Das Wagnis, ein Einzelner zu sein

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Flugblätter gegen die verbürgerlichte Kirche

In seiner Schrift »Einübung im Christentum« hatte Kierkegaard bereits eine scharfe Kritik am allgemeinen offiziellen Christentum in Dänemark geübt. In der bestehenden Christenheit erhalte die Staatskirche lediglich den Anschein aufrecht, alle Leute seien Christen. Aber dies sei eine Täuschung, ein Sinnentrug. In Wirklichkeit bestehe zwischen dem Christentum des Neuen Testaments und dem, was heute Christentum genannt werde, eine ungeheure Kluft. Man meine, Bewunderer Christi seien Christen. Doch wahre Christen könnten nur Nachfolger sein, die ihr Leben von Christus umformen lassen.53

Vier Jahre später, im Januar 1854, starb der alte Bischof Mynster. Als nun Professor Martensen, der als aussichtsreicher Nachfolgekandidat galt, im Februar eine Gedenkrede hielt, in der er den verstorbenen Bischof als ein Glied in der »Kette der rechten Wahrheitszeugen« lobte, da erhob Kierkegaard Einspruch: Ein solcher Titel sei dem Wesen des Christentums zuwider. Er veröffentlichte seinen Artikel jedoch erst im Dezember 1854, nachdem Martensen das Bischofsamt übernommen hatte. Wie zu erwarten stand, antwortete Martensen entrüstet und warf Kierkegaard vor, er sei pietätlos und kenne nur ein Christentum ohne Kirche und ohne Geschichte. Die Frage, ob Mynster ein Wahrheitszeuge im Sinne des Urchristentums gewesen sei, wies Martensen als unzulässig zurück. Daraufhin ging Kierkegaard zu einem Angriff auf die dänische Staatskirche über, der an Schärfe alle bisher von ihm geübte Kirchenkritik übertraf. In Flugblättern unter dem Titel »Der Augenblick« griff er »nun den gesamten Pastorenstand an, weil |42| Martensen mit Mynster den ganzen Stand in den Rang des Wahrheitszeugen erhoben« habe.54 Das trug Kierkegaard prompt den Vorwurf der Schwärmerei und das Urteil ein, er stehe außerhalb der Kirche Christi. In den folgenden Flugblättern reagierte er mit einem unerhörten Einspruch gegen das Bestehende. Er warnte den Leser, am öffentlichen Gottesdienst teilzunehmen. Wer fernbleibe, lade eine große Schuld weniger auf sich und beteilige sich wenigstens nicht daran, Gott zum Narren zu halten. Die verbürgerlichte Kirche rechne nur mit der Masse, da sie möglichst viele brauche, um bestehen zu können, während das Christentum immer den Einzelnen meine. Das Interesse des Christentums ziele auf wahre Christen. Die Pastoren sieht Kierkegaard als die Hauptschuldigen, die mit staatlicher Protektion das Christentum vereiteln: »Der Egoismus des Pastorenstandes zielt ab auf die vielen Christen …«55

In der zehnten Nummer des »Augenblicks«, die nicht mehr veröffentlicht wurde, erkennt Kierkegaard Sokrates als die einzige Analogie an, die es für ihn gebe. Worin besteht für ihn die Parallele zu seiner eigenen Aufgabe? Sokrates musste die vermeintlich Wissenden ihrer Unwissenheit überführen, indem er als der einzige Unwissende unter ihnen auftrat. »Kierkegaard muss als der einzige bewusste Nichtchrist, wie er sich selbst nennt […,] die Christenheit dessen überführen, dass ihr vermeintliches Christentum keines ist.«56 Wenige Tage später bricht er auf der Straße zusammen. Man bringt ihn ins Krankenhaus, wo er fünf Wochen später stirbt.

Sein Wirken als Autor erreichte im Kirchenstreit seinen Höhepunkt. Erst vier Jahre nach seinem Tod erschien die bereits 1849, also lange vor dem Kirchenstreit verfasste Schrift »Der Gesichtspunkt für meine Wirksamkeit als Schriftsteller«, eine Art Generalbeichte, die Kierkegaard unter seinem eigenen Namen ablegt und mit der er sich zu seinen pseudonymen Schriften bekennt. Im Rückblick formuliert er das Anliegen, das er mit seinem ganzen Werk verfolgt habe. Er wolle darin »ohne Vollmacht auf das Christliche aufmerksam machen«.57 Hier hat jedes Wort Gewicht. Ohne Vollmacht, d. h. als Theologe, der zwar das Examen und den Doktorgrad (= Magister) erworben habe, aber nicht die Autorität des ordinierten Pfarrers geltend machen könne, will Kierkegaard auf das Christliche aufmerksam machen, das durch Offenbarung von Gott selbst mitgeteilt und autorisiert ist, mit göttlicher |43| Autorität verkündigt wird und vom Einzelnen geglaubt werden soll. Daher interessiere ihn, wie ein Mensch sich die Wahrheit seiner Existenz, die ihm in Christus mitgeteilt wird, persönlich aneignen könne. Sein ganzes Werk sei bezogen auf das Problem Christwerden, d. h. auf die Frage, wie ein Mensch Christ wird.

Kierkegaard hat, übereinstimmend mit der lutherischen Orthodoxie, vom Pfarramt sehr hoch gedacht58 und stets daran festgehalten, dass nur ein ordinierter Prediger die Vollmacht habe, das Evangelium als von Gott autorisierte Botschaft zu verkündigen. Vollmacht ist für ihn »die spezifische Qualität entweder einer apostolischen Berufung oder der Ordination«.59 Ohne Vollmacht könne ein Mensch nicht mehr für den anderen tun, als ihn auf die in Christus begegnende Existenzwahrheit aufmerksam zu machen, weil – wie in Orientierung an Sokrates zu betonen ist – jeder nur bei sich selbst Wahrheit zu realisieren vermag.

In diesem Überblick über Kierkegaards Gesamtwerk habe ich zu zeigen versucht, weshalb es sinnvoll ist, diesen Autor nicht als Philosoph, sondern als religiösen Schriftsteller der Moderne zu begreifen, dessen Werk sich als ganzes dem zurechnen lässt, was man mit einem heute erklärungsbedürftigen Wort »Erbauungsliteratur« nennt. Da Kierkegaard mit der biblisch-christlichen Überlieferung sehr unkonventionell umgeht und sie literarisch, philosophisch und theologisch hochreflektiert verarbeitet, ist seine Form von Erbaulichkeit entsprechend mehrdeutig,60 wie seine Texte sich überhaupt dagegen sperren, auf ein Schema festgelegt und bloß auf einer einzigen Bedeutungsebene gelesen zu werden. Das macht Kierkegaard gerade zu einem modernen religiösen Schriftsteller, aufregend modern und religiös. Aus der Darstellung wurde deutlich, dass sich aus der Chronologie und der Einteilung der Werke nach Textsorten einige Argumente für diese Zuordnung ableiten lassen. Es entspricht nicht gerade den bei deutschen Theologen üblichen Lesegewohnheiten, Kierkegaard als einen Schriftsteller zu lesen, dem es sowohl in seinen erbaulichen Reden wie auch in seinen pseudonymen |44| philosophischen Schriften um Probleme der christlichen Verkündigung und ihrer individuellen Aneignung unter Bedingungen der Moderne geht. Aber in der Kierkegaard-Rezeption gab es schon früh Ansätze dazu.

Einen Vertreter dieser Lesart, der in Deutschland wenig bekannt ist, will ich zum Schluss mit einem Zitat vorstellen: »Obwohl seine Schriften oft glänzend poetisch und oft tief philosophisch sind, war Kierkegaard weder ein Poet noch ein Philosoph, sondern ein Prediger, ein Ausleger und Verteidiger christlicher Lehre und christlicher Lebensführung.« So charakterisiert der englische Schriftsteller Wystan Hugh Auden (1907–1973) Kierkegaard. Wie viele polemische Autoren habe Kierkegaard das Schicksal erlitten, auf die falsche Weise oder von den falschen Leuten gelesen zu werden. Man müsse ihn, so meint Auden, als Prediger für Gläubige lesen. Die Aufgabe eines christlichen Predigers sei es, »erstens die christlichen Gebote zu bestätigen und das Bewusstsein der Sünde zu wecken und zweitens die Beziehung des Einzelnen zu Christus wirklich, d. h. heutig oder gleichzeitig zu machen«.61 Genau das hat Kierkegaard mit Leidenschaft getan.

Michael Heymel

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Teil B
1 Der Streit des Gebets (1844)
A »Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – dadurch, daß Gott siegt«62

Mein Leser, hast Du nie mit einem Menschen gesprochen, der an Weisheit weit überlegen Dir doch wohlwollend war, ja mehr oder doch besser (und also mehr) um dein Wohl bekümmerter als du selber; hast du das nicht, nun so bedenke wohl, was dir oder mir begegnen könnte, wie ich es nun darstellen will.

[Streit mit einem Weisen – ein Gleichnis]

Sieh, am Anfang waren wir ganz uneinig; was der Weise sagte, kam mir wie eine sonderbare Rede vor; doch hatte ich das Vertrauen zu ihm, daß er seine Überlegenheit nicht missbrauchen würde, sondern sich überzeugen lasse und selbst mir zur Beseitigung des Missverständnisses behilflich wäre. So sprachen wir da miteinander und wechselten manches Wort im Streit der Rede. Der Weise muß die Übersicht vermutlich sich bewahrt haben, denn er blieb ruhig, während ich, ohne recht zu merken, wie und ohne mich darüber zu schämen, dabei fast heftig wurde, weil es mir so wichtig war, daß der Weise meine Ansicht teilen sollte, daß ich sie ohne die Einigkeit mit ihm nicht hätte festhalten dürfen – wohl aber ihn angreifen, um ihn zur Einigkeit zu bewegen. Und musste mich dies nicht auch heftig machen, denn das war ja ein Selbstwiderspruch, auf tückische Art durch meine Tüchtigkeit (als sei ich der Stärkere) den Weisen für meine Meinung gewinnen zu wollen, und dann erst recht wieder von der Richtigkeit der Meinung überzeugt zu sein im Vertrauen darauf, daß es die Meinung des Weisen sei, da er ja der Stärkere war; denn dies Vertrauen hatte ich doch beständig zu ihm, und die Einigkeit mit ihm war für mich das Entscheidende. Endlich, nachdem ich lange gleichsam unstet im Gespräch geschwankt, und öfter versucht und gelitten hatte, stand plötzlich so deutlich vor mir, was ich sagen wollte, daß ich in aller Kürze und im Besitz einer unerklärlichen Stärke meine Meinung kundtat, sicher darin, daß ich ihn überzeugen müsse. Und sieh, der Weise gab mir |46| recht und gab mir seine Zustimmung. Aber da er doch wohlwollend gegen mich war, und glaubte, ich könne die Erklärung ertragen, da drohte er mit dem Finger und sagte: was du nun meinst, ist ja gerade das, was ich zu Anfang sagte, da du mich nicht verstehen konntest und wolltest. Wohl erwachte nun die Beschämung in meiner Seele, so daß ich mich über mein früheres Benehmen schämte, aber sie raubte mir doch nicht den Freimut, mich über die verstandene Wahrheit zu freuen, wenn ich auch weit entfernt war, den Weisen überwunden zu haben, da ich nur selbst durch den Streit überzeugt und gestärkt worden war. Wie erstaunlich! Aber es war doch ein Glück, daß ich nicht einen anderen Weg einschlug, nicht hitzig wurde, den Streit nicht abbrach, nicht den Weisen beschimpfte, als sei er mein Feind, weil er mir nicht nachgeben wollte, in hohen Tönen über seine Eigenliebe schrie, weil er mir nicht recht geben, sondern dagegen mich besser lieben wollte, als ich selbst verstand. Und die Beschämung befreite mich davon, was ich vielleicht sonst getan, wenn ich den Streit abgebrochen und später selbst das Wahre eingesehen hätte, daß ich weiter den Weisen als meinen Feind betrachtete, ungeachtet dessen, was er gerade gesagt hatte; daß ich sogar ihn hätte kränken wollen durch den trotzigen Hinweis, ich hätte die Wahrheit ohne ihn verstanden, und ihm zum Trotze, obgleich er mir grade helfen wollte, durch mich selbst das Wahre zu sehen, und obwohl er als einziger mich daran hätte hindern können, indem er Ja sagte und dadurch von meinen Kränkungen sich freigekauft und meine Dankbarkeit sich erkauft hätte.

 

So mit dem Streitenden, wenn er nicht die Innerlichkeit aufgibt, welche die Bedingung dafür ist, daß man wirklich sagen könne, er streite im Gebet. Sage nicht, mein Leser, das sei eine fromme Einbildung, berufe dich nicht auf die Erfahrung, es gehe so im Leben nicht zu; denn das ist ja gleichgültig, wenn es doch so zugehen kann, und du nötigst mich nur, dir recht zu geben, zu sagen, es gehe im Leben wohl anders zu, weil es nämlich so zugeht, daß die Menschen lau und kalt und gleichgültig werden, so daß sie weder das erste noch das letzte spüren, und vergessen, so daß sie nicht mehr daran denken, wie es am Anfang war, wenn sie an den Schluß gekommen sind, und tückisch und launisch und frech sind, so daß sie Gott anklagen, daß er ihnen nicht helfe, und Gott trotzen, daß sie sich selber helfen könnten, wobei das erste eine ewige Lüge ist und das letzte, wenn überhaupt, Wahrheit darin stecken soll, der Mensch allein von Gott gelernt haben kann.

[Sich innerlich in Gott hineinarbeiten]

Wer aber die Innerlichkeit nicht aufgibt, durch seinen Streit sich nicht aus dem Gottesverhältnis hinausstreitet, sondern sich in Gott hineinarbeitet, dem geht es so, wie es erklärt wurde, indem die Gottinnigkeit des Gebetes zu einer Hauptsache wird und nicht ein Mittel zur Erreichung einer Absicht. Oder sollte es so wesentlich zum Gebet gehören, daß man um etwas betet, so daß das Gebet desto innerlicher wird, je mehr man zu erbitten habe, oder doch je weitschweifender man in Worten sei; sollte der |47| nicht ein Beter, ja, der rechte Beter sein, der sagte: Herr, mein Gott, ich habe eigentlich gar nichts dich zu bitten; würdest du auch die Erfüllung aller Wünsche mir geloben, ich könnte doch eigentlich gar keinen anführen, nur daß ich bei dir bleiben darf, so nahe wie es in dieser Zeit der Trennung möglich ist, in der du lebst und ich, und ganz bei dir in alle Ewigkeit? Und so weit der Beter seinen Blick zum Himmel wendet, sollte der dann der Beter sein, oder der rechte Beter, dessen unruhige Augen beständig Trost für die einzelne Sorge, einige Erfüllung für den einzelnen Wunsch holten; und nicht eher der, dessen ruhige Augen nur Gott suchten? Dazu muß es auch kommen, wenn die Innerlichkeit nicht aufgegeben, sondern unverändert bewahrt und als ein heiliges Feuer im Menschen bewacht wird; denn der Wunsch, die irdische Begierde, der weltliche Kummer ist das Zeitliche, stirbt gewöhnlich vor dem Menschen, auch wenn er das Ewige nicht ergreift, wie sollte er da das Ewige aushalten können! Da verliert der Wunsch mehr und mehr an Glut, zuletzt ist seine Zeit vorbei, da stirbt der Wurm der Begierde nach und nach, und die Begierde stirbt aus, da schlummert die Wachheit des Kummers nach und nach ein, um nie wieder zu erwachen, aber die Zeit der Innerlichkeit ist nie vorbei.

Wer hat nun gesiegt? Das hat Gott, dem der Beter durch seine Gebete die Erfüllung nicht abnötigen konnte. Aber der Beter hat ja auch gesiegt. Oder heißt das siegen, daß man recht bekommt, wenn man unrecht hat, daß man die Erfüllung eines irdischen Wunsches erhält als sei dies das höchste, einen Beweis dafür, daß man zu Gott gebetet und recht gebetet habe, einen Beweis dafür, daß Gott Liebe war, und der Betende im Einverständnis mit ihm, daß der Beter vielmehr für sein ganzes Leben dem zu Dank verpflichtet war, den er durch sein Gebet und durch seinen Dank selber zu einem Abgott machte.

[Wer wurde durch das Gebet verändert: Gott, der Beter oder beide?]

Welches ist nun der Sieg, worin unterscheidet sich der Zustand der Sieger von dem der Streiter? Wurde Gott verändert? Eine bejahende Antwort scheint eine schwierige Rede, und doch ist es so, er wurde verändert; denn nun hat sich gerade gezeigt, daß Gott unveränderlich ist. Doch ist jene Unveränderlichkeit nicht jene eisige Gleichgültigkeit, jene tödliche Erhabenheit, jene zweideutige Ferne, die der verhärtete Verstand anpries, nein, im Gegenteil, diese Unveränderlichkeit ist innerlich und warm und überall anwesend, ist eine Unveränderlichkeit in der Sorge um einen Menschen, und gerade darum lässt sie sich durch den Schrei des Beters nicht verändern, als sei nun alles vorbei, durch seine Feigheit, wenn er es unbequem findet, sich selbst helfen zu können, durch seine falsche Zerknirschung, die ihm doch bald leidtut, wenn die augenblickliche Angst vor der Gefahr vorüber ist.

Wurde der Beter verändert? Ja, das ist nicht schwer einzusehen; denn er ist der rechte Beter geworden, und der rechte Beter siegt immer, da dies ein und dasselbe ist. Auf unvollkommene Weise war er schon davon überzeugt, denn während er genug |48| Innerlichkeit hatte, um zu beten, war er zugleich überzeugt, daß der Wunsch erfüllt würde, wenn er recht bäte; recht bäte im Verhältnis zum Wunsche, so verstand er es. Nun ist er verändert, aber es ist noch wahr, ja, nun ist es wahr geworden, daß wenn er richtig betet, er dann siegt. Und schon zu Beginn war ihm, daß er bat, zum Gewinn, wie unvollkommen sein Gebet auch war; es half ihm nämlich, seine Seele auf einen Wunsch hin zu sammeln. Leider wünscht ein Mensch im allgemeinen zu viele Dinge, lässt die Seele in jedem Windzug flattern. Aber der, der betet, weiß doch Unterschiede zu machen; er gibt nach und nach auf, was nach seinem irdischen Begriff das unbedeutendere ist, da er damit nicht recht zu Gott kommen darf; und da er nicht wagt, Gottes Güte zu verspielen, indem er immer um dies und jenes bettelt, sondern dagegen dem Begehren ob seines einzigen Wunsches desto mehr Nachdruckt verleiht. Da sammelt er seine Seele Gott gegenüber auf einen Punkt seines Wunsches, und schon darin liegt für ihn eine Veredlung, die Vorbereitung zur Aufgabe aller Dinge, denn allein der kann alles aufgeben, der nur einen einzigen Wunsch hatte. So ist er vorbereitet, im Streit mit Gott gestärkt zu werden und zu siegen, denn der rechte Beter streitet im Gebet und siegt dadurch, daß Gott siegt.63

B Interpretation
Pseudonyme Schriften und Erbauliche Reden von 1844

Der hier dokumentierte Text zum Streit des Beters mit Gott ist ein Ausschnitt aus einer der vier erbaulichen Reden Kierkegaards64, die am 31.8.1844 im Kopenhagener Buchhandel erschienen. Die vierte Rede, die in der deutschen Übersetzung 25 Seiten umfasst, trägt den Titel »Der rechte Beter streitet im Gebet und siegt – damit, daß Gott siegt«.

In diesen vier Reden übt Kierkegaard mit seinem Leser die Destruktion des menschlichen Eigensinns ein. Er nennt diese Destruktion »die Vernichtigung des Menschen« und fügt hinzu: das sei »das Höchste, was ein Mensch zu fassen vermag«.65 In der ersten und zweiten Rede wird in der Auslegung von 2 Kor 12 gezeigt, wie des Apostels Wunschdenken zerstört wird, damit die Gnade in der Schwachheit allein regiere. In der dritten Rede wird der Feigheit eine Absage erteilt, die sich mit allzu menschlicher Rücksicht nicht zu dem Guten bekennt, das um Gottes willen an der Zeit ist. In der vierten Rede wird das Gebet thematisiert, das sich auf einen Streit mit Gott einlässt und zu einem Sieg des Beters führt, indem Gott über den Menschen siegt.

|49| Emanuel Hirsch macht in seiner Einleitung66 zu den vier erbaulichen Reden von 1844 darauf aufmerksam, dass insbesondere die Rede vom Pfahl im Fleisch und die über das Gebet fast wie »Aufzeichnungen aus einem geheimen Tagebuch gelesen werden« dürfen. Hier wie überhaupt in den erbaulichen Reden von 1843–45 trete Kierkegaard dem Leser nicht wie in den pseudonymen Schriften von 1844, in den »Philosophische Brocken« und dem »Begriff Angst« als der »Verhüllte und Unkenntliche« entgegen. Vielmehr lasse er den Leser »an den Meditationen und Selbstgesprächen vor Gott« teilnehmen, in denen er sich selbst zu persönlicher ethischer und religiöser Klarheit durchringe. Die Erlebnisse und Einsichten, die in »Der Begriff Angst« zergliedert und von Vigilius Haufniensis, dem »Wächter Kopenhagens«, fast spielerisch entfaltet seien, würden in den Erbaulichen Reden von 1844 »in das Ganze einer ethisch und religiös tiefen Menschlichkeit eingeordnet«. Deshalb können auch »Der Begriff Angst« und die »Vier erbaulichen Reden von 1844« wie pseudonyme »Protreptik« (Vorbereitung) und religiöse Entfaltung gelesen werden. Die Angst, die »kraft des Glaubens«67 erlösen kann, kommt in den vier erbaulichen Reden mit ihrer wahrhaft erlösenden Kraft zur Entfaltung.

Der Streit des Beters mit Gott

Die vierte Rede, die dem Streit des Gebetes gewidmet ist, beginnt mit einer ausführlichen Einleitung, in der auf die Dialektik eingestimmt wird, dass es einen Streit gibt, bei dem man durch Verlieren gewinnen kann. Von einem biblischen Text ist explizit keine Rede. Die innere Beziehung auf Jesu Wort aus Mk 8,35ff. kommt in den Blick: »Wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinet- und des Evangeliums willen, der wird’s erhalten«. Wie geht diese Dialektik von Verlieren und Erhalten im Streit des Gebetes vor sich? Beten heißt für Kierkegaard allem voran: Sich-ergeben, und nicht jemanden angreifen oder sich selbst verteidigen, um sich zu erhalten! Wer sich betend hingebe, der streite nicht; gebe er sich aber nicht hin, so bete er auch nicht. Ein Gebet, das keine Ergebung sei, die in dem inwendigen Menschen geschieht, kommt für Kierkegaard als Gebet gar nicht in Betracht. So ein Gebet komme auch bei Gott gar nicht an, so wenig wie ein Brief ankomme, der falsch adressiert sei. Wie soll es dann aber möglich sein, dass ein Gebet zur Waffe wider Gott werden kann?