Mosquito

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4

Gegen 21.30 Uhr erreichte er sein Haus im Paulusviertel. Seine Frau küsste ihn zur Begrüßung etwas länger als üblich – er fürchtete, sie könnte mit ihm schlafen wollen, und überschlug in Gedanken die Zahl der Tage seit ihrem letzten Eisprung.

»Möchtest du noch etwas essen?«, fragte sie ihn.

Er hatte seit dem Mittagessen in der Kantine nichts mehr zu sich genommen, zum Hunger hatten sich längst Mattigkeit und Konzentrationsschwäche gesellt, aber er hatte nicht die Absicht, die Nacht mit Panikattacken zu verbringen.

»Nein danke«, sagte er, »geh schon ins Bett, ich komme gleich nach.«

Allein im Wohnzimmer goss er sich einen Viertelliter Rotwein in ein Glas und leerte es in einem Zug. Die Wirkung dieser Zeremonie war stets zuverlässig und überwältigend. Sein Verdauungsapparat absorbierte den Alkohol ungebremst von jeder Nahrung und verschaffte ihm einen kurzen euphorischen Schub, der von einer tiefen Entspannungsphase abgelöst wurde. Er legte sich auf die Couch und wartete 20 Minuten, bis er hörte, wie seine Frau ihre Leselampe ausknipste. Dann schaltete er das Fernsehgerät an und drehte den Ton so leise, dass er gerade noch etwas verstehen konnte. Durch die Kabelprogramme schaltend blieb er bei einem Privatsender hängen, der einen US-amerikanischen Softporno aus den 80er-Jahren zeigte. Er hatte Glück, einer der unendlich langen Werbeblöcke für die einschlägigen 0190-Angebote war eben durchgelaufen. Leider nahmen die unsäglich penetrante elektronische Musik, die ballonartigen Silikonbrüste der Aktrice und die an ein Aerobicvideo erinnernde Inszenierung der Darstellung jeden Reiz. Ihm blieb nichts übrig, als seiner Frau ins Schlafzimmer zu folgen.

Am nächsten Morgen wachte er auf, alleine im Bett liegend. Er versuchte, sich die Vorgänge und Todesfälle im Umfeld des Woogs in Erinnerung zu rufen, von denen er seit seinem Dienstantritt im Präsidium gehört hatte. Seit Beginn der systematischen Aufzeichnungen über Vermisste und ungeklärte Todesfälle Ende der 40er-Jahre hatte es fast zwei Dutzend dokumentierte Fälle von Tod durch Ertrinken in dem See gegeben, alle ohne Fremdeinwirkung. Im Durchschnitt ertrank also fast alle drei Jahre jemand im Badesee. Die Vorgänge ähnelten sich; ein Angehöriger oder Freund meldete einen Vermissten, manchmal an einem sommerlichen Badetag direkt beim Bademeister, manchmal am nächsten Morgen bei der Polizei. Wenn die Rekonstruktion des Verschwindens ergab, dass der letzte Aufenthaltsort des Vermissten mit hoher Wahrscheinlichkeit der See war, begann die Suche. Jeweils zwei Männer in einem Boot kämmten alles ab, der eine am Außenborder, der andere mit einer langen, hakenbewehrten Stange über den Seegrund streifend, der abgesehen von einer künstlichen Vertiefung am Sprungturm, an keiner Stelle mehr als vier Meter Tiefe hatte. Wurden die Leblosen nicht gleich gefunden, trieben sie meist nach wenigen Tagen aufgedunsen an der Wasseroberfläche. Die ärztlichen Diagnosen zu den Todesursachen lauteten meist auf Ertrinken durch Herzversagen oder Kreislaufschwäche. Einige Male trieben Leichen von Menschen auf, nach denen niemand gesucht hatte, meist alkoholisierte Obdachlose, die das Gewässer in lauen Sommernächten illegal als Badewanne benutzten. Rünz’ Mann hätte gut und gerne einer dieser namenlosen Habenichtse sein können, aber welcher Ertrunkene bricht sich alle Knochen und lädt sich dann einen Betonblock auf den Bauch, bevor er sanft in das weiche Sediment eines ruhigen Binnensees hinabsinkt? Zwei Menschen, die nach der Rekonstruktion der letzten Stunden vor ihrer Absenz höchstwahrscheinlich im Woog zu Tode kamen, wurden nie gefunden. Beide waren allerdings zum Zeitpunkt ihres Verschwindens über 70 Jahre alt, insofern für Rünz’ Fall nicht relevant. Und dann waren da noch die Verletzungen. Große Boote oder Schiffe, deren Antriebsschrauben die von Bartmann diagnostizierten Frakturen post mortem hätten erzeugen können, existierten auf dem See nicht. Rünz spürte, dass Arbeit auf ihn zukam.

Er stand auf und zog sich einen Bademantel an. Seine Frau saß am Küchentisch, nippte an einem zähflüssigen, giftgrünen Gemüsetrunk und blätterte in einem Buch. Er setzte sich zu ihr, schlug seine Zeitung auf und knabberte an einem Knäckebrot. Die gemeinsamen Mahlzeiten ähnelten einem immer gleichen Ritual mit nur einer Regel – er las und sie redete. Sie erzählte von ihren Erlebnissen des Vortages oder ihren Plänen für den nächsten, er war wortkarg und knurrte unwillig bestätigend oder verneinend, wenn sie auf dem Mindestmaß an Kommunikation insistierte, das für eine gemeinsame Haushaltsführung notwendig war. Er wünschte sich in diesen Momenten, dass sie schwieg, wenn sie es aber tat, wie an diesem Morgen, beunruhigte es ihn. Dann fehlte ihm das konstante Hintergrundrauschen ihrer Stimme. Neben dem Küchentisch hatte er seiner Frau ein Bücherbord angedübelt, auf dem sie eine kleine Bibliothek mit wechselnden thematischen Schwerpunkten unterhielt. Rünz ging die aktuellen Titel durch, bevor er seine Zeitung aufschlug. ›Feng-Shui-Praxis‹, ›Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags‹, ›Bewusstheit durch Bewegung‹ und ›Das starke Selbst‹, beide von Moshe Feldenkrais, ›Feng Shui – Leben und Wohnen in Harmonie‹, ›Das Stille Qi Gong nach Meister Zhi-Chang Li‹, ›Tai Ji Chuan – Ruhe und Bewegung in Balance‹, ›Tao Yoga der heilenden Liebe‹, ›Feng Shui heute‹, ›Das große Buch der Heilung durch Shiatsu‹ von Shitsuto Masunaga, ›My Feng Shui‹ und diverse andere Titel. Rünz fühlte das Bedürfnis, sich aufzuwärmen für den Arbeitstag.

»Wusstest du, dass die Grünen Feng-Shui als Staatsreligion im Grundgesetz verankern wollen? Kein Spaß, das soll in die Präambel!«

Sie las unbeeindruckt weiter. Er legte nach.

»Es gibt nur eine zeitgenössische Erscheinung, die es an hirnverbrannter Dämlichkeit mit dieser Hilfsreligion aufnehmen kann, und das ist dieser kreuzblöde Menopausensport Nordic Walking.«

Seine Frau blätterte scheinbar unbeteiligt um. Er registrierte befriedigt ihre zitternde Hand.

»Ich verstehe gar nicht, dass sich die Katholiken hierzulande von diesen asiatischen Höhlenriten die Butter vom Brot nehmen lassen. Die müssten das doch eigentlich adaptieren! Zum Beispiel: ›Abendmahl mal anders – Feng-Shui-Rezepte für den Leib des Herrn‹. Und wenn die Priester mit ihren Messdienern ordentlich üben, könnten die ihren Schäfchen Shiatsu-Massagen anbieten.«

»Du bist wirklich krank«, sagte sie.

»Ach was, ich bin nur ein wenig gereizt. Liegt sicher an den Sternen. Irgendein Planet meines verdammten Sternzeichens steht im Aszendent von irgendeinem anderen verdammten Planeten – du weißt, was das ausrichten kann.«

Sie schwieg, er beobachtete sie. Ihre Beziehung hatte in den 25 Jahren seit ihrer ersten Begegnung in der Goldenen Krone einige Metamorphosen durchgemacht. In der erträglichsten Phase hatte er sie als eine von Vernunft und einem gesunden Skeptizismus geprägte Frau empfunden, sie hatten eine gemeinsame, unvoreingenommene Neugier auf die Welt, auf Politik, Wissenschaft und Kultur geteilt. Diese gemeinsame Basis war abgebröckelt, je näher sie kinderlos den Wechseljahren kam. Er konzedierte ab und an, dass er sich auch selbst verändert haben könnte, hielt aber weitere Reflexionen in dieser Richtung nicht für zielführend. Die früher stabile seelische Konstitution seiner Frau war allmählich einem Zyklus von Auf- und Abschwungsphasen gewichen, in Abständen mehrerer Wochen wechselten Rückzug und Depression mit euphorischen Zuständen. In den Hochphasen identifizierte sie sich vorbehaltlos mit einem der zeitgenössischen Religionssurrogate, die der akademisch gebildeten Mittelschicht in säkularen, postindustriellen Gesellschaften zur Sinnstiftung dienten. Es begann mit Psychoanalyse, danach folgten Astrologie, Ayurveda und Mondkalender, später Akupunktur, Homöopathie, Entschlackung und Entgiftung durch Heilfasten, schließlich Wellness, Pilates und Yoga, zwischendurch immer wieder exotische Lehren wie Bailey, Seth, Aivanhov, Ramtha und White Eagle, von denen Rünz nie zuvor gehört hatte. Das aktuelle Antidepressivum seiner Frau hieß Feng-Shui und hatte für einige Unruhe in ihrer Inneneinrichtung gesorgt. Es deprimierte ihn, dass erwachsene Mitteleuropäer 300 Jahre nach Beginn der Aufklärung solchem Aberglauben anhingen. Es gab keinen Fortschritt.

Karin Rünz legte das Buch zur Seite, trank ihren grünen Gemüsesaft und blickte an ihm vorbei aus dem Fenster. Seine Kränkungen hatten gewirkt. Er fühlte sich etwas besser.

»Ich lasse mir das von dir nicht nehmen«, sagte sie.

»Du meinst, so wie ich dir die Astrologie, die Bachblütentherapie, die Psychoanalyse und den ganzen Mumpitz genommen habe? So ein Unsinn. Deine Ersatzreligionen halten genau bis zum Beginn der nächsten Depression, da habe ich überhaupt keinen Einfluss drauf. So gesehen, sind deine Tiefs die einzigen Momente, in denen du klar siehst.«

»Diesmal ist es doch völlig anders. Feng-Shui ist so«, sie suchte nach einer Erklärung, »so umfassend. Es zeigt, dass alles mit allem zusammenhängt und alles zusammen einen Sinn ergibt.«

»Na klar, und dass unsere Ehe nicht funktioniert, weil da hinten in der Wohnzimmerecke ein Haufen Altpapier gelegen hat, oder sag ich was Falsches?«

»Du meinst die Energiefelder im Bagua-Raster. Aber das verstehst du sowieso nicht. Du willst es nicht verstehen. Du hast Angst davor, es könnte deine Welt durcheinander bringen.«

Rünz roch an der Fleischwurst, die er sich zwei Tage zuvor gekauft hatte. Er entschloss sich, kein Risiko einzugehen, und legte sie zur Seite, öffnete eine frische Packung Knäckebrot, zog eine noch keimfreie Scheibe heraus und knabberte daran.

»Ist dir eigentlich schon aufgefallen«, fragte sie, »dass du nur noch gereizt und zynisch bist, seit wir hier wohnen?«

»Ich bin gereizt und zynisch, seit wir uns kennen! Das ist ein Unterschied.«

 

Sie ignorierte seine Bemerkung.

»Das muss mit dieser Wohnung zu tun haben. Die Chinesen sagen, dass sich Häuser und Wohnungen mit den positiven und negativen Energien der Menschen aufladen, die darin gelebt haben.«

Rünz verschluckte sich an ein paar Krümeln, hustete sich frei und machte eine Jack-Nicholson-Grimasse.

»Wendy, mach auf, hier kommt der Weihnachtsmann!«

»Ich habe mit dem älteren Ehepaar von gegenüber gesprochen, die haben erzählt, in unserer Wohnung hätte vor zehn Jahren ein Mann gewohnt, der angeblich mit Kinderpornografie zu tun hatte.«

»Jesus – deswegen habe ich dieses unstillbare Verlangen nach Pippi-Langstrumpf-Videos! Jetzt mal im Ernst: Hatte der angeblich oder tatsächlich mit Kinderpornografie zu tun? Juristen machen da einen feinen Unterschied. Aber im Feng-Shui gibts wohl keine Unschuldsvermutung?«

»Worauf ich hinaus will: Wir können das prüfen lassen. Es gibt spezielle Berater, die die negativen Energien aufspüren und wissen, wie man …«

»… für, lass mich raten, 70 Euro pro Stunde. Egal ob du zum Analytiker oder zur Wahrsagerin gehst, einen Architekten engagierst oder dir vom örtlichen Feng-Shui Consultant die Wohnung positiv aufladen lässt – es kostet immer 70 Euro pro Stunde. Muss eine Naturkonstante sein, direkt hinter der Lichtgeschwindigkeit und dem Planckschen Wirkungsquantum.«

Sie resignierte.

»Ach, vergiss es. Tu mir einen Gefallen, vergiss bitte nicht das Essen heute Abend. Außerdem hast du diese Woche deine Therapiestunde.«

Rünz vergaß vieles, den Geburtstag seiner Frau, den Hochzeitstag, den Valentinstag, aber seine Therapiestunde ganz sicher nicht. Das Abendessen dagegen war ihm so wichtig wie eine Beule am Kopf.

5

Schon auf dem Flur hörte Rünz das Gelächter und die Unterhaltungen aus dem Besprechungsraum. Die Mitglieder seiner Ermittlungsgruppe erzählten sich ihre Wochenenderlebnisse. Der Geräuschpegel nahm nicht nennenswert ab, als er den Raum betrat, niemand schien Notiz von ihm zu nehmen. Seine Anwesenheit hatte auf seine Mitarbeiter ungefähr die gleiche Wirkung wie die eines unerfahrenen Referendars auf eine Berufsschulklasse der Peter-Behrens-Schule, mit dem einzigen Unterschied, dass Rünz sich keine Sorgen um seine Sicherheit machen musste. Erst allmählich verschwanden Füße von der Tischplatte, Unterlagen, Notizblöcke und Schreibutensilien wurden zu ordentlichen Stapeln zusammengeschoben und parallel zur Tischkante ausgerichtet.

Rünz setzte sich und musterte kurz die Runde, bevor er die Besprechung eröffnete. Neben ihm saß Manfred Meyer, ein Bürokratentyp bar jeder Inspiration und Kreativität bei der Ermittlungsarbeit, aber Gold wert, wenn es darauf ankam, 20 Meter Archivakten oder einige Megabyte Datensätze in möglichst kurzer Zeit zu durchforsten. Er hatte den Gesichtsausdruck eines Babys, dazu den traurigdümmlichen Blick von Rauhaardackeln, der bei manchen Frauen Mutterinstinkte weckte. Meyer führte akribisch Buch über seine Überstunden und konnte die Brückentage des übernächsten Kalenderjahres auswendig herbeten. Er schaute mürrisch drein, offensichtlich befürchtete er Wochenendeinsätze. Neben ihm saß Charlotte de Tailly, Ende 20, Mitarbeiterin des ›Commissariat de Police Nationale‹ in Troyes, der französischen Partnerstadt Darmstadts. Sie arbeitete im Rahmen eines Austauschprogrammes der Polizeidirektionen beider Städte für einige Monate in Darmstadt. Charli litt unter starker Neurodermitis, die ihre Gesichtshaut ruiniert hatte. Weil sie auf dem völlig deregulierten Markt der Attraktivität damit noch nicht ausreichend benachteiligt war, hatte ihr der Herrgott noch einen starken Vorbiss mit auf den Weg gegeben. Es gab zwei Möglichkeiten des Umgangs mit dieser genetischen Disposition, und sie hatte sich nicht für das stille Mauerblümchen, sondern für die Betriebsnudel entschieden. Das hatte ihr in kürzester Zeit eine wichtige Funktion im gruppendynamischen Getriebe des Präsidiums beschert. Die Kollegen konnten ihre verkümmerten Flirtfähigkeiten ungehemmt an ihr erproben, und die Kolleginnen hatten sie ganz oben auf ihrer Lästerliste. Rünz hatte sie ins Team geholt, weil sie bei informatorischen Befragungen und Verhören Wunder vollbringen konnte. Ihr fehlte als französischer Staatsbürgerin natürlich jede rechtliche Legitimation für Vernehmungen nach Strafprozessordnung, aber in der Praxis war die Grenze zwischen informatorischer Befragung und Verhör meist fließend und der Widerspruch eines aufmerksamen Rechtsbeistandes nicht immer zu fürchten. Obwohl sie perfekt Deutsch sprach, nahm sie den Gesprächssituationen mit ihrem hinreißenden Akzent und ihrer Lebendigkeit unbewusst ihre formale Strenge. Ihre Gesprächspartner tauten regelmäßig innerhalb von Minuten auf, kamen aus der Reserve, plauderten ungefiltert und ohne Rücksicht auf Verluste drauflos. Rünz hatte von ihr geleitete Verhöre beobachtet, bei denen Verdächtige faktisch Geständnisse abgeliefert hatten, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Ihm gegenüber kraulte sich Albert Bunter seinen Vollbart, ein schmächtiger Typ wie Rünz, allerdings mit einem gemütlichen kleinen Bierbauch. Bunter hatte wie Rünz drei silberne Sterne auf seiner Uniformjacke und hätte ihm von seinen Fähigkeiten her die Leitung der Ermittlungsgruppe ohne Weiteres streitig machen können, hatte aber keinerlei Aufstiegsambitionen. Er war ein knochentrockener westfälischer Stoiker, der zum Lachen in den Keller ging, dabei brillanter Kriminalist und Analytiker, der auch in komplexen Fällen die Fäden zusammenhalten konnte. Wedel hängte Karten, Pläne und Fotos an die Pinnwand.

Rünz räusperte sich.

»Meine Damen und Herren, ich danke für Ihr Erscheinen. Zur Sache.« Er stand auf, ging zur Pinnwand und steckte eine Nadel in ein Luftbild des Woogsareals.

»Gestern Morgen hat ein DLRG-Taucher im Großen Woog eine Leiche gefunden. Der Fundort liegt hier, 30 Meter nördlich der Seemitte, in der Mitte einer gedachten Linie zwischen Familienbad und der Nordspitze der Badeinsel. Äußere Gewalteinwirkung als Todesursache ist wahrscheinlich, der Tote hat mehrfache Frakturen und eine Schädelverletzung, wie Sie hier sehen. Wir müssen von Fremdeinwirkung ausgehen, die Leiche lag in vier Metern Tiefe, beschwert mit diesem Betonblock, wahrscheinlich als Auftriebssicherung. Robert Bartmann vom IFM in Frankfurt hat die Leichenschau durchgeführt, er wird auch die Obduktion machen. Der Todeszeitpunkt liegt nach erstem Anschein mindestens einige Jahre zurück, aber auf eine Höchstgrenze wollte Bartmann sich noch nicht festlegen. Wir werden erst in zehn Tagen einen vorläufigen Bericht von ihm erhalten. Ein Abgleich mit den Vermisstendatenbanken macht erst Sinn, wenn wir genauere Informationen über Alter, Geschlecht, Todesumstände und -zeitpunkt haben. Deswegen konzentrieren wir uns vorerst auf Spurensicherung und Befragungen. Der Woog ist heute noch den ganzen Tag für den Badebetrieb gesperrt, wir haben also ausreichend Zeit für eine ordentliche Spurensuche in den Uferbereichen, den Anlagen und Gebäuden auf dem Gelände. Herr Wedel und Herr Meyer, ich bitte Sie in Absprache mit Frau Habich die gesamten Uferbereiche absuchen zu lassen. Kleidungsstücke, potenzielle Schlagwerkzeuge, alles ist wichtig. Machen Sie eine ausführliche Fotodokumentation der Anlagen rund um den See. Nehmen Sie sich zehn Kollegen von der Bereitschaft zur Unterstützung. Markieren Sie auf einer Katasterkarte die schlecht einsehbaren Stellen, an denen eine Gewalttat unbemerkt ausgeführt oder ein Toter unauffällig aus einem Auto ausgeladen und zum Wasser transportiert werden kann. Widmen Sie sich genau den Stellen und Slipanlagen, an denen man ein Boot zu Wasser bringen kann. Soweit ich weiß, ist der Umgrenzungszaun um das Woogsgelände nicht überall gleich hoch und in gleich gutem Zustand. Tragen Sie diese Informationen in die Karte ein, markieren und fotografieren Sie auch Beschädigungen am Zaun. Machen Sie eine Liste aller Boote und schwimmfähigen Einrichtungen rund um den See, fragen Sie die Leute von der Badeaufsicht, ob es irgendwann in der Vergangenheit Hinweise auf illegale Benutzung ihrer Boote gab. Suchen Sie den Schilfgürtel im Norden und Nordosten genau ab, vielleicht bitten wir Deiters Leute von der DLRG nochmal um Unterstützung.«

»Wir sollten irgendwie prüfen, von welchen Stellen aus die Fundstelle einsehbar ist«, schlug Bunter vor.

»Gute Idee – Herr Wedel, setzen Sie einen unserer Fotografen mit einem Camcorder in eins der Boote der Badeaufsicht und lassen Sie ihn an der Fundstelle einen 360-Grad-Schwenk drehen. Charlotte, Herr Bunter, ich bitte Sie beide, die informatorischen Befragungen vorzubereiten. Wir sprechen hier von einem Ereignis, das vielleicht fünf oder mehr Jahre zurückliegt, möglicherweise nicht mehr genau datiert werden kann. Das vergrößert die Anzahl potenzieller Informanten erheblich. Wir müssen das systematisch angehen. Fangen wir mit der Badeaufsicht an. Beschaffen Sie die Personaldaten aller Mitarbeiter der letzten zehn Jahre, einschließlich studentischer Hilfskräfte, den Frauen im Kassenhäuschen und sonstiger Aushilfen. Es muss da eine Bürgerinitiative zur Erhaltung des Sees geben.«

»Der Woogsfreunde«, ergänzte Bunter.

»Genau, setzen Sie alle aktuellen und ehemaligen Mitglieder dieser Gruppe auf die Liste. Kontaktieren Sie das Grünflächen- und Umweltamt. Welche städtischen Angestellten haben in den letzten zehn Jahren die Grünanlagen gepflegt, welche externen Firmen wurden mit der Pflege beauftragt? Filtern Sie aus dem Melderegister die Einwohner heraus, die in den letzten zehn Jahren hier an der Heinrich-Fuhr-Straße zwischen Beckstraße und Trainingsbad und hier an der Landgraf-Georg-Straße zwischen Elisabethenstift und Ostbahnhof gemeldet waren. Kontaktieren Sie den Gastwirt des Woogsstübchens und fragen Sie ihn nach seinen Stammgästen. Versuchen Sie, eine vollständige Liste seiner Vorgänger zu bekommen, soweit ich weiß, hat der Pächter der Kneipe in den letzten zehn Jahren mehrmals gewechselt. Sprechen Sie mit dem Leiter der Jugendherberge. Fragen Sie ihn nach seinen Vorgängern. Lassen Sie sich von ihm die Adressen der Gruppenleiter und Privatleute geben, die in den letzten zehn Jahren die Herberge genutzt haben; das meiste wird er in seiner EDV haben, aber es wird sicher eine Menge Papierarbeit. Setzen Sie die Trainer des TSG 1846 und die Betreiber der Tennisanlage im Osten des Sees auf die Liste. In zwei bis drei Tagen sollten Sie die Aufstellung komplett haben, dann legen wir los mit den Befragungen. Stellen Sie standardisierte Fragenkataloge zusammen für die einzelnen Zeugengruppen, damit wir nichts vergessen. Versuchen Sie darüber hinaus, die Leute zum Reden zu bringen, Sie wissen schon, alte Geschichten, die man sich weitererzählt. Wir werden anfangen mit der Badeaufsicht und der Jugendherberge, die sitzen schließlich auf den Logenplätzen.«

Rünz machte eine kurze Pause. Man hatte ihm aufmerksam zugehört, seine Leute notierten sich eifrig seine Anweisungen.

»Gibt es Fragen oder Anregungen?«

Meyer meldete sich. »Da gibts noch einen Anglerverein, den werde ich mir vornehmen. Außerdem existiert da doch so ein Seniorenklub, die springen doch im Frühjahr beim alljährlichen Anschwimmen immer als Erste ins Wasser.«

»Sie meinen die Schlammbeißer, hätte ich fast vergessen. Sprechen Sie mit jedem Einzelnen, wenn jemand alte Geschichten kennt, dann die.«

»Holen wir uns Unterstützung vom BKA?«, fragte Bunter.

»Wenn wir merken, dass wir auf der Stelle treten, werden wir ein OFA-Team anfordern. Aber das hat jetzt noch keinen Sinn, wir müssen erst mal die Grundlagenarbeit machen.«

»Wie sieht es mit ViCLAS aus«, fragte Wedel.

»Geben Sie sukzessive alle Informationen ein, die wir in den nächsten Wochen erarbeiten. Vielleicht haben wir Glück. Was fällt Ihnen sonst noch ein?«

Schweigen. Rünz hatte sich offensichtlich gut vorbereitet, nicht einmal Bunter fiel eine sinnvolle Ergänzung zu seinem Aktionsprogramm ein. Es sah so aus, als hätte er sich bei seinem Team wieder etwas Respekt verschafft.

»Dann an die Arbeit. Wir werden uns bis auf Weiteres jeden Montag und jeden Freitag um 9 Uhr hier treffen. Nutzen Sie ansonsten die üblichen Wege der Informationsverteilung, ich bin ständig mobil erreichbar.«

Rünz schloss die Sitzung. Beim Verlassen des Zimmers fing er Wedel ab.

»Hören Sie, Hoven möchte eine roadmap und einen action plan für den Fall. Wissen Sie, was er damit meint?«

»Klar Chef«, lachte Wedel, »das ist alter Wein in neuen Schläuchen – früher hieß das Ermittlungs- und Untersuchungsplan. Aber das klingt ihm irgendwie zu altbacken.«

 

»Das beruhigt mich. Hören Sie, ich werde wie üblich jede Woche für ihn ein paar Punkte zu Papier bringen, die ich Ihnen dann schicke. Bauen Sie doch bitte ein paar von seinen Lieblingsanglizismen ein, Sie wissen schon, dieses ›Business-Denglisch‹, und leiten Sie es dann in meinem Namen an ihn weiter. Er soll sich richtig wohlfühlen beim Lesen.«