Die Stunde der Wahrheit

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Der Plan
6
Mittwoch, 26. Juli, 8.06 Uhr

Peter Kleinheinz fuhr hoch. Er wirbelte herum und griff blitzschnell zu seiner Dienstwaffe, einer SIG Sauer P225, die neben ihm im Schulterholster an einem Stuhl hing. Während er sie im Anschlag hielt, suchte sein Blick den Raum ab. Der Kommissar schüttelte sich kurz und realisierte nach und nach, dass er einfach nur aus einem tiefen Schlaf hochgeschreckt war. Er saß senkrecht im Bett seines Gästezimmers auf dem Hof der Hastenraths. Von unten aus dem Flur drang höllischer Lärm nach oben. Jetzt, da er wieder bei Sinnen war, konnte er die Quelle des Getöses schnell zuordnen. Jemand hatte die schrille Haustürklingel etwas länger als nötig gedrückt, anschließend war Knuffi mit seinem nervigen Gekläffe dazugekommen und kurz danach hatte sich aus der Ferne auch noch Hofhund Attilas tiefes Bellen unter die Klangcollage gemischt. Alles zusammen erinnerte akustisch an einen unkoordinierten Indianerüberfall.

Kleinheinz streckte sich und gähnte laut. Ein leichter Kopfschmerz pochte hinter seiner Stirn. Er war gestern entgegen seiner Planung erst sehr spät auf dem Hof eingetroffen, da er, nachdem er die letzten Formalitäten in Roermond erledigt hatte, noch seinen ehemaligen Kollegen bei der Heinsberger Polizei einen Besuch abgestattet hatte. Sein früherer Chef, Direktionsleiter Kriminalität August Pimpertz, hatte anschließend darauf bestanden, ihn zum Essen einzuladen. Und so war die Sonne schon untergegangen, als er in Saffelen eingetroffen war. Walter hatte sich zu diesem Zeitpunkt schon auf sein Zimmer zurückgezogen, aber Will, der normalerweise kein Freund übertriebener Gastfreundlichkeit war, hatte noch auf einen Absacker bestanden. Natürlich war damit der gute alte „Saffelener Höllentropfen“ gemeint, jener berüchtigte, selbst aufgesetzte Rhabarberschnaps, den Schlömer Karl-Heinz illegal in seinem Gartenhäuschen brannte. Und natürlich war das nicht ohne Folgen geblieben. Sternhagelvoll waren beide gegen ein Uhr nachts auf ihre Zimmer gewankt. Immerhin hatte der Höllentropfen für einen sehr tiefen, traumlosen Schlaf gesorgt – jedenfalls so lange, bis Knuffi ins Spiel kam.

Kleinheinz machte sich kurz frisch in dem kleinen Bad, das sich im Nebenraum befand. Er schlüpfte in seine Jeans, streifte sein T-Shirt über und ging beschwingt die Treppe hinunter. Im Flur lief ihm Will über den Weg, der gerade vier übereinandergestapelte Schuhkartons ins Wohnzimmer trug. Kleinheinz folgte ihm.

Auf dem Dreiersofa in der Mitte des Raums saß ein gepflegter Mann mit akkuratem Kurzhaarschnitt und einem weißen Poloshirt von Lacoste. Vor sich auf dem Tisch hatte er jede Menge Ordner und Unterlagen ausgebreitet. Daneben stand ein aufgeklappter Laptop.

Will stellte die Schuhkartons auf dem Boden ab und sagte zu dem Mann: „Das ist alles, was ich an Unterlagen hab.“

Der Mann zog eine Augenbraue hoch. Dann wanderte sein Blick von den Kartons hinüber zu Kleinheinz. „Hmm. Ist das einer Ihrer Mitarbeiter? Dann hätte ich an den auch noch ein paar Fragen.“

Will sah sich irritiert um und schien den Kommissar erst jetzt wahrzunehmen. „Was? Nein, das ist kein Mitarbeiter, das ist ein Hausgast.“

Der Mann mit dem Poloshirt musterte Kleinheinz mit stechendem Blick und setzte nach. „Aha, ein Gast? Interessant. Das heißt, Sie vermieten hier Zimmer und erzielen Vermietungseinkünfte? Haben Sie nicht gestern noch behauptet, Ihre Pension sei nie eröffnet worden?“

„Ich, äh, natürlich, also …“, stammelte Will.

Kleinheinz sprang ihm zur Seite und reichte dem Mann auf der Couch die Hand. „Hauptkommissar Kleinheinz vom Landeskriminalamt. Guten Morgen. Ich bin weder ein Mitarbeiter noch ein Gast, sondern nur ein guter Freund der Familie. Ich sehe hier ab und zu nach dem Rechten. Und wer sind Sie?“

Nun wirkte der Mann selbst ein wenig verunsichert und antwortete mit weit weniger schneidender Stimme als zuvor: „Äh, Steueroberinspektor Wilfried Nollmann vom Finanzamt Geilenkirchen. Ich führe hier in den Räumlichkeiten von Herrn Hastenrath eine Außenprüfung durch. Das hat alles seine Richtigkeit.“

„Dann kann ich meine Waffe ja stecken lassen“, scherzte Kleinheinz und fügte, an Will gewandt, hinzu: „Ich bin dann mal nebenan.“

Will nickte. „Ja, gute Idee. Ich komm gleich nach. Marlene ist Frühstück am machen.“

Der Kommissar verließ das Wohnzimmer und ging in die Küche. Als Marlene, die gerade eine riesige Wurstplatte auf dem Tisch platzierte, ihn erblickte, schlug sie verzückt die Hände vors Gesicht.

„Peter! Ich freu mich so, dass du da bist. Gestern Abend war ja leider alles nur so zwischen Tür und Angel. Mein Gott, toll siehst du aus.“ Ihr Blick blieb kurz an seinem athletischen Oberkörper mit dem Sixpack hängen, der sich unter dem hautengen T-Shirt abmalte, bevor sie ihm entgegenlief und ihn so heftig umarmte, dass er fürchtete, mehrere Wirbel könnten ihm herausspringen.

Als sie wieder von ihm abließ, fragte sie neugierig: „Sag mal, was ist das für ein toller Auto, mit dem du da bist? Hast du im Lotto gewonnen?“

Kleinheinz grinste. „Du meinst den Jaguar F-Type Coupé in Olympic Gold, der draußen auf dem Hof steht?“

Marlene nickte mit offenem Mund und der Kommissar fuhr nonchalant fort: „Nein, leider bin ich nicht zu Reichtum gekommen. Ich habe nur letzte Woche bei einem etwas waghalsigen Manöver meinen Dienstwagen zerlegt. Und solange der in Reparatur ist, konnte ich mir diesen schicken Wagen aus unserem Asservatenraum aussuchen. Das ist ein sogenannter Einziehungsgegenstand. Der hat mal einem Großkriminellen gehört und ist vor ein paar Monaten sichergestellt worden. Fährt sich aber recht angenehm.“

„Du bist mir einer“, rief Marlene fröhlich kopfschüttelnd und schob ihn dabei sanft in Richtung Eckbank, „aber jetzt setz dich erst mal hin und ess was. Du brauchst dringend was auf die Rippen.“

Kleinheinz‘ Blick wanderte ans Ende der Bank, wo der Mann ohne Gedächtnis saß. Marlene schlug sich verlegen mit der flachen Hand auf die Stirn. „Ach, wie unhöflich von mir. Darf ich erst mal vorstellen? Peter, das ist Walter. Walter, das ist der Kommissar, von dem wir dir erzählt haben. Der Mann, der dir vielleicht helfen kann.“

Walter erhob sich und reichte Kleinheinz seine Hand. „Sehr erfreut.“

Kleinheinz setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und sagte: „Herr Hastenrath hat mir gestern Abend schon von den Umständen erzählt, unter denen Sie sich kennengelernt haben. Ein wirklich interessanter Fall. Haben Sie sich mittlerweile an irgendwas erinnern können?“

Walter schüttelte den Kopf. „Nein, leider an gar nichts. Jedenfalls an nichts vor der Mistgabel-Attacke.“

Marlene, die sich ebenfalls dazugesetzt hatte, schaute beschämt zu Boden.

Kleinheinz strich sich über sein leicht stoppeliges Kinn. „Wir hatten mal einen ähnlichen Fall bei uns in Frankfurt. Und gestern hab ich mich mit ein paar Kollegen von der Dienststelle Heinsberg unterhalten. Wir sind der Meinung, dass eine Öffentlichkeitsfahndung den größten Erfolg verspricht. Irgendwo muss es ja jemanden geben, der Sie erkennt. Wären Sie dazu bereit?“

Walter sah ihn mit seinen großen, braunen Augen an und nickte eifrig mit dem Kopf. „Wir sollten alles unternehmen, was möglich ist. Ich bin völlig verzweifelt. Ich habe die ganze Nacht wachgelegen und versucht, mich zu erinnern. Aber da ist nichts, nur ein riesiges schwarzes Loch. Wie würde so eine Fahndung denn ablaufen?“

„Wir würden eine Profil- und eine Frontalaufnahme und eine kurze Personenbeschreibung von Ihnen als Pressemitteilung in allen Medien veröffentlichen, sprich Print, Fernsehen, Internet, aber auch als Aushänge in Geschäften – das volle Programm. Bei der Polizeibehörde wird gleichzeitig eine Hotline eingerichtet, wo wir die Hinweise sammeln. Wenn Sie von irgendwo hier aus dem näheren Umkreis stammen, dann wird Sie früher oder später jemand erkennen. Meistens geht das sehr schnell, sobald wir an die Öffentlichkeit gehen.“

„Das hört sich gut an“, murmelte Walter und rührte nachdenklich in seinem Kaffee.

„Er wird von Tag zu Tag trübsinniger“, dachte Marlene, als sie ihn so ansah.

Plötzlich betrat Will die Küche. An seinem Hals hatten sich rote Flecken gebildet. Mit seinem großen Stofftaschentuch wischte er sich Schweißtropfen von der Stirn. Er stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor er mit gedämpfter Stimme sprach: „Der macht mich fertig, der Mann.“

„Was ist denn nur los?“, fragte Kleinheinz.

Will legte den Finger auf seine Lippen und schloss erst mal die Küchentür hinter sich. Dann flüsterte er so leise, dass die anderen ihre Köpfe vorstrecken mussten, um ihn überhaupt zu verstehen: „Der macht eine Betriebsprüfung und hat mir gestern schon zu verstehen gegeben, dass ich mit eine dicke Nachzahlung rechnen muss.“

„Oh, das ist nicht gut. Was sagt denn dein Steuerberater dazu?“, fragte Kleinheinz.

„Welcher Steuerberater?“, antwortete Will überrascht. „Als wenn ich solche Halsabschneider mein Geld in der Rachen werf! Ich bin die letzten Jahre immer bloß geschätzt worden, aber angeblich zu niedrig.“

Kleinheinz kratzte sich an der Schläfe. „Wie geschätzt? Wo gibt es denn so was? Musst du keine Steuererklärung abgeben?“

Will zuckte mit den Schultern.

Plötzlich schaltete sich Walter ins Gespräch ein: „Das kann schon sein. Ich vermute mal, dass der Herr Hastenrath nach Durchschnittssätzen besteuert wird. Dann ist das hier vermutlich ein sogenannter 13a-Betrieb. Für kleine landwirtschaftliche Betriebe besteht nicht zwingend eine Buchführungspflicht. Wenn sie gewisse Voraussetzungen erfüllen, kann die Gewinnermittlung auch mit Durchschnittssätzen nach §13a Einkommensteuergesetz erfolgen. Das kann große Vorteile haben für kleine Betriebe, wenn einzelne Gewinnkomponenten nach einem pauschalen Verfahren festgesetzt werden.“

 

Drei Augenpaare starrten Walter überrascht an. Und auch er wunderte sich über die Worte, die aus seinem Mund gekommen waren. „Wow“, sagte er, „ich glaube, ich kenne mich damit aus.“

Kleinheinz verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte breit. „Ich finde das unglaublich faszinierend. Wahrscheinlich sind Sie Steuerberater oder Finanzbeamter. Ich merke schon: Wir kommen der Sache langsam näher!“

Walter schaute den verzweifelten Will an, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Wenn du willst, schau ich mir das gerne mal an.“

Das Missverständnis
7
Mittwoch 26. Juli, 8.06 Uhr

Es war jeden Morgen das gleiche. Sobald Richard Borowka das Autohaus Oellers betrat, fühlte er sich schuldig. Und das schon seit über 20 Jahren. So lange arbeitete er bereits in der Werkstatt. In dieser Zeit hatte er sich ein dickes Fell zugelegt, sodass er die täglichen Erniedrigungen seines stets unzufriedenen Chefs Heribert Oellers nicht mehr allzu nah an sich heranließ. Er hatte viele Mitarbeiter in Werkstatt und Büro kommen und vor allem gehen sehen, die meisten lange vor Ablauf der Probezeit. Er und Fredi Jaspers gehörten zu den dienstältesten Mitarbeitern, wobei Fredi ein wenig höher in der Gunst des Chefs stand, da er als Büroleiter wesentlich unverzichtbarer war als die Schrauber in der Werkstatt. Vor allem, da das Büro streng genommen ohnehin nur aus ihm und Fräulein Regina bestand, deren Hauptaufgabe allerdings weniger operativer als eher dekorativer Natur war. Sie war seit jeher als Eyecatcher im Eingangsbereich hinter einer halbrunden Theke platziert. Gemäß Oellers‘ Firmenphilosophie sollte sie die meist männliche Klientel anlocken und vor allem ablenken von den versteckten Mängeln an den angebotenen Gebrauchtwagen. Immer wenn Oellers seinen Kunden Autos präsentierte, die weniger gut kaschierte Schäden aufwiesen, wurde er dabei von Fräulein Regina begleitet, die ein wichtiges Klemmbrett mit Blättern trug, auf denen wahlweise nichts oder unleserliche Kritzeleien und Kringel standen. Sobald der Kunde Bedenken anmeldete und mit dem Kauf haderte, ließ Oellers einen Stift fallen, den Fräulein Regina aufreizend langsam aufhob mit ihrem zum Hochrutschen neigenden Minirock. Fräulein Regina fungierte quasi als fleischgewordene Nebelkerze. Der Erfolg gab Oellers recht und Fräulein Regina eine Jobgarantie. Sie dankte es ihm, indem sie ihren Körper gewissenhaft pflegte und in Form hielt, meist während der Arbeitszeit. Falsche Wimpern, lange Fingernägel, aufgespritzte Lippen und Extensions gehörten bei ihr zur Serienausstattung und auch der üppige Busen wurde regelmäßig zum Wohl der Kunden mit hervorblitzenden Spitzen-BHs zur Geltung gebracht. Und so thronte sie von morgens bis abends hinter dem großen Empfangstresen, direkt gegenüber der Eingangstür. Der Stuhl, auf dem sie saß, war immer so hochgedreht, dass man nicht nur ihr prall gefülltes Dekolleté, sondern stets auch ihre kunstvoll übereinandergeschlagenen Beine sehen konnte.

Als Borowka an diesem Morgen an die Theke trat, war Regina gerade wieder mit einer ihrer Kernkompetenzen beschäftigt: Sie feilte ihre Nägel. Gelangweilt sagte sie: „Na, Richard. Was ist denn mit dir los? Du siehst ja total kaputt aus.“

„Kein Wunder“, antwortete Borowka, „ich hab ja auch eine heiße Nacht hinter mir.“

Regina legte die Nagelfeile aus der Hand und sah ihn mit ihren großen, aufwendig geschminkten Augen an. Jetzt schien ihr Interesse geweckt. „Ach was?“, flötete sie und klimperte dabei mit den Wimpern. „Eine heiße Nacht? Du meinst …“

„Ja, genau – Schlafzimmer im Dachgeschoss.“

Regina verdrehte die Augen und feilte weiter. „Außerdem bin ich total gestresst“, fuhr Borowka fort und wedelte dabei mit einem gelben Schein. „Ich musste der Fredi heute Morgen um sieben Uhr zu Dr. Hoppe fahren, weil der sich nicht bewegen kann. Der ist nämlich schwer verletzt.“

„Wie bitte?“ Regina ließ entsetzt die Feile fallen. „Heißt das, dass ich heute der ganze Tag am Telefon gehen muss?“

„Nicht nur heute“, erwiderte Borowka mit kaum verhohlener Schadenfreude. „Der Dr. Hoppe meint, das wird noch was länger dauern. Ich bring dem Alten mal die Krankmeldung rein.“

Schnurstracks ging Borowka auf das Büro von Heribert Oellers zu und passierte dabei den mit Ordnern, Katalogen und Rechnungen zugepflasterten Schreibtisch von Fredi Jaspers. Durch die geschlossene Tür hörte er Oellers bereits mit lauter Stimme palavern. Er klopfte kurz an und betrat dann einfach das Büro, da Heribert Oellers nicht zu Höflichkeiten wie „Herein“-Rufen neigte.

Als Borowka eintrat, sah und vor allem hörte er, dass sein Chef gerade ein engagiertes telefonisches Kundengespräch führte. Mit knallrotem Kopf brüllte er in den Hörer: „Dann rufen Sie doch Ihr Anwalt an! Wenn der genauso ein Blödspaten ist wie Sie, dann aber gute Nacht … Ja, selber Arschloch!“ Er schmiss den Hörer auf die Gabel und blickte von seinem wuchtigen Schreibtisch auf. „Und was kann ich für dich tun? Haben se dich wieder geschickt, für Ersatzluftblasen für die Wasserwaage zu holen?“

Borowka musste lachen. „Nee, Quatsch, Chef. Das weiß ich ja mittlerweile, dass es die nicht gibt. Genauso wenig wie die Wasserstrahlbiegezange und die Unterputzfräse.“

„Komm aufen Punkt, Junge, oder meinst du, ich bezahl dich dafür, dass du mich hier in die Bewusstlosigkeit quatschst? Dafür ist dein Frisör zuständig. Wo du übrigens auch mal wieder hingehen könntest. Du siehst aus wie ein zerrupftes Perückenschaf, das se auf der Weide zurückgelassen haben zum Sterben, weil es so hässlich ist. Hat dir eigentlich noch keiner verraten, dass deine Frisur schon seit die 90er-Jahre ausgestorben ist?“

„Also, Rita gefällt es. Die sagt immer, von hinten seh ich aus wie dieser eine Filmstar. Wie heißt der noch? Der mit die blonden Haare, der hat mitgespielt in …“

Oellers sprang auf und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. Sein Tonfall wurde barscher: „Sag mal, was genau hast du an der Satz ,Komm aufen Punkt‘ nicht verstanden?“

„Ach ja, klar, ‘tschuldigung“, beschwichtigte Borowka und kramte aus der kleinen Tasche, die sich oben an seiner Arbeitslatzhose befand, den gelben Krankenschein hervor, den er dort hineingestopft hatte, nachdem er ihn Regina gezeigt hatte.

Als Oellers mit geschultem Auge sofort erkannte, um was für ein Dokument es sich handelte, begann seine Halsschlagader zu pochen und seine Gesichtsfarbe wechselte augenblicklich zu puterrot. Sein Adamsapfel sprang wild auf und ab, als er losbrüllte: „Jetzt reicht es mir aber, du mieser, kleiner Grottenolm. Ich steck dir jetzt auf der Stelle mein Regenschirm im Hintern und spann den auf. Dich haben se ja wohl mit der Hammer getauft. Kommst hier rein mit ein gelber Schein, obwohl du das letzte halbe Jahr öfters krankgeschrieben warst wie die Deutsche Bahn Verspätung hat …“

„Nee, Moment …“ wollte Borowka dazwischengehen, aber Oellers hatte sich bereits in Rage geredet.

„Ich bin noch nicht fertig, Kartoffelnase, oder hat einer die Null gewählt, dass du dich meldest? Du dämlicher Idiot. Ach, was sag ich? Dich als Idiot zu bezeichnen, ist eine Beleidigung für alle dummen Menschen auf dieser Welt. Wenn Doofheit ein Verbrechen wär, dann hättest du lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung. Wie kann man nur so dreist sein? Langsam glaub ich wirklich, dass deine Eltern Chemiker waren. Du musst doch ein Versuch gewesen sein. Du bist echt was Besonderes. Und zwar ein besonders großes Arschloch!“

Oellers hielt kurz inne und riss die Schublade an seinem Schreibtisch auf. Für einen kurzen Moment glaubte Borowka ernsthaft, er würde dort einen Revolver herausziehen, um ihn zu erschießen, aber es handelte sich nur um ein Pillendöschen. Hektisch warf Oellers sich drei kleine rote Tabletten in den Mund und spülte sie mit einem Glas abgestandener Cola runter, das auf dem Tisch stand. Diesen kurzen Moment der inneren Einkehr nutzte Borowka und rief:

„Das ist ein Missverständnis, Chef. Ich bin kerngesund. Die Krankschreibung ist von der Fredi.“

Oellers starrte ihn überrascht an, blieb aber dennoch wie ein Gorillamännchen in Angriffshaltung mit seinen auf den Tisch gestützten Armen stehen. Leicht irritiert entgegnete er: „Wie, Fredi? Der feiert doch so gut wie nie krank.“

„Das ist richtig. Aber gestern beim Spiel gegen Krautdorf hat es ihn ziemlich übel erwischt.“

„Kreuzbandriss?“

„Schlimmer!“

„Schien- und Wadenbeinbruch?“

„Schlimmer!“

„Syndesmösenriss?“

„Noch schlimmer!“

„Sag mal, bin ich hier bei ,Der große Preis‘ oder was? Sag mir jetzt sofort, was der Trottel hat, sonst hau ich dir der Kopf auf den Rücken, dass du aussem Rucksack fressen kannst“, platzte es aus Oellers heraus und Borowka wiegelte erschrocken mit beiden Armen ab.

„Ist ja gut. Also, der hat beim Freistoß der Ball … also der stand genau in die Schusslinie … und wollte gerade eine Mücke verscheuchen … und der Ball ging … wie soll ich das sagen … direkt unter die Latte.“

Oellers ließ sich matt in seinen schweren Ledersessel fallen. „Ach du Scheiße. Der hat ein Ball in die Eier bekommen?!“

„Öh, ja, so kann man das auch sagen. Ich bin direkt mit dem im Krankenhaus gefahren. Der hat eine schwere Hodenprellung. Der sagte eben noch, die Dinger sind so groß wie Kokosnüsse und total blau angelaufen. Der kann weder sitzen noch liegen und braucht starke Schmerzmittel. Ich war eben bei der Dr. Hoppe und der hat dem so ein Hodenbänkchen verschrieben. Der muss das alles da unten jetzt hochlegen, damit das Blut zurückfließen kann, weil durch die Schwellung …“

„Erspar mir bitte die Details“, unterbrach Oellers ihn angewidert, „Hodenbänkchen! Wenn ich so was schon hör. Wobei ich mich schon wundern muss, dass der Fredi sich so eine Verletzung überhaupt zuziehen konnte. Ich dachte bisher immer, der hat überhaupt keine Eier. Haha.“ Er musste so laut über seinen eigenen Witz lachen, dass er ins Husten geriet und kleine Speichelfontänen auf den Schreibtisch spritzten.

Borowka lachte kurz aus Verlegenheit mit und sagte dann: „Das ist ganz schön hart für der Fredi. Der und dem seine Freundin wollen doch unbedingt ein Kind haben. Und der Arzt im Krankenhaus hat gesagt, dass der mindestens die nächsten sechs Wochen kein Sex haben darf. Die Sabrina ist total ausgeflippt deswegen.“

„Ach, die Trulla soll doch froh sein. Wo kämen wir denn hin, wenn solche Pfeifen wie der Fredi sich auch noch vermehren würden? Aber ich hab ja schon immer für dem gesagt, der soll das Fußballspielen drangeben. Wenn ich den immer über der Platz stolpern seh! Da denk ich jedes Mal, der hätte mit ein Storch gepokert und dabei die Beine gewonnen. Welches Arschloch von die Krautdorfer war das denn, der der Fredi der Ball im Klingelbeutel geschossen hat?“

„Manni Schröders. Der Sohn von Schröders Leo, der das kleine Reisebüro in Süsterseel hat, das letztes Jahr pleite gegangen ist.“ „Ach, der alte Verbrecher. Hat der Manni sich denn entschuldigt?“

„Ja, ja“, sagte Borowka, „das ist alles geklärt. Wir haben der Manni ja anschließend im Krankenhaus getroffen. Der war ja auch verletzt. Der hatte sich beim Zweikampf die Nase gebrochen … mehrfach.“

„Oh, da ist es aber hoch hergegangen.“

„Pokalfight halt.“ Oellers sah auf seine dicke goldene Uhr, die er mal günstig im Türkeiurlaub am Strand erstanden hatte, und sagte: „So, genug geplaudert. Ab an die Arbeit. Im Hof steht ein Zitrön Saxo, der braucht ein neuer Auspuff. Guck mal in unsere Altmetalltonne. Ich mein, da müsste noch einer drinliegen, den du passend kloppen könntest. Mach ein bisschen Montagepaste auf die Löcher, dann müsste das gehen.“

„Ja, mach ich, aber …“, druckste Borowka herum, „aber ich müsste vorher noch mal eben nach die Apotheke und nach dem Sanitätshaus, für der Fredi was Salbe und das Hodenbänkchen abzuholen. Der arme Kerl kann sich ja überhaupt nicht bewegen im Moment.“

Oellers holte tief Luft, atmetet dann aber wieder flach aus. Wie er es mal in einem Führungskräfteseminar von Fiat gelernt hatte, versuchte er, seine erneut in ihm aufsteigende Wut zu kontrollieren. Er war zwar sauer, dass Borowka sich wieder aus dem Staub machen wollte, andererseits war ihm natürlich daran gelegen, dass Fredi so schnell wie möglich wieder einsatzfähig wurde. Und so zügelte er sich und reagierte ungewohnt verständnisvoll: „Das verstehe ich natürlich. Aber wieso musst du das denn machen? Was ist denn mit die komische Olle von der Fredi?“

„Die kann nicht. Die muss arbeiten“, sagte Borowka, ohne sich der Konsequenz seiner Worte bewusst zu sein.

 

„Ja und du? Was musst du?“ Oellers schoss wieder aus seinem Sessel hoch. „Ich raste hier gleich komplett aus. Das Sanitätshaus ist in Heinsberg. Das dauert doch ewig, bis du zurück bist.“

„Ach, ich sag mal, höchstens anderthalb Stündchen.“

„Ich geb dir gleich anderthalb Stündchen, du Pimmelotter“, gab Oellers zurück, während sich die Zornesfalte auf seiner Stirn bedrohlich zusammenzog. „Ich guck jetzt hier auf meine original Rolex-Uhr. Wenn du nicht in exakt 45 Minuten wieder zurück bist, dann lass ich dich die Mopedkette abschmecken. Haben wir uns verstanden?“

Borowka nickte versteinert. Oellers musterte ihn und fügte hinzu: „Was ist los? Wartest du auf der Bus?“

Borowka rannte los. Der Countdown lief.

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