Das Wagnis, ein Einzelner zu sein

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Die indirekte Mitteilung

Auf dem Weg der Annäherung an Kierkegaards Leben sei noch einmal die Frage gestellt, warum sich dieser »erbauliche Schriftsteller« mit seinem Leben und seiner Person dem Leser immer wieder entzieht und für seine Mitwelt wie Nachwelt zum Rätsel wird. Warum spielt er für die Kopenhagener Öffentlichkeit den Dandy? Wozu braucht er für seine großen Schriften Pseudonyme? Ist das ein harmloses Versteckspiel, oder hat es vielleicht Methode?

Ja, es hat sokratische Methode, denn Kierkegaard hat von dem »Weisen des Altertums« gelernt, dass es darauf ankommt, den Gesprächspartner nicht mit fertigen Erkenntnissen abzufertigen, sondern ihn am Entstehen einer Erkenntnis zu beteiligen, und zwar so sehr, dass es am Ende scheine, als habe der Partner selber die Erkenntnis gefunden. Diese dialektische Kunst der »indirekten Mitteilung« praktiziert Kierkegaard im Dialog mit seinen Lesern. Sie sollen nicht fertige Kost serviert bekommen, sondern selbst beim Lesen mit ihrer Phantasie, mit ihrem Verstand, mit ihrem Glauben aktiviert werden. Es gibt dafür heute einen Begriff, der so voluminös klingt, dass Kierkegaard ihn bei seinem Achten auf einfache, nächstliegende Worte niemals gebraucht hätte: »Rezeptionsästhetik« (W. Iser u. a). Die Rezeptionstätigkeit der Leser gilt es beim Schreiben zu aktivieren, damit sie an dem gelesenen Text mitschaffen und ihn so zu ihrem eigenen Text, zu ihrer eigenen Sache machen.

Wenn das die Hauptsache ist, muss Kierkegaard mit seinem Leben und mit seiner Person zur Nebensache, ja eigentlich überflüssig werden. Zuweilen könnte er sogar ein Hindernis dafür werden, dass die Sache zu den Lesern gelangt. Es kommt ja darauf an, den geneigten Leser zu gewinnen und mit ihm gemeinsame Sache zu machen. Deshalb gilt es zu verhindern, dass der Leser mit seinen Gedanken am Autor hängenbleibt und die Gründe für das Geschriebene im Leben des Autors sucht, in dessen Verliebtheit vielleicht oder in dessen Schwermut oder in sonst etwas. Das lässt die gelesene Sache nur bedingt beim Leser ankommen. Kierkegaard aber will den Leser »erbauen« und d. h. heilsam vereinzeln und zu sich selbst kommen lassen, damit er Abstand zum Gebrüll der Massen bekomme und sich sein eigenes Urteil bilde.

|17| Und doch ist das nur die halbe Wahrheit, denn die Sache hat, wie so oft bei Kierkegaard, noch einmal eine andere Seite, die sich schon andeutet, wenn der 23-Jährige in sein Tagebuch schreibt: Es gilt »die Idee zu finden, für die ich leben und sterben will«.12 Wer so existentiell fragt und die Subjektivität zur Wahrheit erhebt, der kann gar nicht an seinem Leben vorbei, sondern muss stets durch sein Leben hindurch denken. Das zeigt sich, wenn Kierkegaard alle seine erbaulichen Reden seinem verstorbenen Vater widmet, so lenkt er den Blick des Lesers auf das Verhältnis des Sohnes zum Vater. Er wirft beim Leser die Frage auf, was dieser Vater für diesen Schriftsteller bedeutet. Subtiler ist es mit den vielen versteckten Anspielungen auf seine ehemalige Verlobte Regine Olsen, die den kundigen Leser nachdenklich machen und fragen lassen, welche Rolle diese Frau im Leben Kierkegaards spielt. Diese und viele andere Anspielungen machen deutlich, wie das Leben |18| bei Kierkegaard zum Stoff eines existenziellen Denkens geworden ist. Deshalb ist es unerlässlich, dieses Leben wenigstens in seinem Grundriss und in wenigen Daten kennen zu lernen.

Kierkegaards Biografie in wenigen Daten

 5.5.1813 geboren als 7. Kind von Michael Pedersen Kierkegaard und seiner Ehefrau Anne Sörensdatter Lund

 30.10.1830 Immatrikulation an der Universität Kopenhagen

 31.7.1834 Tod der Mutter / 8.8.1838 Tod des Vaters

 3.7.1840 Theologische Staatsprüfung

 10.9.1840 Verlobung

 29.9.1841 Verteidigung der Magisterarbeit vor der Fakultät

 11.10.1841 Entlobung

 25.10.1841 Abreise nach Berlin/ Rückkehr am 6.3.1842

 1845/46 Fehde mit der satirischen Zeitschrift »Der Corsar«

 30.1.1854 Tod von Bischof Mynster;

 5.2.1854 Gedächtnisrede von Professor Hans Lassen Martensen auf Bischof Jacob Peter Mynster

 18.12.1854 Kampfartikel Kierkegaards in der Zeitung »Faedreland«: »War Bischof Mynster ein Wahrheitszeuge?«

 1855: Kampf gegen die dänische Staatskirche mit Zeitungsartikeln und Flugblättern »Der Augenblick«

 11.11.1855 Kierkegaards Tod im Frederikshospital zu Kopenhagen

Die wenigen Daten erwecken vielleicht den Eindruck, dass die 42 Jahre von Kierkegaards Leben doch wenigstens in den ersten 25 Jahren ziemlich ruhig und beschaulich in Kopenhagen verlaufen seien: Jüngstes Kind einer kinderreichen Familie, Vater ein Wollwarenhändler, der es zu einigem Reichtum im Laufe des Lebens gebracht hat, so dass der Sohn nach einem elfjährigen Theologiestudium samt Prüfungen und Magisterexamen es sich leisten konnte, nicht ins Pfarramt zu gehen, sondern von dem ererbten Vermögen seines Vaters als freier Schriftsteller zu leben und eine Menge Bücher zu schreiben. Berühmt machte ihn gleich sein erstes Werk »Entweder-Oder«, das in den literarischen Kreisen Kopenhagens großen Beifall fand. Neben der ersten Berlinreise wären noch drei kürzere Berlinreisen zu nennen und eine Reise nach Nord-Jütland, wo sein Vater 1756 geboren worden war. Schließ-lich gab es noch ein paar Ausflüge an die Nordspitze Seelands und nach Jütland. Das war aber schon die ganze Reise- und Ausflugstätigkeit Kierkegaards, insgesamt nicht einmal ein ganzes Jahr in seinem Leben.

|19| Wo liegt das Aufregende und Rätselhafte dieses Lebens, das so unendlich viele Biografien und Abhandlungen über Kierkegaards Leben hervorgebracht hat, wie z. B. die jüngste Biografie des Dänen Joakim Garff, die im Jahr 2000 in Kopenhagen und 2005 in Deutschland erschien und nahezu 1000 Seiten umfasst. Das Aufregende an Kierkegaards Leben deutet sich bereits in drei so dürren Daten an wie: 1841 Entlobung, 1846 Fehde mit der satirischen Zeitschrift »Der Corsar«; 1855 »Kampf gegen die dänische Staatskirche«. Das sind gleichsam die Explosionen in Kierkegaards Leben. Doch auch diese Daten offenbaren noch nicht sehr viel, zumal heute eine »Entlobung« gleichgültig zur Kenntnis genommen oder gar als Glücksfall zur Verhinderung einer unglücklichen Ehe angesehen wird. Das wahrhaft Explosive ereignete sich bei Kierkegaard eher als Implosion, d. h. nach innen gerichtete Katastrophe eines durch und durch reflektierten Lebens, an dessen Verlauf wir vor allem in Gestalt von Tagebüchern – in der deutschen |20| Auswahlausgabe sind es fünf Bände mit fast 2000 Seiten – und einem schmalen Briefband teilhaben dürfen. Diese Texte wie auch die pseudonymen Schriften und Reden Kierkegaards lassen durchscheinen, wie viel Schmerzen und Anfechtung, welche Höhen und Tiefen, wie viel Begeisterung und Leidenschaft sich in einem Leben ereignen können.

Neben den Lehrern und Freunden der Universität, neben den Angehörigen der Familie, neben so manchen anderen Kopenhagenern aus näherer und fernerer Umgebung sind es vor allem zwei Personen, um die Kierkegaards Reflektieren wieder und immer wieder kreist: 1. Sein Vater und 2. seine Verlobte. Der eine war ihm seit dem 8.8.1838 durch den Tod, die andere durch eine von ihm selbst betriebene rätselhafte Entlobung seit dem 11.10.1841 entzogen. Dieser Entzug löste aber in Kierkegaard einen umso stärkeren Bezug der Reflexion zu beiden aus, weil er beide in einer »Erinnerung nach vorn« (Lothar Steiger), in Richtung auf Ewigkeit, stets innerlich vor Augen hatte. Dieser Bezug ging so weit, dass sich im Tagebuch am 27.3.1848 die Notiz findet:

»Jetzt, da ich mich so gänzlich darin verstehe, ein einsamer Mensch zu sein, ohne Verhältnis zu irgendjemandem, mit tiefen Schmerzen in meinem Innern, nur mit einem einzigen Trost: Gott, der Liebe ist; mit Verlangen nur nach einem einzigen Freund, auf daß ich ganz ihm gehöre, dem Herrn Jesus Christus; mit Sehnsucht nach einem verstorbenen Vater; schlimmer als durch den Tod getrennt von dem einzigen lebenden Menschen, den ich in entscheidendem Sinn geliebt habe.«13

Es ist auffällig, dass die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Vater ebenso wie die Sehnsucht nach seiner ehemals Verlobten, die er nicht einmal beim Namen zu nennen wagt, mit Kierkegaards glühendem Glauben an den »Gott, der Liebe ist«, und mit seinem Verlangen nach Jesus Christus, der sein einziger Freund ist, verbunden sind. Die Sehnsucht nach seinem verstorbenen Vater begleitete Kierkegaard ein Leben lang so stark, dass er ihm, wie bereits angedeutet, fast alle seine »Erbaulichen Reden« widmete: »Dem verstorbenen Michael Pedersen Kierkegaard, weiland Wollwarenkrämer hier in der Stadt, meinem Vater, seien diese Reden gewidmet«.14 Die Sehnsucht nach Regine, seiner ehemals Verlobten, ging so weit, dass sich in seinem Testament die Notiz fand: »Die unbekannte Person, deren Name einmal genannt werden wird, der das ganze Werk gewidmet ist, ist meine |21| frühere Verlobte: Frau Regine Schlegel«.15 Fragen wir also, was Kierkegaard ein Leben lang so innig an seinen Vater gebunden hat, und fragen wir zum anderen, was ihn noch viel inniger ein Leben lang an Regine gebunden hat, von der er sich doch durch eine Entlobung getrennt hatte.

Der Vater

Michael Pedersen Kierkegaard stammte aus ärmlichen Verhältnissen in Jütland. Die bittere Armut seiner Heimat muss ihn schon als kleines Kind so sehr verbittert haben, dass er als Hütejunge an einem frostigen Herbsttag auf einen Hügel stieg, die Fäuste gen Himmel reckte und Gott verfluchte, weil er ihn in einem derart elenden Dasein leben ließ. Diesen Fluch muss aber Michael Pedersen, der von der Herrnhuter Frömmigkeit geprägt war, nie mehr vergessen haben, auch dann nicht, als er zu einem reichen Verwandten nach Kopenhagen in die Kaufmannslehre kam, bald ein eigenes Geschäft als Wollwarenhändler mit großem Erfolg aufbaute und reich wurde. Als er in erster Ehe kinderlos blieb und seine Frau frühzeitig starb, und als er dann seine Magd heiratete, mit der er sieben Kinder bekam, von denen fünf in noch jungem Alter starben, da kam er zu der Überzeugung, dass seine kindliche Gottesverfluchung auf ihn und seine Familie zurückgefallen sei. Als seine Frau das 7. Kind erwartete, fasste der schon 56-jährige Michael Pedersen den Entschluss, dieses Kind Gott als Opfer darzubringen. Er gelobte, wie einst Hanna vor der Geburt ihres Sohnes Samuel (1Sam 1), dieses Kind solle Gott in besonderer Weise priesterlich gehören. So wollte er den verfluchten Gott versöhnen. Sören Aabye war also schon bei seiner Geburt am 5. Mai 1813 ein »Geopferter« und nahm diese Bestimmung, je mehr er sie im Lauf der Jahre begriff, als seine Lebensbestimmung an.

 

Es ist klar, dass der Vater mit diesem Sohn aufs Engste verbunden blieb und sich um dessen Erziehung in ganz besonderer Weise kümmerte. Kierkegaard gibt in einer unvollendeten und erst posthum veröffentlichten Schrift »De omnibus dubitandum est« auf pseudonyme Weise mit einer Erzählung einen Einblick in diese Erziehung:

|22| »Sein Vater war ein sehr strenger Mann, dem Anschein nach trocken und prosaisch, indessen er unter dieser Friesjacke eine glühende Einbildungskraft verbarg, die auch sein hohes Alter nicht abzustumpfen vermochte. Wenn Johannes zuweilen um die Erlaubnis bat, ausgehen zu dürfen, wurde er zumeist abschlägig beschieden; wohingegen der Vater gelegentlich zum Entgelt ihm vorschlug, an seiner Hand die Diele auf und nieder zu spazieren. Das war beim ersten Augenschein ein dürftiger Ersatz, und doch ging es damit ebenso wie mit der Friesjacke, er barg etwas ganz anderes in sich. Der Vorschlag ward angenommen, und es wurde Johannes ganz überlassen zu bestimmen, wo es hin gehen sollte. Sie gingen dann aus dem Tore, zu einem nahe liegenden Lustschlösschen oder hinaus zum Uferstrand, oder umher in den Straßen, ganz wie Johannes es wollte; denn der Vater vermochte alles. Während sie so die Diele auf und nieder gingen, erzählte der Vater alles, was sie sahen; sie grüßten die Vorübergehenden, Wagen ratterten an ihnen vorüber und übertäubten die Stimme |23| des Vaters; die Früchte der Kuchenfrau waren einladender denn je. Er erzählte alles so genau, so lebendig, so gegenwärtig bis zur unbedeutendsten Einzelheit, die Johannes bekannt war, so ausführlich und anschaulich, was ihm unbekannt war, daß er, wenn er eine halbe Stunde mit dem Vater spaziert war, so überwältigt und müde worden war, als wenn er einen ganzen Tag aus gewesen wäre. Die Zauberkunst des Vaters lernte Johannes ihm bald ab.«16

Hier liegt die Wurzel für die herausragende Gabe der Phantasie, die Kierkegaard auszeichnete. Sein Vater hat sie mit Hilfe der phantasievollen Spaziergänge im Wohnzimmer ausgebildet. Sie beflügelte den Sohn in seinen Schriften so sehr, dass seine Argumentation häufig durch eines seiner Gleichnisse zur Evidenz und d. h. zu einleuchtender Kraft gebracht wird. Es sind Gleichnisse, die den Leser zu eigener Einbildungskraft einladen. Der amerikanische Theologe T. C. Oden hat in seinem Buch »Parabels of Sören Kierkegaard«17 alle Schriften auf Gleichnisse hin durchforscht. Er kam auf insgesamt 533 Gleichnisse und Gleichniserzählungen in dem Gesamtwerk. Kierkegaard war eben ein Augen-Mensch, und er wollte die Vorstellungskraft seiner Leser und Leserinnen provozieren, so dass sie etwas zu sehen bekommen, was ihnen »einleuchtet«. Das ist eines der Geheimnisse seiner Schriftstellerkunst, das uns auch in seinen Erbaulichen Reden begegnen wird.

Ein anderes Geheimnis seiner Schriftstellerkunst, das er als Kind bei seinem Vater gelernt hat, ist die Kunst der Dialektik:

»Mit einer allmächtigen Einbildungskraft verband der Vater eine unwiderstehliche Dialektik. Wenn da bei der einen oder anderen Gelegenheit der Vater sich in ein Wortgefecht mit einem andern einließ, so war Johannes ganz Ohr, und das um so mehr, als alles in einer beinahe feierlichen Ordnung vor sich ging […] Der Vater ließ den Widerpart jederzeit völlig ausreden, fragte ihn auch noch aus Vorsicht, ob er noch mehr zu sagen habe, eher er mit seiner Antwort begann. Johannes war dem Vortrage des Widerparts mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt, war auf seine Weise mit daran interessiert, wie es ausging. Die Pause trat ein, die Erwiderung des Vaters folgte, und sieh! Im Handumdrehen war alles anders. Wie das zuging, blieb für Johannes ein Rätsel; aber seine Seele vergnügte sich an diesem Schauspiel. Der Widerpart sprach zum andern Mal. Johannes war noch aufmerksamer, um alles richtig festzuhalten; der Widerpart wurde eindringlich. Johannes konnte beinahe sein |24| Herz klopfen hören, so ungeduldig wartete er, was da wohl geschehen werde. Es geschah; in einem Nu war alles umgekehrt, das Erklärliche unerklärlich gemacht, das Gewisse zweifelhaft, das Gegenteil einleuchtend. Wenn ein Hai seine Beute packen will, so muß er sich auf den Rücken herumwerfen, denn sein Rachen sitzt auf seiner Bauchseite; Er ist am Rücken dunkel, silberweiß unter dem Bauche. Es soll ein herrlicher Anblick sein, diesen Wechsel in der Farbe zu sehen: sie soll zuweilen so stark blinken, daß es dem Auge nahezu wehe tut, und doch macht es Freude, es anzuschauen […] Eines ähnlichen Wechsels Zeuge wurde Johannes, wenn er den Vater disputieren hörte. Er vergaß das Gesagte wieder, sowohl das, was der Vater als auch das, was der Widerpart gesagt hatte, aber dies Erschauern der Seele vergaß er nicht.«18

Mit der Kunst der Dialektik und der Kunst einer intensiv ausgebildeten Vorstellungsgabe war Kierkegaard ausgestattet, als er sich 1830 an der Universität Kopenhagen einschrieb, natürlich für Theologie, denn so hatte es ja sein Vater vorgesehen. Doch eben dieser Vorsehung des Vaters suchte sich der Sohn im Laufe seines Studiums mehr und mehr zu entziehen, zuerst in die Philosophie und in das kulturelle Leben seiner Zeit, dann in ein ausschweifendes, kostspieliges Studentenleben, dessen Unkosten der Vater dennoch bereitwillig bezahlte, schließlich in ein Langzeitstudium, das auch im 16. Semester noch lange kein Ende zu nehmen schien. Wonach er suchte, notiert der 22-jähriger Student in sein Tagebuch19, sei eine »Wahrheit für mich«, und nicht Wissensvermehrung, nicht Erkenntnisgewinn, die »für mich selbst und mein Leben keine tiefere Bedeutung« hätten. Schon hier deutet sich die Richtung an, die sich später in dem programmatischen Satz Kierkegaards verdichten wird: »Die Subjektivität ist die Wahrheit«.

Es sind dann aber doch zwei objektive Ereignisse im Jahr 1838, die dem Leben wie dem Studium Kierkegaards eine entscheidende Wende geben: Einmal stirbt im März sein geliebter Lehrer und Freund Poul Möller, der seinem Schüler vielleicht einen Lehrauftrag für Philosophie an der Universität hätte besorgen können. Wichtiger noch ist der Tod seines Vaters im August, was Kierkegaard mit den Zeilen im Tagebuch kommentiert:

»Mein Vater starb am Mittwoch, dem 8., nachts 2 Uhr. Ich hatte so innig gewünscht, daß er noch einige Jahre gelebt hätte, und ich sehe seinen Tod als das letzte Opfer an, |25| das er seiner Liebe zu mir brachte, denn er ist nicht von mir weggestorben, sondern für mich gestorben, damit womöglich noch etwas aus mir werden kann«.20

Mitten zwischen diesen beiden Todesdaten liegt ein Ereignis, das Kierkegaard in seinem Tagebuch nicht nur mit einem Datum, sondern sogar mit Uhrzeit versieht: 19. Mai, vormittags 10 ½ Uhr. Es wird die Stunde seiner »Bekehrung« genannt. Der Begriff scheint mir deshalb falsch gewählt, weil in »Bekehrung« ein aktives Moment des sich bekehrenden Menschen mitschwingt, der sich gleichsam mit einem Sprung in den Glauben versetzt hat. Die Tagebuchnotiz Kierkegaards klingt aber ganz anders. Sie ist eher Ausdruck einer Überwältigung, die mit ihm vor sich gegangen ist:

»Es gibt eine unbeschreibliche Freude, die uns ebenso unerklärbar durchglüht, wie des Apostels Ausbruch unbegründet hervorbricht: ›Freuet euch, und abermals sage ich: Freuet euch‹. Nicht eine Freude über dies oder jenes, sondern der Seele vollgültiger Ausruf ›mit Zung und Mund und aus Herzens Grund‹: ›ich freue mich an meiner Freude, aus, in, bei, an, durch und mit meiner Freude‹ – ein himmlischer Kehrreim, der gleichsam plötzlich unseren übrigen Gesang abschneidet; eine Freude, die gleich einem Windhauch kühlt und erfrischt, ein Stoß des Passats, der vom Hain Mamre zu den ewigen Hütten weht«.21

Die sich überschlagende Sprache zeigt an, dass es um das überwältigende Widerfahrnis einer »unbeschreiblichen Freude« geht, für die Kierkegaard kaum noch Worte findet, so dass er Anleihen bei Paulus in Phil 4,4 und Gen 18,1 machen muss, das Gleichnis eines Windhauches bzw. einen »Stoß des Passats« bemüht, um anzudeuten, dass er vom Heiligen Geist als einem Geist der Freude erfüllt worden ist. Das bringt ihn kurz darauf zu dem Entschluss: »Ich will mir Mühe geben, in ein weit innerlicheres Verhältnis zum Christentum zu kommen«.22 Bisher sei er eigentlich nur ein Simon von Kyrene im äußerlichen Kreuztragen Christi gewesen. Nun aber komme es ihm auf innerliche Nachfolge Jesu an.

Was also von innen her schon vorbereitet ist, wurde durch den Tod des Vaters zu einem festen Vorsatz, mit den ihm geschenkten väterlichen Gaben der Dialektik, der Rhetorik und der Einbildungskraft für ein »Christentum mit Leidenschaft« zu arbeiten. Umgehend begann er seine Examensvorbereitung, um die Theologische Staatsprüfung abzulegen und in ein Pfarramt einzutreten. Als Viertbester bestand er zwei Jahre darauf die Prüfung und begann |26| eine Magisterarbeit »Über den Begriff der Ironie mit ständiger Rücksicht auf Sokrates«, die er am 29.9.1841 vor der Universität erfolgreich verteidigte.

Regine Olsen

Kurz nach seiner Theologischen Staatsprüfung verlobte er sich mit der zehn Jahre jüngeren Regine Olsen, in die er sich seit drei Jahren mehr und mehr verliebt hatte. Es schien so, als ob nun bei Kierkegaard alles in geordnete Bahnen auf dem Weg zu einem Pfarramt kam. Auch die zukünftige Pfarrfrau schien gefunden. Doch es schien nur so, während in Wirklichkeit in dem Verlobten ein Konflikt ausbrach, der seine Anlage zur Schwermut erneut weckte und ihn in tiefe Ratlosigkeit stürzte: Einerseits sah er sich durch seine grenzenlose Liebe zu Regine und durch seine Vorstellung von einer radikalen Offenheit gegenüber seiner zukünftigen Ehefrau verpflichtet, ihr sein Inneres und seine ganze Familiengeschichte zu offenbaren; andererseits fühlte er sich außerstande, ihr den Fluch und die daraus resultierende Schwermut zu gestehen, von der er glaubte, dass sie über seinem Vater, über ihm selbst und der ganzen Familie liege. Diese Geliebte zu heiraten, das hieß für ihn, sie in den Abgrund einer verfluchten Familiengeschichte und einer Schwermut hineinzuziehen, von der Kierkegaard später in sein Tagebuch schreibt, dass sie gleichsam seine Schwester geworden sei. Entweder heiratet er Regine und macht sich schuldig an ihr, oder er heiratet sie nicht und macht sich schuldig an ihr, weil Verlobung in seinen Augen, aber auch vor den Augen der Gesellschaft Kopenhagens im 19. Jahrhundert, eine unbedingte Verpflichtung zur Heirat war. Regine spürte, dass mit ihrem Verlobten irgendetwas vor sich ging, was sie nicht einordnen konnte. Doch je mehr sie ihn mit Liebeserweisen überhäufte, desto ablehnender wurde er und gab ihr schließlich am 11.10.1841 den Verlobungsring zurück. Unter unsäglichen Schmerzen musste Kierkegaard lernen, dass ein Mensch entweder so oder so schuldig werden kann und dann unweigerlich mit Schuld leben muss. Das war sein Konflikt, den er nun, kaum dass er vierzehn Tage nach der Entlobung gen Berlin abgereist war, als einen grundsätzlichen Existenzkonflikt des Menschen wieder und wieder in seinen pseudonymen Schriften, in seinen erbaulichen Reden und natürlich auch in seinen Tagebüchern psychologisch, philosophisch und vor allem theologisch reflektierte.

 

|27| Ich breche an dieser Stelle mit meinen Annäherungen an Kierkegaards Leben ab, denn es ist erst einmal genug, um den biografischen Hintergrund eines Großteils seines Werks zu verstehen. Anderes folgt, wenn eine Reihe seiner erbaulichen Reden zumindest in Ausschnitten gelesen, mit Glauben und Denken Kierkegaards zusammengebracht und auf ihre möglichen Bezüge zur Gegenwart befragt worden sind.

Christian Möller

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