis für die wahrhaft menschliche Lebenshaltung sei. Und der Leser wird an diese Haltung herangeführt. Es versteht sich keineswegs von selbst, nach der Bedeutung von allem und der eigenen Bedeutung zu fragen. Man kann sich auch den Wechselfällen des Lebens überlassen. Eine »gedankenlose Seele« wird unter wechselnden Umständen nicht ihrer selbst wegen besorgt sein. Ein solcher Mensch hat |65| (wie der reiche Kornbauer Lk 12,16–21) seine Seele an die Welt verloren. Wer dagegen das Leben »mit ein bisschen Ernst betrachtet«, weiß, dass der Mensch, der die Verantwortung eines Herrn auf sich nimmt, sich damit zugleich der Pflicht eines Knechtes unterwirft.

Erst in dem Augenblick, in dem die Besorgnis in seiner Seele erwacht, was die Welt für ihn zu bedeuten habe und er für die Welt, kündigt sich der inwendige Mensch an. Diese Besorgnis verlangt nach einem Wissen, das sich sogleich in ein Handeln verwandelt, man kann auch sagen: Sie verlangt nach einem Wissen, das zugleich Beteiligtsein ist.

Was das heißen soll, wird an der folgenden Passage deutlicher. Lesen und hören wir, wie eindringlich Kierkegaard seinen Leser zu einer ernsten Betrachtung des Lebens bewegt, in der ihm aufgeht, was es heißt, um seine Seele besorgt zu sein:

»[…] Nur, wer feige jede tiefere Erklärung flieht, wer nicht den Mut hat, die Verantwortung eines Herrn derart auf sich zu nehmen, daß er zugleich der Pflicht eines Knechtes sich unterwirft, nicht die Demut hat zu gehorchen, auf daß er herrschen lerne und stets nur insoweit herrschen zu wollen, als er selber gehorcht – nur er füllt die Zeit mit fortwährenden Überlegungen aus, die ihn doch nicht weiterbringen, sondern eher als eine Zerstreuung dienen, in welcher seine Seele, seine Fähigkeit zu begreifen, zu wollen, wie ein Dampf verweht und wie eine Flamme verlischt. Wie traurig ist nicht solch eine Selbstauszehrung, wie weit ist nicht solch ein Mensch davon, mit seinem Leben zu bezeugen, in seinem Leben auszudrücken die erhabene Bestimmung des Menschen, daß er Gottes Mitarbeiter ist.

Mit jeder tieferen Besinnung, die ihn älter macht als den Augenblick, und ihn das Ewige ergreifen läßt, vergewissert sich ein Mensch dessen, daß er ein wirkliches Verhältnis zu einer Welt hat, und daß dies Verhältnis somit kein bloßes Wissen sein kann von der Welt und von sich selbst als einem Teil von ihr, sintemal solch ein Wissen kein Verhältnis ist, eben weil er selber in diesem Wissen gleichgiltig ist gegen diese Welt, und diese Welt gleichgiltig ist gegen sein Wissen von ihr. Erst in dem Augenblick, da die Besorgnis in seiner Seele erwacht, was die Welt für ihn zu bedeuten habe und er für die Welt, was alles das in ihm, dadurch er selber der Welt zugehört, für ihn zu bedeuten habe und er darin für die Welt, alsdann erst, in dieser Besorgnis, kündigt sich der inwendige Mensch an. Diese Besorgnis läßt sich nicht stillen mit einem näheren oder einem mehr umfassenden Wissen, sie verlangt nach einer andern Art von Wissen, einem Wissen, welches keinen Augenblick dabei verharrt, ein Wissen zu sein, sondern im Augenblick der Besitzergreifung sich in eine Handlung verwandelt; denn sonst wird es nicht besessen.

[…] In jener Besorgnis kündigt der inwendige Mensch sich an und verlangt nach einer Erklärung, einem Zeugnis, darinnen erklärt wird die Bedeutung von allem für |66| ihn und seine eigne Bedeutung, indem er selbst dadurch erklärt wird in dem Gott, welcher in seiner ewigen Weisheit alles zusammenhält, und den Menschen zum Herrn der Schöpfung eingesetzt hat, dadurch, daß er Gottes Knecht wurde, und sich ihm dadurch erklärt hat, daß er ihn zu seinem Mitarbeiter machte, und mit jeder Erklärung, die er einem Menschen gibt, ihn bestätigt in dem inwendigen Menschen. In jener Besorgnis kündigt sich der inwendige Mensch an, der nicht besorgt ist um die ganze Welt, sondern allein um Gott und um sich selbst, und um die Erklärung, die ihm das Verhältnis verständlich macht, und um das Zeugnis, das ihn in dem Verhältnis bestätigt. Diese Besorgnis hört keinen Augenblick auf; denn das Wissen, das er gewinnt, ist kein gleichgiltiges Wissen. Wofern nämlich ein Mensch meinen sollte, diese Sache ein für allemal zu entscheiden, und alsdann fertig zu sein, so wäre der inwendige Mensch in ihm nur ein totgebornes Kind und entschwände wieder. Wofern er aber in Wahrheit besorgt ist, wird mit Gottes Hilfe alles dienen zur Bestätigung im inwendigen Menschen; denn Gott ist getreu und läßt sich nicht unbezeugt. Aber Gott ist Geist und kann darum allein im Geist ein Zeugnis geben, das heißt in dem inwendigen Menschen; jedes äußere Zeugnis von Gott, falls von einem solchen die Rede sein könnte, kann ebenso gut ein Betrug sein.«85

So weit Kierkegaard. Der inwendige Mensch verlangt also nach einer Erklärung, einem Zeugnis, in dem die Bedeutung von allem und in dem er selbst erklärt wird in Gott, der alles zusammenhält. Ein allgemeines Wissen von der Welt hilft ihm dabei nicht. Es liefert nur zweideutige Erklärungen, aber keinen Trost, also nichts, worauf ich mich gründen und unbedingt verlassen kann. Erst wer sich tiefer besinnt, erkennt in der Beziehung zu Gott, wozu er bestimmt ist. Spätestens an dieser Stelle sollte klar sein, dass der Weltbezug mit im Blick ist, wenn Kierkegaard vom Menschen als »Mitarbeiter Gottes« spricht. Von Gott zum Herrn der Schöpfung eingesetzt, muss der Mensch sich zur Welt verhalten. Er soll sich nicht aus der Welt auf sich selbst oder auf abstrakte Überlegungen zurückziehen, sondern seine Verantwortung vor Gott gegenüber der Welt wahrnehmen.

Woher soll denn, fragt Kierkegaard, ein Unglücklicher die Gewissheit bekommen, dass Glück Gottes Gnade und sein Missgeschick »des Himmels Strafe ist, auf daß er sich davon zerknirschen lasse, oder daß es Gottes Liebe ist, die ihn in der Prüfung liebt« (133)? Die Erklärung, die mir mein Verhältnis zur Welt verständlich macht, wird mir von anderswo zuteil, und sie macht nicht aller Besorgnis ein Ende. Der inwendige Mensch ist allein um Gott und um sich selbst besorgt. Wenn er darum in Wahrheit, d. h. unaufhörlich besorgt ist, wird mit Gottes Hilfe alles zur Stärkung im inwendigen |67| Menschen dienen (134). Damit nimmt Kierkegaard die Lehre des Paulus auf: »denen, die Gott lieben, dienen alle Dinge zum Guten« (Röm 8,28). Und der Leser, der dies erkennt, versteht: Das sind Menschen, die ihre Bestimmung als Gottes Mitarbeiter realisieren und bei denen alles zum Guten zusammenwirkt.

Halten wir fest: Unaufhörliches Besorgtsein um Gott und um sich selbst – darin lebt der inwendige Mensch, darin zeigt sich, dass ein Mensch im Ernst existiert. Das klingt ziemlich düster, soll aber nur die Struktur des menschlichen Selbstverhältnisses kennzeichnen. Besorgtsein bedeutet, in Sorge bewegt, bekümmert86 sein, auf sich selbst bezogen sein. Daraus erwächst ein staunendes Fragen nach dem Ganzen von Welt und Mensch, und in diesem besorgten Fragen besteht das Leben des inneren Menschen.

Im weiteren Gang der Rede zeigt Kierkegaard, dass der inwendige Mensch gestärkt wird sowohl durch Wohlgelingen wie durch Übelgelingen. Auch hier muss die Eigenart der Übersetzung berücksichtigt werden. Im Dänischen heißt es medgang und modgang, und diese ähnlich lautenden Wörter bedeuten Glück und Unglück, Wohlergehen und Missgeschick.

 

Der britische Theologe George Pattison sieht das Besondere von Kierkegaards erbaulichen Reden darin, dass sie nicht doktrinär sind, also nicht die theoretische Bedeutung religiöser Lehren erklären, sondern entschieden auf individuelle Situationen ausgerichtet sind und sich an den Leser auf der Basis seiner oder ihrer eigenen Lebenserfahrung und seines oder ihres eigenen Lebensverständnisses wenden. Sie beginnen daher im bunten Gemisch gelebter Erfahrung, indem sie bald diese Seite, bald jene Seite des Streitpunkts betrachten, und sie versuchen ganz offenkundig den Leser in einen Dialog zu verwickeln.87 Die Fortsetzung der Rede über den inneren Menschen ist dafür ein gutes Beispiel. Kierkegaard geht auf individuelle Erfahrungen von Glück und Unglück ein und betrachtet sie von verschiedenen Seiten, um jedes Mal dem Leser zur Einsicht zu verhelfen: nicht das äußere Ergehen führt zur Stärkung oder Bestätigung des inneren Menschen, sondern es kommt dazu in einem inneren Prozess, in dem jeder Einzelne an die Grenzen seines Verstehens geführt wird und dessen Ziel nicht willentlich herbeigeführt werden kann.

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