Verfassungsprozessrecht

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

b) Eigene, gegenwärtige und unmittelbare Betroffenheit

268

In ständiger Rechtsprechung verlangt das BVerfG für die Beschwerdebefugnis nicht nur, dass der Beschwerdeführer möglicherweise durch den Angriffsgegenstand in dem von ihm gerügten Grundrecht verletzt ist. Er muss auch durch den Angriffsgegenstand selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen sein (BVerfGE 53, 30, 48):

„Die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden setzt die Behauptung des Beschwerdeführers voraus, durch einen Akt der öffentlichen Gewalt in seinen Grundrechten verletzt zu sein. Das schließt ein, dass der Akt geeignet sein muss, den Beschwerdeführer selbst, unmittelbar und gegenwärtig in seiner grundrechtlich geschützten Rechtsposition zu beeinträchtigen.“

269

Zu den drei Voraussetzungen heißt es – bezogen auf Gesetze – zusammenfassend in BVerfGE 102, 197, 206 f: „Selbstbetroffenheit ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Beschwerdeführer Adressat der Regelung ist. Gegenwärtig ist die Betroffenheit, wenn die angegriffene Vorschrift auf die Rechtsstellung des Beschwerdeführers aktuell und nicht nur virtuell einwirkt, wenn das Gesetz die Normadressaten mit Blick auf seine künftig eintretende Wirkung zu später nicht mehr korrigierbaren Entscheidungen zwingt oder wenn klar abzusehen ist, dass und wie der Beschwerdeführer in der Zukunft von der Regelung betroffen sein wird. Unmittelbare Betroffenheit liegt schließlich vor, wenn die angegriffene Bestimmung, ohne eines weiteren Vollzugsakts zu bedürfen, die Rechtsstellung des Beschwerdeführers verändert. Das ist auch anzunehmen, wenn die Norm ihren Adressaten bereits vor konkreten Vollzugsakten zu später nicht mehr revidierbaren Dispositionen veranlasst […].“ – Wo die drei Kriterien nicht sinnvoll voneinander abgrenzbar sind, können sie gemeinsam geprüft werden wie etwa in BVerfGE 115, 118, 137, wonach die Voraussetzung der „eigenen und gegenwärtigen Betroffenheit“ grundsätzlich erfüllt ist, „wenn der Beschwerdeführer darlegt, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die auf den angegriffenen Vorschriften beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten berührt wird“.

270

Entwickelt und angewendet hat das BVerfG diese Formel zunächst nur in Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen Gesetze (BVerfGE 1, 97, 101 ff, LS 2). Mittlerweile finden die Kriterien aber auch bei Urteilsverfassungsbeschwerden Anwendung (BVerfGE 140, 42, 57 ff mwN), auch wenn sie dort nur selten einen besonderen Erkenntnisgewinn bringen[163], weil sie regelmäßig vorliegen. Näher geprüft werden müssen sie in Sonderfällen, etwa wenn sich die Beschwer aus anderen Umständen als dem für den Beschwerdeführer eigentlich günstigen Tenor ergeben soll (BVerfGE 140, 42, 57).

aa) „selbst“

271

Das Erfordernis der Selbstbetroffenheit schließt die Geltendmachung fremder Grundrechtsverletzungen aus und fordert eine hinreichend enge Beziehung zwischen Beschwerdeführer und Angriffsgegenstand.[164] Diese ist unproblematisch zu bejahen, wenn der Beschwerdeführer unmittelbarer oder mittelbarer Adressat des Angriffsgegenstandes ist (BVerfGE 102, 197, 206 f; 119, 181, 212), aber auch dann, wenn die Grundrechtsposition eines Nicht-Adressaten durch den Angriffsgegenstand in sonstiger Weise nachteilig betroffen ist (BVerfGE 125, 39, 75: eigene Betroffenheit der Kirchen durch großzügige Ladenöffnungsregelungen an Sonn- und Feiertagen; BVerfGE 149, 50, 74 f – eigene Betroffenheit Pflichtversicherter durch von der Bundesagentur für Arbeit zu erbringende, gesetzlich angeordnete Transferleistungen wegen deren Relevanz für die Bemessung des Beitragssatzes). Die Rechtsposition des Beschwerdeführers muss durch den Angriffsgegenstand verändert werden (BVerfGE 146, 71, 109); eine nur faktische Beeinträchtigung im Sinne einer „Reflexwirkung“ genügt nicht (BVerfGE 123, 186, 227).

272

Beispiele:

Wer in einem Urteil als „Ehestörer“ bezeichnet wird, ist davon selbst betroffen, gleich ob er Partei des Verfahrens war oder nicht (BVerfGE 15, 283, 287 f). – Die Verfassungsbeschwerde einer gegen den befristeten Fortbestand einer der Deutschen Post AG eingeräumten Exklusivlizenz im Bereich der Beförderung von Briefen und adressierten Katalogen sah das BVerfG als zulässig an, obwohl die Beschwerdeführer nicht Adressat der angegriffenen Regelung, sondern Konkurrenten waren (BVerfGE 108, 370, 384): „Direkter Adressat der angegriffenen Regelungen ist die Deutsche Post AG, der in § 51 PostG eine gesetzliche Exklusivlizenz verliehen wird. Eine hinreichend enge Beziehung liegt in den Fällen der Beschwerdeführer jedoch vor. Sie sind Postdienstleistungsunternehmen, die Inhaber von Lizenzen nach §§ 5 ff PostG sind. Die Beschwerdeführer haben allerdings noch keine Lizenz für die Postdienstleistungen, deren Erbringung ihnen nach § 51 PostG versagt wird. Aus den Angaben der Beschwerdeführer ergibt sich jedoch in hinreichender Weise, dass sie den Willen und die Fähigkeit haben, den Zustelldienst im umstrittenen Briefsektor aufzunehmen. Das reicht für eine Annahme der Selbstbetroffenheit aus.“ – Wer unmittelbar gegen ein Gesetz vorgehen will, das zu heimlichen oder verdeckt erfolgenden Vollzugsakten – etwa der Speicherung von Verbindungsdaten oder der Kennzeichenerfassung – ermächtigt, muss darlegen können, dass er zu dem Personenkreis gehört, der aufgrund der Ausgestaltung des gesetzlichen Tatbestandes damit rechnen muss, möglicherweise von Vollzugsmaßnahmen betroffen zu werden (BVerfG, 1 BvR 2795/09 vom 18.12.2018, Abs.-Nr 39). Die Selbstbezichtigung als Straftäter oder als möglicher Verursacher einer Gefahr kann selbstverständlich nicht verlangt werden (BVerfGE 133, 277, 312 f mwN). – Da Pflegebedürfigkeit jeden jederzeit treffen kann, sind nicht nur Bewohner von Pflegeheimen, sondern alle Beschwerdeführer, der die Verletzung gesetzgeberischer Schutzpflichten im Bereich der stationären Pflege angreifen, als selbst betroffen anzusehen, da es Pflegebedürftigen nach dem Umzug in ein Pflegeheim, in dem Pflegemissstände herrschen, regelmäßig nicht mehr möglich ist, effektiven Rechtsschutz zu erlangen.[165]

273

Einer der Gründe dafür, warum das formal verstandene Adressaten-Kriterium auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht mehr als eine Faustregel sein kann, ist die einfachrechtlich begründete Möglichkeit, im fachgerichtlichen Verfahren bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen fremde Rechte im eigenen Namen geltend zu machen (sog. Prozessstandschaft, vgl etwa BVerfGK 20, 270 ff. – unzulässige Verfassungsbeschwerde des Insolvenzverwalters der Träger-GmbH eines Medizinischen Versorgungszentrums).[166]

274

Prozessstandschafter führen das fachgerichtliche Verfahren nicht als Vertreter des Rechtsinhabers, sondern im eigenen Namen, sind also selbst Partei und damit Adressat der gerichtlichen Entscheidungen (vgl BVerfGE 129, 108, 122). Zu unterscheiden sind gewillkürte und gesetzliche Prozessstandschafter – je nachdem, ob sie vom Rechtsinhaber mit der Durchsetzung seiner Rechte im eigenen Namen betraut wurden (was nur in engen Grenzen möglich ist) oder ob sich ihre Befugnis aus einer gesetzlichen Anordnung (verbunden mit einer behördlichen oder gerichtlichen Bestellung) ergibt. Verletzt das Gericht nun in einem solchen Prozess Grundrechte oder grundrechtsgleiche Verfahrensgrundrechte, stellt sich die Frage, wer gegen ein solches Urteil Verfassungsbeschwerde erheben kann – der Prozessstandschafter als Adressat des Urteils oder der Grundrechtsinhaber, obwohl er nicht Partei des Verfahrens war?

275

Nach der Rechtsprechung des BVerfG können in Ausnahmefällen auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren fremde Rechte im eigenen Namen geltend gemacht werden, was insbesondere dann gilt, wenn ansonsten die Gefahr bestünde, dass gerichtliche Entscheidungen nicht zeitgerecht und wirkungsvoll bzw überhaupt nicht mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden könnten. Deshalb hat das Gericht den Verfahrenspfleger eines schwer psychisch Erkrankten als befugt angesehen, dessen Grundrechte auch im Verfassungsbeschwerdeverfahren im eigenen Namen wahrzunehmen (BVerfGE 149, 293, 314 f).

bb) „gegenwärtig“

276

Der Beschwerdeführer muss auch „gegenwärtig“ vom Angriffsgegenstand betroffen sein. Das BVerfG hat schon früh betont, es genüge nicht, dass der Beschwerdeführer „irgendwann einmal in Zukunft (,virtuell’)“ von dem Angriffsgegenstand betroffen sein könnte, da die Verfassungsbeschwerde keine Popularklage sei (BVerfGE 1, 97, 102; vgl auch BVerfGE 141, 121, 128 f). Erforderlich sei eine „gegenwärtige (,aktuelle’)“ Betroffenheit des Beschwerdeführers. „Gegenwärtig“ betroffen ist der Beschwerdeführer also, wenn er bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde (BVerfGE 140, 42, 58) von dem angegriffenen Akt öffentlicher Gewalt aktuell betroffen ist oder wenn konkret absehbar ist, dass er von diesem in Zukunft betroffen sein wird (BVerfGE 146, 71, 110).

277

Die gegenwärtige Betroffenheit ist zweifelhaft, wenn der Beschwerdeführer einen Akt öffentlicher Gewalt angreift, der ihn bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde noch nicht betrifft. Hier kann und sollte man zwischen Fällen unterscheiden, bei denen nicht absehbar ist, ob die Norm den Beschwerdeführer überhaupt jemals betreffen wird, und solchen, bei denen dies bei gewöhnlichem Lauf der Dinge, dem „normalem Ablauf des Arbeitslebens“ (BVerfGE 29, 283, 296), der Lebensplanung des Beschwerdeführers nach feststeht, der Zeitpunkt aber ungewiss ist. Wenn klar abzusehen ist, „dass und wie“ der Beschwerdeführer in der Zukunft von der Regelung betroffen sein wird (BVerfGE 97, 157, 164), wenn also die künftigen Rechtswirkungen eines Gesetzes „schon jetzt klar abzusehen und für den Beschwerdeführer gewiss sind“ (BVerfGE 101, 54, 73 f), kann er schon jetzt Verfassungsbeschwerde erheben (BVerfGE 114, 258, 277 f; 119, 181, 212 f) – selbst dann, wenn das betreffende Gesetz noch nicht in Kraft getreten ist (BVerfGE 108, 370, 385).

 

278

Als gegenwärtig betroffen muss der Beschwerdeführer aber auch dann gelten, wenn er gegen eine gesetzliche Ermächtigung zum Erlass von Vollzugsakten vorgeht, gegen die er nicht oder nicht in zumutbarer Weise vorgehen kann, etwa, weil es sich um heimliche Maßnahmen handelt. Die Darlegung, dass er mit einiger Wahrscheinlichkeit durch die auf den angegriffenen Rechtsnormen beruhenden Maßnahmen in seinen Grundrechten berührt werden wird, weil er zum tatbestandlich erfassten Personenkreis gehört, ist dann ausreichend (BVerfGE 120, 378, 396; 133, 277, 312 f). Gleiches gilt, wenn der Beschwerdeführer gegen die Verletzung gesetzgeberischer Schutzpflichten vorgeht, deren Verletzung er nicht mehr effektiv rügen kann, wenn er selbst zum aktuell Schutzbedürftigen wird (vgl Rn 272 – Pflegenotstand).

279

Die gegenwärtige Betroffenheit des Beschwerdeführers kann zum anderen zweifelhaft sein, wenn er einen Akt öffentlicher Gewalt angreift, der sich bei Erhebung der Verfassungsbeschwerde bereits erledigt hat.[167] Hier kommt es darauf an, ob die Grundrechtswidrigkeit fortwirkt bzw ob noch ein Interesse an ihrer Feststellung besteht. Von vergangenen, aufgehobenen Maßnahmen können noch grundrechtsbeeinträchtigende Wirkungen ausgehen (BVerfGE 15, 226, 230). Zudem kann die Wiederholung einer vergangenen Maßnahme zu befürchten sein (BVerfGE 52, 42, 51 f; 56, 99, 106). Das BVerfG betont mit Recht (wenn auch unter der Überschrift „Rechtsschutzbedürfnis“, BVerfGE 149, 293, 316 f mwN), dass jedenfalls in Fällen tiefgreifender und folgenschwerer Grundrechtseingriffe die gegenwärtige Betroffenheit des Beschwerdeführers auch dann zu bejahen ist, wenn die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt sich auf eine Zeitspanne beschränkt hat, in welcher der Betroffene nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen kann.

280

Beispiele:

Die Beschwerdeführer hatten richterliche Anordnungen angegriffen, mit denen sie zur Herausgabe von Verbindungsdaten aufgefordert worden waren. Die vorbefassten Fachgerichte hatten die Auffassung vertreten, diese Anordnungen seien rechtmäßig und verletzten Grundrechte der Beschwerdeführer nicht. Die gegenwärtige Betroffenheit des Beschwerdeführers darf in einem solchen Falle nicht verneint werden, da andernfalls grundrechtsbeeinträchtigende Maßnahmen, die sich typischerweise erledigen, bevor der Betroffene eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts erlangen kann, einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung entzogen wären (BVerfGE 107, 299, 311). Die Verfassungsbeschwerde des Verfahrenspflegers eines von einer Fixierungsanordnung betroffenen schwer psychisch Erkrankten war ungeachtet der zwischenzeitlichen Entlassung des Betroffenen aus der Klinik und der damit verbundenen Erledigung der Fixierungsanordnung zulässig (BVerfGE 149, 293, 316 f).

cc) „unmittelbar“

281

„Unmittelbar“ betroffen ist der Beschwerdeführer nach der stRspr des BVerfG durch ein Gesetz (für Akte der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung hat das Zulässigkeitserfordernis nur selten Bedeutung, vgl aber BVerfGE 140, 42, 58 u. 64) nur dann, wenn dieses (BVerfGE 110, 370, 381 f, vgl auch BVerfGE 122, 63, 78 u. BVerfGE 146, 71, 108)

„in Rechte des Beschwerdeführers eingreift, ohne dass zu seiner Durchführung rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis ein besonderer, selbstständig gerichtlich angreifbarer Vollziehungsakt erforderlich ist […]. Dies ist insbesondere der Fall, wenn die angegriffene Vorschrift kraft Gesetzes eine zeitlich und inhaltlich genau bestimmte Verpflichtung begründet, die bereits bei Erlass des Gesetzes spürbare Rechtsfolgen mit sich bringt […].“

282

Klärungsbedürftig bleibt allerdings, wie eine tatsächliche Verwaltungspraxis für die Frage des rechtlichen Betroffenseins durch eine den Bürger verpflichtende Rechtsnorm entscheidend sein soll. Wenn eine vollziehbare Norm eine Rechtspflicht begründet – zum Beispiel zur Zahlung von Steuern oder sonstiger Abgaben – ist es dogmatisch nicht zu begründen, warum noch nicht hierdurch, sondern erst durch den Vollzugsakt (die Steuerfestsetzung, den Abgabenbescheid) ein Eingriff in die Grundrechte des Adressaten bewirkt sein soll[168]. Das Unmittelbarkeitserfordernis, wie es das BVerfG versteht, beruht denn auch (BVerfGE 72, 39, 43)

„auf dem in § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG zum Ausdruck kommenden und dieser Vorschrift zu Grunde liegenden Gedanken der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde […]. Die damit bezweckte vorrangige Anrufung der Fachgerichte soll eine umfassende Vorprüfung des Beschwerdevorbringens gewährleisten […]. Dem BVerfG soll vor seiner Entscheidung ein regelmäßig in mehreren Instanzen geprüftes Tatsachenmaterial unterbreitet und die Fallanschauung der Gerichte, insbesondere der obersten Bundesgerichte, vermittelt werden […]. Zugleich entspricht es der grundgesetzlichen Zuständigkeitsverteilung und Aufgabenzuweisung, dass vorrangig die Fachgerichte Rechtsschutz gegen Verfassungsverletzungen selbst gewähren […].“

283

Die Frage der „Unmittelbarkeit“ der Betroffenheit, wie sie das BVerfG versteht, ist also – genau besehen – eine Frage der Möglichkeit und Zumutbarkeit der vorherigen Durchführung eines fachgerichtlichen Verfahrens, innerhalb dessen die Verfassungsmäßigkeit der Norm – inzident – überprüft werden kann (so jetzt auch BVerfGE 140, 42, 59).[169] Teilt man diese Deutung und nimmt man den dann etwas unglücklichen Standort des Zulässigkeitserfordernisses als Unterpunkt der Beschwerdebefugnis in Kauf[170], wird man für die unmittelbare Betroffenheit des Beschwerdeführers nur zu fordern haben, dass es diesem nicht möglich ist oder nicht zugemutet werden kann, die behauptete Grundrechtsverletzung inzident, im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde gegen einen notwendigen oder üblichen Vollzugsakt zu rügen. Auch einem Beschwerdeführer, dessen Rechtsstellung unmittelbar durch das angegriffene Gesetz zu seinem Nachteil verändert wird, kann es im Einzelfall zumutbar sein, Vollzugsakte anzugreifen (BVerfGE 74, 69, 74 f). Kann der Beschwerdeführer aber nicht oder nicht in zumutbarer Weise gegen Vollzugsakte vorgehen, ist er bereits durch das Gesetz „unmittelbar“ betroffen und kann dieses unmittelbar angreifen (BVerfGE 115, 118, 137; BVerfG, 1 BvR 2795/09 vom 18.12.2018, Abs.-Nr 35 u. 37).

284

Beispiele:

Die Verfassungsbeschwerden gegen die Abschussermächtigung im Luftsicherheitsgesetz hat das BVerfG als zulässig angesehen, da die Beschwerdeführer glaubhaft dargelegt hätten, dass sie aus privaten und beruflichen Gründen häufig zivile Luftfahrtzeuge benutzten und es ihnen nicht zugemutet werden könne abzuwarten, bis sie selbst Opfer einer Maßnahme nach § 14 Abs. 3 LuftSiG würden (BVerfGE 115, 118, 139). – Nicht zumutbar ist es dem Beschwerdeführer, gegen eine straf- oder bußgeldbewehrte Rechtsnorm zunächst eine Zuwiderhandlung zu begehen und dann im Straf- oder Bußgeldverfahren die Verfassungswidrigkeit der Norm geltend zu machen (BVerfGE 81, 70, 82 f). – Nicht zumutbar bzw nicht möglich ist dem Beschwerdeführer auch ein Vorgehen gegen heimlich oder verdeckt erfolgende Vollzugsakte, von denen er nach den einschlägigen gesetzlichen Regelungen zu keinem Zeitpunkt Kenntnis erhalten wird oder von deren Kenntnisgabe die Behörde aufgrund weit reichender Ausnahmetatbestände absehen kann (BVerfGE 109, 279, 307; vgl auch BVerfGE 120, 378, 394; 133, 277, 311 f u. BVerfG, 1 BvR 2795/09 vom 18.12.2018, Abs.-Nr 36). – Nicht zumutbar ist dem Beschwerdeführer das Vorgehen gegen Vollzugsakte auch dann, wenn die Anrufung der Fachgerichte offensichtlich aussichtslos wäre (BVerfGE 79, 1, 20). – Gleiches gilt, wenn das Gesetz ihn schon vorher zu entscheidenden Dispositionen veranlasst, die er nach dem späteren Gesetzesvollzug nicht mehr nachholen oder korrigieren kann (BVerfGE 97, 157, 164).

§ 3 Individual- und Kommunalverfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr 4a, 4b GG) › II. Die Zulässigkeitsvoraussetzungen › 6. Vorherige Anrufung der Fachgerichte

6. Vorherige Anrufung der Fachgerichte

285

Gem. § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG kann der Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erheben, wenn gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig ist. Nach der stRspr des BVerfG bedeutet das nicht nur, dass der Beschwerdeführer ordnungsgemäß, aber erfolglos von allen gesetzlich geregelten (BVerfGE 107, 395, 416 f; ebenso bereits BVerfGE 1, 12, 13) Möglichkeiten Gebrauch gemacht haben muss, die Beseitigung des ihn beschwerenden Angriffsgegenstandes durch die Fachgerichte zu erreichen, sondern auch, dass er darüber hinaus „alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergriffen haben muss, um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen“ (BVerfGE 112, 50, 60). Eine Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, wenn der Beschwerdeführer vor Anrufung des BVerfG in zumutbarer Weise Rechtsschutz durch die Fachgerichte erlangen kann oder hätte erlangen können (BVerfGE 126, 112, 133).

286

Durch die vorherige Einschaltung der Fachgerichte auch in den Fällen, in denen eine gerichtliche Aufhebung des Angriffsgegenstands nicht in Betracht kommt, soll das BVerfG nicht nur entlastet (BVerfGE 72, 39, 46), sondern auch gewährleistet werden, dass ihm möglichst nur Fälle unterbreitet werden, die bereits in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht aufbereitet sind (BVerfGE 102, 197, 207), damit sich das BVerfG ganz auf seine ureigenste Aufgabe, die Kontrolle von Akten der öffentlichen Gewalt am Maßstab der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte, konzentrieren kann.

287

Das BVerfG versteht die Vorschrift also als Ausdruck des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, der in § 90 Abs. 2 BVerfGG unter Nutzung der Ermächtigung des Art. 94 Abs. 2 S. 2 GG seine gesetzliche Ausformung erhalten hat (BVerfGE 112, 50, 60; 126, 112, 133). Diesem Prinzip liegt eine doppelte Erwägung zugrunde (BVerfGE 107, 395, 414):

„Der Beschwerdeführer muss selbst das ihm Mögliche tun, damit eine Grundrechtsverletzung im fachgerichtlichen Instanzenzug unterbleibt oder beseitigt wird. Das Subsidiaritätsprinzip enthält zugleich eine grundsätzliche Aussage über das Verhältnis der Fachgerichte zum BVerfG. Nach der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung obliegt zunächst den Fachgerichten die Aufgabe, die Grundrechte zu wahren und durchzusetzen.“

288

Vom Wortlaut des § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG ist diese Deutung der Norm entgegen der im Schrifttum vorgebrachten Kritik[171] durchaus gedeckt[172]. In § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG ist nicht von einem Rechtsweg gegen den angegriffenen Akt öffentlicher Gewalt, sondern – umfassender – von einem Rechtsweg gegen „die Verletzung“ die Rede.[173] Ferner genügt es nicht, diesen Rechtsweg irgendwie zu durchlaufen, seine „Erschöpfung“ ist Voraussetzung für die Zulässigkeit der Erhebung der Verfassungsbeschwerde. § 93 Abs. 3 BVerfGG schließlich, der oft als Argument dafür genannt wird, dass der Gesetzgeber davon ausgegangen sei, dass Verfassungsbeschwerden gegen Gesetze ohne vorherige Anrufung der Fachgerichte zulässig seien, betrifft keineswegs alle Gesetze, sondern nur solche Gesetze und sonstige Hoheitsakte, „gegen die ein Rechtsweg [im Sinne des § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG] nicht offen steht“[174].

 

289

Von dem Grundsatz, dass der Beschwerdeführer, bevor er sich an das BVerfG wenden darf, die Fachgerichte ordnungsgemäß, aber erfolglos angerufen haben muss, gibt es zwei Ausnahmen. Erstens kann das BVerfG gem. § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde sofort entscheiden, „wenn sie von allgemeiner Bedeutung ist oder wenn dem Beschwerdeführer ein schwerer und unabwendbarer Nachteil entstünde, falls er zunächst auf den Rechtsweg verwiesen würde“ (sog. Vorabentscheidung). Zweitens verlangt das BVerfG die Rechtswegerschöpfung dann nicht, wenn sie dem Beschwerdeführer nicht zumutbar ist.