Das Wagnis, ein Einzelner zu sein

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2 Sören Kierkegaard – Annäherungen an sein Werk

Sören Kierkegaard hat in wenigen Jahren ein umfangreiches literarisches Werk geschaffen. Die dritte Auflage seiner Samlede Vaerker, der dänischen Ausgabe der Gesammelten Werke, umfasst 20 Bände (Kopenhagen 1962–1964), die Papirer, die Tagebücher, liegen in 16 Bänden vor (2. Aufl. Kopenhagen 1968–1978). Die einzige bisher vorliegende deutsche Gesamtausgabe der Werke Kierkegaards in der Übersetzung von Emanuel Hirsch und seinem Schüler Hayo Gerdes (Düsseldorf-Köln 1950–1969) zählt 24 Bände, zu denen noch 5 Bände mit einer Auswahl aus den Tagebüchern (Düsseldorf-Köln 1962–1974) hinzukommen.

|30| Die neue dänische Gesamtausgabe (Skrifter), die seit 1994 in Kopenhagen von verschiedenen Forschern herausgegeben wird, ist auf 55 Bände veranschlagt. Auf dieser historisch-kritischen Ausgabe beruht die Deutsche Sören Kierkegaard Edition (DSKE), die in Berlin seit 2005 im Erscheinen begriffen ist. Wer Kierkegaard im dänischen Originaltext lesen kann, findet auch eine online-Version seiner Werke (unter sks.dk).

Von den deutschen Übersetzungen ist diejenige von Emanuel Hirsch und seinem Schüler Hayo Gerdes leider nur mit Vorbehalt benutzbar, weil vor allem Hirsch dazu neigt, Kierkegaards wohlklingendes Dänisch in ein altertümliches und zuweilen umständliches Deutsch zu übertragen. In seiner Manie, Fremdwörter zu vermeiden, hat er immer wieder zu seltsamen Wortbildungen gegriffen (wie z. B. »Fragmal« für »Problem« oder »sintemal« für »weil« oder »da«).23 Deshalb ziehen wir in diesem Buch, wo immer das möglich ist, andere Übersetzungen heran.

Wer Kierkegaard kennenlernen will, muss sich zunächst einen Überblick verschaffen, was zu seinem Gesamtwerk gehört. Dabei wird eine innere Gliederung, eine in rascher Folge entfaltete Konzeption und Komposition erkennbar. Je nachdem, welches Werk wir als Ausgangspunkt wählen und wie wir das Verhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen bestimmen, wird die Perspektive sein, aus der wir an Kierkegaards Texte herangehen. Insofern hängt es vom Zugang des Lesers ab, welcher geisteswissenschaftlichen Disziplin man diesen Autor zuordnet. Und diese Zuordnung beeinflusst wiederum die Art und Weise, wie Kierkegaard gelesen und rezipiert wird.

Zwei Lesarten Kierkegaards – ein kurzer Rückblick auf die Rezeptionsgeschichte

Nun mag der Eindruck entstanden sein, als ob wir ohne Vorbedingung wählen könnten, wie wir uns Kierkegaards Werk nähern. Das ist jedoch nicht der Fall, weil wir nicht die Ersten sind, die seine Texte lesen. Unser Zugang zu ihnen erfolgt auf dem Hintergrund einer verzweigten Rezeptionsgeschichte, in der sich im Wesentlichen zwei Ansätze der Interpretation |31| herausgebildet haben. Beide wirken bei der Lektüre gewissermaßen wie Lesebrillen, und je nachdem, welche Brille wir aufsetzen, werden wir Kierkegaard in einem bestimmten Licht sehen und ihn als Autor so oder so auffassen. Deshalb kann die Übersicht über das Gesamtwerk nicht ohne einen kurzen Rückblick auf seine philosophische und theologische Rezeption in den vergangenen Jahrzehnten auskommen.24

Nach dem ersten Ansatz liest man seine Texte als Dokumente eines subjektiven Denkens oder einer subjektiven Wahrnehmung des Menschen. Diese bis heute weit verbreitete Lesart wird von Sozialphilosophen und liberalen Theologen vertreten. Sie fasst Kierkegaard als Exponenten einer »weltlosen Innerlichkeit« (Th. W. Adorno) und einer monadischen Subjektivität (E. Levinas) bzw. als Fürsprecher eines radikal religiösen Individualismus und eines persönlichen Christentums, das sich von der Kirche als sozialer Institution und Organisation abgelöst hat (H. L. Martensen, E. Troeltsch, E. Hirsch).

Für den zweiten Interpretationsansatz sind Kierkegaards Texte als Mitteilungen eines intersubjektiven Denkens oder einer intersubjektiven Wahrnehmung des Menschen zu lesen. Diese Lesart hat sich inzwischen bei maßgebenden Kierkegaard-Interpreten sowohl in der Philosophie (M. Theunissen) wie in der Theologie (G. Pattison, A. Grøn, H. Deuser) durchgesetzt; sie wurde aber in Deutschland bisher nur unzureichend zur Kenntnis genommen. So erscheint Kierkegaard hierzulande immer noch oft als weltfremder eigensinniger Individualist, der für ein Christwerden des Einzelnen ohne Kirche eintritt – ein Zerrbild, das den unbefangenen Zugang zu seinem Werk verstellt. Liest man indessen seine Schriften und Reden als Zeugnisse intersubjektiven Denkens, erschließt sich die Eigenart seines Denk- und Redestils. Sie ist darin begründet, dass Kierkegaard den Menschen stets in den Relationen Ich – Gott – Du wahrnimmt. Das zwischenmenschliche Verhältnis oder das Verhältnis des einzelnen Menschen zum anderen ist demnach kein unmittelbares, sondern stets ein durch Gott als »Zwischenbestimmung« (mellembestemmelsen) vermitteltes Verhältnis. Ihm kann nur eine doppelt reflektierte, d. h. zugleich auf das Was (den Inhalt) und das Wie (die Aneignung durch den Adressaten) reflektierende Mitteilungsform entsprechen. Diese Form nennt Kierkegaard »indirekte Mitteilung«. Sie lässt dem Adressaten jederzeit die Freiheit, sich so oder so zu ihr zu verhalten. Anders |32| als eine direkte Mitteilung oder Information, die sich auf Sachverhalte bezieht und richtig oder falsch sein kann, ist die indirekte Mitteilung diejenige Mitteilungsform, die bei ethisch-religiösen Fragen erforderlich ist, bei denen es um den Sinn menschlicher Existenz geht. Die indirekte Mitteilung hält, worauf Kierkegaard größten Wert legt, die Subjektivitäten gottesfürchtig auseinander. Sie respektiert, dass jeder Mensch sich als Einzelner zu Gott verhält und es im Verhältnis zum anderen immer zugleich mit Gott zu tun hat, der ihm im anderen als dem Nächsten begegnet.

Zu der eben skizzierten Rezeptionsgeschichte Kierkegaards gehört es nun auch, dass die erbaulichen Reden in Deutschland, ähnlich wie in Dänemark, wenig gelesen werden, während die pseudonymen Schriften seit je bei der Leserschaft größeres Interesse finden. Erst in jüngster Zeit werden die erbaulichen Reden von der theologischen Forschung stärker beachtet (G. Pattison, A. Haizmann). So könnte es sein, dass gerade die Beschäftigung mit ihnen zu einem besseren Verständnis Kierkegaards führt. Denn sein intersubjektiver Denk- und Redestil zeigt sich besonders an den Reden, die von vornherein auf die selbsttätige Rolle des Lesers setzen und ihr die Subjektivität des Autors konzeptionell unterordnen.

Was hat Kierkegaard mit Philosophie zu tun?

Es ist weithin üblich, Kierkegaard der Philosophie zuzuordnen. Das geschieht mit einem gewissem Recht, insofern er Bücher geschrieben hat, die schon mit ihrem Titel, ihrer Problemstellung und ihrem Aufbau zu verstehen geben: Hier geht es um Themen der Philosophie, hier wird grundsätzlich über Fragen des Menschseins nachgedacht. Bücher wie »Entweder-Oder«, »Philosophische Brocken«, »Der Begriff Angst« und »Die Krankheit zum Tode« bedienen sich einer Begrifflichkeit, die weithin aus der Philosophie des deutschen Idealismus, vor allem Hegels, übernommen ist. Sie setzen sich auseinander mit Denkern und Gedanken, die uns aus der Geschichte der abendländischen Philosophie bekannt sind, angefangen mit Sokrates, Platon und Aristoteles. Schließlich folgen manche Schriften Kierkegaards in Aufbau und Gedankenführung einer strengen Systematik, was spätere Philosophen dazu veranlasst hat, sich gerade auf sie zu berufen. Karl Jaspers und Martin Heidegger haben »Der Begriff Angst« und »Die Krankheit zum Tode« besonders hoch geschätzt, weil Kierkegaard darin seine Anschauung vom Menschsein mit größerer begrifflicher Klarheit und Folgerichtigkeit als in anderen Schriften entfaltet. Dennoch ist die Zuordnung Kierkegaards zur Philosophie problematisch, ja in mehrfacher Hinsicht irreführend und falsch.

|33| Gewiss lässt sich aus seinen Schriften so etwas wie eine Existenzphilosophie entwickeln; mehrere Philosophen des 20. Jahrhunderts (Karl Jaspers, Martin Heidegger, Jean-Paul Sartre) haben das auch getan. Andere, wie z. B. der dänische Kierkegaard-Forscher Eduard Geismar, haben Kierkegaards Lebensphilosophie zu beschreiben versucht.25 Aber das beweist nicht, dass das Werk von Kierkegaard solche philosophischen Anliegen verfolgt oder dass Kierkegaard darin nichts weiter als eine bestimmte philosophische Konzeption vertritt. Die Existenzphilosophen haben die menschliche Existenz unabhängig vom christlichen Glauben verstanden. Damit haben sie Kierkegaards Existenzbegriff auf den Bereich des humanen Selbstverständnisses reduziert und die Pointe seines Werkes verfehlt. Denn Kierkegaard geht es um »Existenz im Glauben« (Liselotte Richter), nicht ohne den Glauben. Er will seine Leser zu der Erkenntnis führen, dass kein Mensch von sich aus um die Wahrheit seiner Existenz weiß, weil er in der Unwahrheit, in verzweifelter Fixierung auf sich selbst existiert. Erst wer sich im Verhältnis zu Christus als Sünder verstehe, könne sich selbst verstehen. Der Haupteinwand gegen die Existenzphilosophie ist also, dass hier Existenz ohne die für Kierkegaard entscheidende Bestimmung der Sünde begriffen wird. Sie verliert ihr religiöses Zentrum: die Vergebung der Sünden als Bedingung der Möglichkeit, sich in Wahrheit zu verstehen. Wo dies nicht als Dreh- und Angelpunkt festgehalten wird, ist Kierkegaards Werk missverstanden.

Nicht weniger problematisch erscheint es mir, ihm eine »Philosophie ohne Systemzwang«26 zuzuschreiben. Mit dieser von der neueren Forschung angeregten Deutung hebt der Theologe und Religionsphilosoph Hermann Deuser zwar zu Recht hervor, dass Kierkegaard dem systematischen Denken in der Schule Hegels ein antisystematisches Denken entgegengesetzt hat, das sich auf die Existenz des Einzelnen bezieht. Wenn aber daraus abgeleitet wird, diese Philosophie erlaube es, »Wirklichkeit […] in einem offenen Prozeß zu bestimmen«,27 wird Kierkegaard doch wieder, freilich auf subtile Weise, einem systematischen Denkzusammenhang eingefügt und als Theoretiker interpretiert, der einem philosophischen Programm verpflichtet war. Ein Theoretiker hat der Däne aber nicht sein wollen, sondern bewusst die literarische Form gewählt, um seinen Leser, den Einzelnen, zu einer existenziellen |34| Auseinandersetzung mit der Tradition des christlichen Glaubens zu bewegen. Deuser bemerkt selbst, dass Kierkegaard das Dichterische bzw. die Literatur zu seiner »Lebensform« gemacht habe.28 Das legt den Schluss nahe, sein Werk als eine Art von Literatur zu verstehen, die es mit dem Religiösen, genauer: mit dem Menschlichen und dem Christlichen, zu tun hat. Diese Form steht im Dienst einer doppelten Intention, die das Gesamtwerk der Schriften und Reden verfolgt: auf das Christliche aufmerksam zu machen und zu erbauen. Herauszuarbeiten wäre also, weshalb Kierkegaard keine objektiv philosophische Abhandlung über menschliche Existenz geschrieben hat, sondern dichterische Fiktionen braucht, die den Leser mit Existenzmöglichkeiten konfrontieren. Welche literarischen Gattungen oder Textsorten verwendet er, um dieses Ziel zu erreichen?

 

Drei verschiedene Textsorten

Betrachtet man das Werk als ganzes, so legt sich rein formal eine Einteilung in drei verschiedene Textsorten nahe (zu denen gelegentlich, aber nicht durchgehend noch eine vierte Textsorte hinzukommt):

a) Die erste Gruppe bilden die pseudonymen Schriften von »Entweder-Oder« bis zu »Einübung im Christentum«. Ein Pseudonym hat für Kierkegaard sozusagen die Funktion einer literarischen Maske: Der Autor verbirgt sich hinter einer Maske, weil er die Rolle eines anderen spielen und nicht mit diesem identifiziert werden will. Kierkegaard greift zu diesem – in der romantischen Literatur beliebten – Gestaltungsmittel, um den Leser zu veranlassen, sich mit Problemen der individuellen menschlichen Existenz zu beschäftigen, d. h. mit Aufgaben, die jedem Menschen durch sein konkretes Dasein als Lebensaufgaben gestellt werden. Bei der Lösung – oder vorsichtiger: bei der Bearbeitung – dieser Aufgaben sind allgemeine und objektive Wahrheiten nur begrenzt von Nutzen. Wichtiger sind beispielhafte Figuren, Personen, an denen sich zeigt, auf welche Weise Menschen sich in ihrer Existenz verstehen, kurz: wie sie ihr Leben wahrnehmen und führen. Und dem Autor Kierkegaard liegt daran, dass sein Leser sich in die Lage fiktiver Figuren versetzt, gewissermaßen in ihre Rolle schlüpft, um an ihnen Möglichkeiten menschlicher Existenz zu erkunden. Zu diesem Zweck wählt Kierkegaard Pseudonyme, die schon durch ihre Eigenart neugierig machen, die Phantasie ansprechen und zum Nachdenken herausfordern: Victor Eremita, der |35| siegreiche Einsiedler, oder Johannes de Silentio, Johannes vom Schweigen, oder Hilarius Buchbinder, der heitere Buchbinder. Das Spielerische, die Vielfalt literarischer Formen, die hochreflektierten Anspielungen, Verschachtelungen, Einschübe, Mystifikationen, die uns in den pseudonymen Schriften begegnen, sind kunstvolle Mittel, die allesamt den Leser zur Selbsttätigkeit bewegen. Der Leser muss selbst herausfinden, was ihn angeht. Darin besteht offenbar Kierkegaards Methode in den pseudonymen Schriften: Wahrheiten menschlicher Existenz so darzustellen, dass der Leser sich dazu verhalten muss. In diesem Zusammenhang entwickelt er seine Kategorien der Existenz bzw. des Sich-in-Existenz-Verstehens und seine Lehre von den Stadien (ästhetisch – ethisch – religiös), die verschiedene Existenz- oder Lebensweisen beschreiben.

Liest man die pseudonymen Schriften fortlaufend im Zusammenhang, so wird erkennbar, dass es darin um ethisch-religiöse Wahrheiten geht, deren Eigenart darin besteht, dass sie »sich auf keinen Fall direkt mitteilen lassen. Es reicht nicht aus, dass sie einem erklärt werden oder dass man sie auf irgendeine äußerliche Art und Weise mitgeteilt bekommt. Denn ihre Pointe liegt darin, dass man sie persönlich verwirklichen, sie in der eigenen Existenz realisieren muss. Man muss sie sich aneignen oder: »Man muss sie als seine eigene Wahrheit wählen, für die man auch einsteht«.29 Deshalb schließt Kierkegaards erstes pseudonymes Buch »Entweder-Oder« mit dem Satz: »Nur die Wahrheit, die erbaut, ist Wahrheit für dich.«30 Die Person des Autors soll den Leser nicht davon ablenken, diese Wahrheit zu wählen, und darum verbirgt sich der Autor dort, wo er ihn in die Beschäftigung mit ethisch-religiösen Wahrheiten verwickeln will, hinter einem Pseudonym.

b) Daneben steht in Kierkegaards Werk eine zweite Gruppe: das sind die erbaulichen Reden, die gelegentlich auch als fromme, religiöse oder christliche Reden bezeichnet werden. Seine Interpreten haben den Reden oft nur wenig Beachtung geschenkt. Das hat zur Folge, dass sie sich darüber täuschen, wie viel Kierkegaard daran liegt, sein Verständnis des religiösen Lebens so zu formulieren, dass der Leser ein von Grund auf anderes Verhältnis zum ganzen Leben gewinnt und die Sorgen und Leiden des Lebens vom religiösen Ausgangspunkt, nämlich vom Glaubensverhältnis zu Gott aus wahrnimmt. Und das geschieht in den erbaulichen Reden, anders als in den pseudonymen Büchern, stets im Anschluss an biblische |36| Texte, denen Kierkegaard einen Leitgedanken entnimmt, ohne philosophische Erörterungen und Anmerkungen.

Die Reden sind der Form nach Lesepredigten, die sich dezidiert an »den Einzelnen« wenden. Sie stimmen mit den Schriften darin überein, dass Existenzwahrheit sich nur indirekt mitteilen lässt. Insbesondere die späten Reden, die im Titel als »christliche Reden« bezeichnet werden, machen jedoch das Christliche autoritativ als Forderung geltend. Sowohl wegen ihrer Anzahl – wenn ich richtig gezählt habe, sind es 94 Reden – als auch wegen der Tatsache, dass sie von Anfang an parallel zu den pseudonymen Schriften veröffentlicht wurden, kann man nicht gut behaupten, Kierkegaard habe überwiegend pseudonyme Schriften philosophischen Inhalts geschrieben. Wenn wir uns die Chronologie der Werke genau ansehen, fällt auf, dass die erbaulichen Reden zunehmen und die pseudonymen Werke proportional zurücktreten. Die letzte Schrift, die Kierkegaard unter einem Pseudonym veröffentlicht hat, »Einübung im Christentum«, hat sich der Textsorte »erbauliche Rede« so weit angenähert, dass man hier beinahe von einer Sammlung erbaulicher Reden sprechen kann.31 Dies passt zu der Beobachtung, dass die pseudonymen Werke inhaltlich eindeutig zum Christlichen hin tendieren. Für »Die Krankheit zum Tode« und »Einübung im Christentum« hat Kierkegaard dasselbe Pseudonym »Anti-Climacus« gewählt. In einer Tagebuchnotiz Ende Juni 1849 schreibt er dazu, im Gegensatz zu »Climacus«, »der von sich selber sagte, er sei kein Christ«, bezeichne »Anti-Climacus« »das entgegengesetzte Extrem: ein Christ in außergewöhnlichem Maße«.32

Das Thema, zu dem Kierkegaard in den pseudonymen Schriften seine Leser hinführen will, ist also das Religiöse, genauer: das Christliche, und demselben Thema sind von Anfang an die erbaulichen Reden gewidmet. Um erst einmal das Interesse der Leser zu wecken, setzt er ästhetisch-literarisch ein.33 Aber die ästhetischen Werke (so fasst Kierkegaard selbst seine pseudonymen Bücher auf) sind in der Summe nicht auf das Ästhetische, sondern auf das Religiöse ausgerichtet, d. h. darauf, wie man zugleich in Beziehung zur Welt und in Beziehung zu Gott leben kann. Das Verhältnis von erbaulichen Reden und pseudonymen Schriften muss daher anders bestimmt werden als es in der philosophischen (und teilweise auch der |37| theologischen) Kierkegaard-Rezeption vielfach üblich war. »Die Reden sind das Hauptwerk Kierkegaards, die pseudonymen Schriften: dialektische Protreptik, psychologische, ästhetische, ethische und religiöse Klärung und Annäherung.«34 Folglich wird Kierkegaard missverstanden, wenn man ihn ohne weiteres den Philosophen zurechnet. Und obwohl er seiner Ausbildung nach evangelisch-lutherischer Theologe war, lässt sich sein Werk aus Gründen, die ich noch erörtern werde, auch nicht als theologisches Werk bezeichnen.35 Kierkegaard selbst bezeichnet sich als religiösen Schriftsteller, dessen »gesamte Wirksamkeit als Schriftsteller in einem Verhältnis zum Christentum steht«.36 Diese Bezeichnung ist seinem Selbstverständnis, der literarischen Eigenart und dem sein gesamtes Werk bestimmenden Thema am angemessensten, und deshalb sollten wir uns an sie halten.

c) Nun muss auf eine dritte Gruppe in Kierkegaards Werk eingegangen werden, die im Unterschied zu den pseudonymen Schriften und den erbaulichen Reden nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren: die Tagebücher und Briefe. Die Tagebücher umfassen in der dänischen Ausgabe 16 Bände (2. Aufl. hrsg. von Niels Thulstrup, Kopenhagen 1968–1978); deutsche Leser müssen sich vorläufig37 noch mit einer fünfbändigen Auswahl von Hayo Gerdes begnügen. In den Tagebüchern finden sich biografische Notizen und Aufzeichnungen, Bemerkungen zu Personen und eigenen publizierten Schriften, aber auch Entwürfe zu Werken, die Kierkegaard nicht weiter ausgeführt hat. Zu diesen Werken gehören die vorhin erwähnte unvollendete, posthum veröffentlichte Schrift »Johannes Climacus oder de omnibus dubitandum est«,38die Kierkegaard in den |38| Jahren 1842/43 geschrieben hat, und Entwürfe zu einer »christlichen Redekunst«.39

Eine frühe Tagebuchaufzeichnung von 1835 will ich ausführlicher zitieren, weil sie uns etwas über Kierkegaards Sehnsucht nach einer das ganze Leben bestimmenden Existenzwahrheit und sein Motiv als Schriftsteller, aber auch über sein Verhältnis zur Philosophie verrät:

»Es kommt darauf an, zu verstehen, was meine Bestimmung ist, zu sehen, was die Gottheit eigentlich will, das ich tun soll; es gilt, eine Wahrheit zu finden, die Wahrheit ist für mich, eine Idee, für die ich leben und sterben kann. Was nützte es mir, wenn ich eine sogenannte objektive Wahrheit fände, wenn ich mich durch die Systeme aller Philosophen hindurcharbeitete und über sie alle Revue halten könnte? Was nützte es mir, wenn ich eine Welt konstruieren könnte, eine Totalität der Erkenntnis, in der ich selbst doch nicht lebte, sondern die ich nur als Schaustück anderen hinhielte, was nützte es mir, wenn ich die Bedeutung des Christentums entwickeln könnte, wenn es dann doch für mich selbst keine tiefere Bedeutung hätte?«40

Die rhetorische Stilisierung mit einer Anapher, der zweimal wiederholten Frage »Was nützte es mir?«, lässt erkennen, dass hier ein Ausspruch Jesu meditiert wird: »Was wird es einem Menschen nützen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dafür aber sein Leben einbüßt?« (Mt 16,26 parr). Hier hat der Autor sich selbst in Jesu Rede vom Menschen hineingelesen.

Kierkegaards Briefe sind in deutscher Übersetzung in der Werkausgabe von Emanuel Hirsch41 und in einer von Walter Boehlich herausgegebenen Auswahl42 zugänglich. Kierkegaard liebte es nicht, sich einem anderen wirklich mitzuteilen; kein Mensch habe ihm ins Innere sehen dürfen, bemerkt er einmal.43 Man braucht nur die Briefe an seine Verlobte Regine Olsen und an seinen Freund Emil Boesen zu lesen, um von ihrem Autor den Eindruck zu bekommen, dass er sich niemals unmittelbar geben kann, sondern immer reserviert bleibt, selbst in den vertraulichsten Briefen. Dennoch enthalten manche seiner Briefe aufschlussreiche Geständnisse.

|39| d) Ein paar wenige Schriften Kierkegaards lassen sich allerdings keiner der drei genannten Gruppen zuordnen. Es handelt sich um Schriften, die er unter seinem eigenen Namen publiziert hat.44

 

Für Kierkegaards weitere Autorschaft als religiöser Schriftsteller enthält die Magisterarbeit einige grundlegende Ausführungen. Kierkegaard setzt sich darin mit zwei einflussreichen geistigen Strömungen seiner Zeit auseinander: der Philosophie Hegels und der Romantik. Dabei gilt jedoch sein Hauptinteresse Sokrates, dem griechischen Weisen und ersten Ironiker der Geschichte, der ihm später zum Vorbild wird. »Sokrates ist der Lehrer, der niemals den anderen mit einem Resultat abspeist, sondern ihn im Gespräch dahin führen will, die Erkenntnis, um die es geht, als seine eigene auszusprechen.«45 Für Kierkegaard ist die sokratische Einsicht vorbildlich, dass Existenzwahrheit nicht objektiv erkannt und nicht direkt mitgeteilt werden kann wie ein positives Wissen. Wie Sokrates macht er darum die Ironie geltend gegenüber denjenigen, die sich im Besitz von großartigen Ergebnissen der Wissenschaft wähnen und völlig vergessen, »dass ein Ergebnis doch keinerlei Wert hat, wenn es nicht selbst erworben worden ist«.46 Dies sind in Kierkegaards Augen die Anhänger Hegels, die sich Hegels Philosophie nicht wirklich angeeignet haben. Sie erscheinen ihm auf fatale Weise als Repräsentanten ihrer Zeit, weil sie vor lauter Spekulation handlungsunfähig und gleichgültig gegenüber dem Ethischen sind. Die Ironie, so behauptet er in seiner Magisterarbeit, lehre dagegen, »die Wirklichkeit zu verwirklichen, gerade dadurch, dass sie den gebührenden Nachdruck auf die Wirklichkeit legt«.47

Die romantische Ironie interessiert Kierkegaard, weil der Romantiker der ganzen Wirklichkeit als Zuschauer gegenübersteht und sich gegen eine enge, in bürgerlicher Konvention erstarrte Welt wendet, um Raum zu gewinnen für ein Leben, in dem alles möglich ist, ein Leben in Freiheit und innerer Wahrhaftigkeit. Dieses Ideal muss Kierkegaard zumindest zeitweise |40| sympathisch gewesen sein. »Der Romantiker«, sagt er, »will poetisch leben um jeden Preis, er will selbst sein Leben erdichten«.48 Aber seiner Ironie sei es mit nichts ernst, er fliehe vor der Verantwortung. Daran entzündet sich nun Kierkegaards Kritik: Er wirft der Romantik vor, dass sie sich um den höchsten Genuss der wahren Seligkeit bringt, »wo das Subjekt nicht träumt, sondern in unendlicher Klarheit sich selbst gehört, sich selbst völlig durchsichtig ist; denn das ist erst dem religiösen Individuum möglich«.49 Poetisch leben bedeute daher etwas anderes als das, was die Romantiker damit verbinden. Es »heißt nicht, sich selber dunkel zu werden, in widerwärtiger Schwüle über seinem Selbst zu brüten, sondern es heißt, sich selbst durchsichtig und klar zu werden, nicht in irdischer, egoistischer Zufriedenheit, sondern in seiner absoluten und ewigen Gültigkeit«.50 Liest man Kierkegaards spätere Schriften, so gewinnt diese Bemerkung aus dem »Begriff der Ironie« geradezu programmatische Bedeutung für sein gesamtes folgendes Werk. Sich selbst durchsichtig zu werden, das ist für Kierkegaard gleichbedeutend damit, ein Mensch zu sein, und dazu will er als Autor seinen Lesern verhelfen in dem Bewusstsein, dass es nur dem religiösen Individuum möglich ist, jene Klarheit über sich selbst zu gewinnen, ohne zu verzweifeln oder wie der Romantiker dem Nihilismus zu verfallen.

Die kleine Schrift »Eine literarische Anzeige« ist eine Buchbesprechung, die ich hier übergehe. Von größerer Bedeutung sind »Das Buch Adler« und »Der Augenblick«. Den Fall eines Bornholmer Pastors, Magister Adolph Peter Adler, der sich auf eine persönliche Christusoffenbarung berufen hatte und deswegen von seiner Kirchenleitung zur Rechenschaft gezogen worden war, nimmt Kierkegaard im Jahr 1847 zum Anlass, seinen Begriff des Einzelnen zu klären. Es gibt für ihn den ordentlichen Einzelnen, der als Glied eines Gemeinwesens seine Verantwortung vor Gott wahrnimmt, und den außerordentlichen Einzelnen, den ein Ruf Gottes aus der Gesamtheit ausgesondert hat. Dieser Außerordentliche stellt das Bestehende in Frage, deshalb wird sein Auftreten als Störung empfunden. Der außerordentliche Einzelne ist bereit, sich selbst zu opfern, anders kann er seiner Bestimmung, das Bestehende umzuschaffen, nicht treu bleiben. Pastor Adler war daran aus Kierkegaards Sicht gescheitert. Von Bischof Mynster eingehend befragt, hatte er schließlich seinen Anspruch, ein Berufener zu sein, aufgegeben. Deswegen habe die Kirchenleitung recht gehabt, ihn 1844 von seinem Amt auszuschließen. |41| Für Kierkegaard war der Fall Adler ein Memento und ein Symptom dafür, dass man in der »geographischen Christenheit« Christ sein und sogar Pastor werden konnte, ohne eigentlich zu wissen, was Christwerden bedeutete.51 Adler habe nicht begriffen, dass ein qualitativer Unterschied zwischen einem Apostel und einem Genie bestehe, sonst hätte er an seiner göttlichen Berufung und Vollmacht unter allen Umständen festgehalten und auf die staatliche Pension verzichtet, die ihm einen beschaulichen Ruhestand gewährte. Der wahre Außerordentliche ist allein um seine Instruktion und sein Verhältnis zu Gott bekümmert; er kann in der Gewissheit der Ewigkeit Leib und Leben für seine Sache wagen.52