Systematische Theologie

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Kurt Nowak:SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen 2001.

Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hrsg. v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1999.

Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Der christliche Glaube. 2. Auflage (1830/31). Studienausgabe, 2 Bde., hrsg. v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2008.

Arnulf von Scheliha: Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen KircheKircheevangelische im Zusammenhange dargestellt, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S. 245–254.

Markus Schröder: Die kritische Identität des neuzeitlichen Christentums. SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst Wesensbestimmung der christlichen ReligionReligionchristliche, Tübingen 1996.

Aufgaben

1 Informieren Sie sich in dem Beitrag von Arnulf von Scheliha über den Aufbau der GlaubenslehreGlaubenslehre von SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst.

2 Lesen Sie die Einleitung der zweiten Auflage der GlaubenslehreGlaubenslehreSchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst, und versuchen Sie, seine Aussagen zur Religion in Thesen zusammenzufassen.

3 Worin unterscheidet sich das Religionsverständnis SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst von dem KantsKant, Immanuel? Benennen Sie wichtige Unterschiede in einem kurzen Essay.

c. Die historische TheologieTheologiehistorische von Ferdinand Christian BaurBaur, Ferdinand Christian und David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich

SchleiermachersSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst Zusammenführung von Glaube und GeschichteGlaube und Geschichte in Jesus Christus ist nicht unwidersprochen geblieben. Die Tübinger Theologen Ferdinand Christian BaurFerdinand Christian Baur (1792–1860) und David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich setzten seinem Programm einer VersöhnungVersöhnung, Versöhnungswerk von moderner Wissenschaft und christlichem Glauben das Projekt einer wissenschaftlichen Theologie entgegen. Auch sie knüpfen an die ErkenntniskritikErkenntniskritikKantsKant, Immanuel und deren Weiterführung in der klassischen Deutschen Philosophie an. Auf unterschiedliche Weise beziehen sich beide auf die Philosophien Friedrich Wilhelm Joseph SchellingsSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1775–1854) und Georg Wilhelm Fried[72]rich HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich. In seinem Frühwerk Symbolik und Mythologie, oder die Naturreligion des Altertums, dessen erster Band 1824 erschien, skizzierte BaurBaur das Programm einer wissenschaftlichen Theologie. Religion versteht er hier noch im Anschluss an Schleiermacher als eine Bestimmung des Bewusstseins. Theologie ist kritische GeschichtswissenschaftGeschichtswissenschaft, Geschichtsforschung, und ihr Gegenstand ist, wie es mit deutlicher Anspielung auf Schellings Philosophie um 1800 heißt, die Geschichte als Offenbarung Gottes. Eine solche Geschichtskonzeption ist nicht ohne Philosophie möglich. Dem Tübinger Theologen geht es darum, Theologie, Philosophie und Geschichte zu vermitteln. Die Geschichte ist der Ort, an dem sich die Idee realisiert. Allerdings hält Baur zugleich an der Differenz von Unendlichem und Endlichem, Natur und Geist fest. Eine Einheit von Urbild und Geschichte, wie sie Schleiermacher in seiner ChristologieChristologie behauptet hatte, kann es somit nicht geben.

Baur unterscheidet damit wieder zwischen Glaube und GeschichteGlaube und Geschichte. Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Theologie besteht in der vorurteilslosen Rekonstruktion der Quellen der christlichen ReligionReligionchristliche mit den Mitteln der GeschichtswissenschaftGeschichtswissenschaft, Geschichtsforschung. Die Schüler des Tübinger Theologen Eduard ZellerZeller, Eduard (1814–1908) und vor allem David Friedrich StraußDavid Friedrich StraußStrauß, David Friedrich haben an das Programm ihres Lehrers angeknüpft. Letzterer veröffentlichte im Jahre 1835 den ersten Band seines Leben[s] Jesu, kritisch bearbeitet. Das Buch löste ein Erdbeben in der theologischen Landschaft aus und beendete die akademische Karriere seines Verfassers. Strauß trennt strikt zwischen empirischer Geschichte und überzeitlicher WahrheitWahrheit der Religion. Vor dem Hintergrund dieser Unterscheidung plädiert er für eine wissenschaftliche Theologie ohne Voraussetzungen. Die historische Kritikhistorische Kritik ist vorbehaltlos, und das meint, ohne theologische Rücksichten auf die neutestamentlichen Urkunden anzuwenden. Da der Tübinger Theologe jedoch Geschichte und Idee unterscheidet, bleibt die Wahrheit des Christentums von der Kritik der evangelischen Geschichte unberührt.

Auf der Grundlage dieses Theorieprogramms hat StraußStrauß, David Friedrich die Geschichte Jesu, wie sie von den neutestamentlichen Autoren berichtet wird, einer kritischen Analyse unterworfen. Seine Bilanz fällt deutlich negativ aus. Den neutestamentlichen Evangelien liegen keine geschichtlichen Ereignisse zugrunde. Der chronologische Ablauf der Wirksamkeit Jesu ist in seinen Grundzügen vielmehr nach dem Vorbild des Alten Testaments gestaltet. Die [73]Vorstellung eines MessiasMessias wird von den frühen Gemeinden auf Jesus von Nazareth angewandt, so dass er als Erfüllung der alttestamentlichen Weissagungen erscheint. Von dem Leben Jesu, welches sich aus den Evangelien im historischen Rückschlussverfahren rekonstruieren lässt, bleibt lediglich ein dürres Gerüst übrig. Strauß bezeichnet die Darstellungsart das Neue Testament als Mythosdes Neuen Testaments als MythosMythos. Der Begriff soll den Charakter der neutestamentlichen Geschichte als Konstruktion der frühen Gemeinden unterstreichen. Der neutestamentliche Mythos von Jesus ist allerdings keine willkürliche Erfindung. Bei dem Christus des Glaubens, wie ihn die Evangelien darstellen, handelt es sich um eine „absichtslos dichtende Sage“. In „geschichtsartigen Einkleidungen“ (Strauß 1835, 75) kommt die Idee des Christentums zur Darstellung, aber keine sich so zugetragen habende Geschichte.

Der Jesus der Geschichtehistorischer Jesus, Jesus der Geschichte, irdischer Jesus und der Christus des Glaubens treten bei dem Tübinger in einen Gegensatz, der sich nicht mehr vermitteln lässt. Auch die Religion bezieht sich nicht auf historische Fakten. Ihr Gegenstand ist die Idee des Christentums. StraußStrauß, David Friedrich versteht sie als ewige Einheit von Gott und Mensch. Diese Idee kommt in den Evangelien in FormForm (Philosophie) einer Geschichte, nämlich als ein menschlicher Lebenslauf zur Anschauung. Auch wenn die neutestamentlichen Erzählungen von der historischen Kritikhistorische Kritik aufgelöst werden, bleibt die WahrheitWahrheit der Idee bestehen. Sie und ihre Verwirklichung sind unabhängig von der Historie.

Literatur

Ferdinand Christian Baur: Die christliche GnosisGnosis, Gnostizismus oder die christliche ReligionReligionchristlichesphilosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Tübingen 1835.

Ferdinand Christian Baur: Die christliche Lehre von der Versöhnung in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis auf die neueste Zeit, Tübingen 1838.

Fridrich Wilhelm Graf: Kritik und Pseudo-Spekulation. David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich als Dogmatiker im Kontext der positionellen Theologie seiner Zeit, München 1982.

Peter C. Hodgson: The Formation of Historical Theology. A Study of Ferdinand Christian Baur, New York 1966.

Dietz Lange: Historischer Jesus oder mythischer Christus. Untersuchungen zu dem Gegensatz zwischen Friedrich SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst und David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich, Gütersloh 1975.

David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet, 2 Bde., Tübingen 1835/36.

David Friedrich StraußStrauß, David Friedrich: Die christliche Glaubenslehre in ihrer geschichtlichen Entwicklung und im Kampfe mit der modernen Wissenschaft, 2 Bde., Tübingen 1840/41.

Johannes Zachhuber: Theology as Science in Nineteenth-Century Germany. From F.C. Baur to Ernst Troeltsch, Oxford 2013.

[74]Aufgaben

1 Informieren Sie sich über Grundzüge der historischen TheologieTheologiehistorische.

2 Lesen Sie die Vorrede des ersten Bandes des Leben[s] Jesu von StraußStrauß, David Friedrich, und beschreiben Sie seinen theologischen Standpunkt.

3 Was kritisiert StraußStrauß, David Friedrich an der ChristologieChristologie von SchleiermacherSchleiermacher, Friedrich Daniel Ernst? Fassen Sie seine Argumente in Thesen zusammen.

d. Albrecht RitschlRitschl, Albrecht

Das Tübinger Programm einer wissenschaftlichen TheologieProgramm einer wissenschaftlichen Theologie zeitigt bei StraußStrauß, David Friedrich in der ChristologieChristologie Konsequenzen, an denen sich die theologische Debatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts abarbeiten wird. Es bildet auch den problemgeschichtlichen Hintergrund der Theologie Albrecht RitschlsRitschl, Albrecht (1822–1889). Er und seine einflussreiche Schule dominieren den Diskurs am Ende des Jahrhunderts. Die theologischen Anfänge des in Göttingen lehrenden Theologen liegen in der Schule Ferdinand Christian Baurs. Dessen entwicklungsgeschichtlicheentwicklungsgeschichtlich Sicht der Entstehung der christlichen ReligionReligionchristliche teilte er zunächst. Davon zeugt seine 1849 verfasste Abhandlung Die Entstehung der altkatholischen Kirche. In der 1857 erschienenen zweiten Auflage dieser Schrift ging Ritschl allerdings auf Distanz zur Theologie seines Lehrers. Baurs Programm einer wissenschaftlichen Theologie sowie die zugrunde liegende Rezeption der Philosophie HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich werden jetzt von ihm der Kritik unterzogen. In seinen späteren Hauptwerken aus den 1870er Jahren, Die christliche Lehre von der RechtfertigungRechtfertigung und VersöhnungVersöhnung, Versöhnungswerk (3 Bde., 1870–1874, 3. Aufl. 1888/89) und Unterricht in der christlichen Religion (1875), hat Ritschl dann ein theologisches Programm vorgelegt, welches auf dem Gedanken der Offenbarung Gottes fußt, die strikt an die Gemeinde gebunden istOffenbarung Gottes und Gemeinde. Dem Gegensatz von Hegelscher Entwicklungslogik auf der einen Seite und OffenbarungstheologieTheologieOffenbarungs- auf der anderen liegt indes ein gemeinsames Interesse der beiden Antipoden zugrunde. Auch Ritschl geht es um das Programm einer wissenschaftlichen Theologie, und er ist zudem der Überzeugung, an die wahren Intentionen des Tübinger Theologen anzuknüpfen. Die Konstruktion der Theologie als Wissenschaft erfolgt allerdings signifikant anders als bei Baur und seinen Schülern.

 

[75]Der strikten Unterscheidung von Glaube und GeschichteGlaube und GeschichteGlaube und Geschichte setzt RitschlRitschl, Albrecht deren Verbindung entgegen. Dafür stehen der Begriff der Offenbarung sowie die Betonung des WundersWunder als notwendiger Bestandteil der Religion. Beide Begriffe zielen nicht auf eine Erneuerung eines vormodernen Religionsverständnisses. Der OffenbarungsbegriffOffenbarungsbegriff steht für den personalen Vollzug der Religion. Ritschl teilt nämlich die Überzeugung der Tübinger von der Realisierung der Idee. Aber gegen BaurBaur und dessen Hegelinterpretation betont er die individuelle Realisierung der Idee in der Geschichte. Deshalb verbindet er die Idee wieder mit der PersonPerson Jesus Christus. Dieser ist die Offenbarung Gottes in der Geschichte. Hinter der OffenbarungstheologieTheologieOffenbarungs- des Göttingers steht das Interesse an dem Einzelnen und Individuellen in der Geschichte. Als bloßes Durchgangsmoment in dem logischen Prozess der Entwicklung der Idee hin zu ihrer SelbsterfassungSelbsterfassung, wie in den Konzeptionen der Baur-Schule, erscheint es ihm unterbestimmt.

RitschlRitschl, Albrecht verbindet den GottesgedankenGottesgedanke mit seiner Realisierung in der Geschichte als Glaube. Das meint der Begriff des übernatürlichen und überweltlichen Reich GottesReich Gottes, Königsherrschaft GottesReiches Gottes. Es ist die Realisierung Gottes, und sie erfolgt durch die Gemeinde. Diese wiederum ist auf Jesus Christus bezogen. Als geschichtliche Offenbarung Gottes ist er Stifter der GemeindeGemeinde und als vollkommene Erkenntnis Gottes deren bleibender Bezugspunkt. Im Akt des Glaubens wird die Erkenntnis Gottes sowie die Bestimmung des Menschen zum Reich Gottes beim Einzelnen wirklich. Damit ist der GlaubensbegriffGlaubensbegriff die Grundlage von Ritschls Theologie. Die Dogmatik beschreibt den Glaubensvollzug und dessen Inhalte. In ihnen stellt sich der Glaube als ein geschichtliches Geschehen selbst dar.

In RitschlsRitschl, Albrecht Dogmatik, wie sie im Unterricht sowie im dritten Band von RechtfertigungRechtfertigung und Versöhnung ausgeführt ist, fungiert die Christologie als Bild des GlaubensChristologieChristologie als Bild des Glaubens von sich selbst. Der Glaube ist der personale Vollzug der Wahrheit Gottes in der Geschichte. Das Reich GottesReich Gottes, Königsherrschaft Gottes als ethisch bestimmter Endzweck Gottes und der Menschheit realisiert sich allein im individuellen Akt des Glaubens. Darin überwindet der Einzelne die Welt. Die Überwindung der Welt im Glauben erfolgt nun so, dass der Einzelne in die Allgemeinheit des Reiches Gottes aufgehoben wird. Das Handeln der Gemeinde ist durch die sittliche Allgemeinheit der (ethischen) Wahrheit Gottes bestimmt. Deshalb ist mit dem Reich-Gottes-[76]Gedanken Ritschls eine Kritik an der Individualität verbunden. Der personale Vollzug ist zwar ein notwendiger Bestandteil der Realisierung des Reiches Gottes, aber er wird zugleich durch das übernatürliche und überweltliche Reich Gottes negiert. Es verwirklicht sich in der Welt gegen sie.

Literatur

Albrecht RitschlRitschl, Albrecht: Unterricht in der christlichen ReligionReligionchristliche. Studienausgabe nach der ersten Auflage von 1875, hrsg. v. Christine Axt-Piscalar, Tübingen 2002.

Albrecht RitschlRitschl, Albrecht: Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und VersöhnungVersöhnung, Versöhnungswerk, 3 Bde., Hildesheim/Zürich/New York 1978 (ND der 2. Auflage von 1882/83).

Arnulf von Scheliha: Albrecht RitschlRitschl, Albrecht, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und VersöhnungVersöhnung, Versöhnungswerk, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S. 254–262.

Folkart Wittekind: Geschichtliche Offenbarung und die WahrheitWahrheit des Glaubens. Der Zusammenhang von OffenbarungstheologieTheologieOffenbarungs-, GeschichtsphilosophiePhilosophieGeschichts- und EthikEthik bei Albrecht RitschlRitschl, Albrecht, Julius Kaftan und Karl Barth (1909–1916), Tübingen 2000.

Johannes Zachhuber: Theology as Science in Nineteenth-Century Germany. From F.C. Baur to Ernst Troeltsch, Oxford 2013.

Aufgaben

1 Lesen Sie den Artikel von Arnulf von Scheliha über RitschlsRitschl, Albrecht Schrift Rechtfertigung und VersöhnungVersöhnung, Versöhnungswerk, und informieren Sie sich über deren Gliederung.

2 Skizzieren Sie in Thesen Grundgedanken der Theologie RitschlsRitschl, Albrecht.

3 Informieren Sie sich in einer Theologiegeschichte über die RitschlRitschl, Albrecht-Schule.

2.6 Dogmatik als theologische Rekonstruktion der Religion
a. Ernst TroeltschTroeltsch, Ernst und die Krisis des HistorismusHistorismusKrisis des

Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte Albrecht RitschlRitschl, Albrecht Offenbarung und Geschichte wieder miteinander verbunden. Jesus Christus ist die geschichtliche Offenbarung Gottes. Die Aufgabe der Theologie besteht darin, die Inhalte des Glaubens als Darstellungen des Glaubensvollzugs in einem systematischen Zusammenhang zu erörtern. Die diesem Programm einer wissenschaftlichen TheologieProgramm einer wissenschaftlichen Theologie zugrundeliegende Rückbindung des Glaubens an die Geschichte wird um 1900 zum Ausgangspunkt neuer Kontro[77]versen. Im Jahre 1908 veröffentlichte Ernst TroeltschTroeltsch, Ernst, zur zweiten Generation der Ritschl-Schule gehörend, in der von dem der Baur-Schule nahestehenden Jenaer Theologen Adolf HilgenfeldHilgenfeld, Adolf (1823–1907) gegründeten Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie den Artikel Rückblick auf ein halbes Jahrhundert der theologischen Wissenschaft. In seiner Bilanz der Kontroversen über die FormForm (Philosophie) der Theologie als Wissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterzieht der Autor den Theologiebegriff seinerseits einer Transformation.

TroeltschTroeltsch, Ernst, der unter anderem in Göttingen bei RitschlRitschl, Albrecht studierte und zu den wichtigsten Vertretern der sogenannten *religionsgeschichtliche Schulereligionsgeschichtliche Schulereligionsgeschichtlichen Schule gehörte, plädierte vor dem Hintergrund der Krisis des HistorismusHistorismusKrisis des für einen grundlegenden Umbau der Theologie.

Infobox

Krisis des HistorismusHistorismusKrisis des:

In seiner zweiten unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, die 1874 erschien, hatte schon Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich (1844–1900) auf die Folgewirkungen der modernen GeschichtswissenschaftenGeschichtswissenschaften für das Leben aufmerksam gemacht. Die Unmengen an historischen Fakten, die von der Fachhistorie zutage gefördert werden, hemmen das Leben. Um 1900 diskutierte man schließlich in allen Wissenschaften über die Folgen des HistorismusHistorismus. In seinem Essay Krisis des HistorismusHistorismusKrisis des (1922) fasste Ernst Troeltsch die ethischen und gesellschaftlichen Konsequenzen der Durchsetzung des historischen Bewusstseins im 19. Jahrhundert zusammen. Unter Historismus versteht Troeltsch nicht nur eine Angelegenheit der historischen Fachwissenschaften oder, wie Friedrich MeineckeMeinecke, Friedrich, eine Anwendung der in der „großen deutschen Bewegung von LeibnizLeibniz, Gottfried Wilhelm bis zu GoethesGoethe, Johann Wolfgang Tode gewonnenen neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben“ (Meinecke 1965, 2), sondern eine grundsätzliche „Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt“ (Troeltsch 2002, 437). Der Historismus ist nicht nur eine deutsche Angelegenheit. Als „eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt“ (Troeltsch 2002, 438) stellt er die Signatur des modernen Bewusstseins überhaupt dar. Dessen AmbivalenzAmbivalenz, Ambivalenzerfahrungen werde daran sichtbar, dass diese Denkform „alle ewigen WahrheitWahrheitewigeen“ erschüttert, seien diese nun „kirchlich-supranaturaler“ Art, seien „es ewige VernunftwahrheitVernunftwahrheiten und rationale Konstruktionen von Staat, RechtRecht, Gesellschaft, Religion und Sittlichkeit“, oder „seien es staatliche Erziehungszwänge, die sich auf die weltliche AutoritätAutorität und ihre herrschende FormForm (Philosophie) beziehen“ (Troeltsch 2002, 437f.).

Der in Heidelberg und später in Berlin lehrende Theologe nimmt den Anspruch einer wissenschaftlichen Theologie auf. Allerdings gelte dieser nicht für alle theologischen Disziplinen. Allein die historischen, also die biblischen und kirchengeschicht[78]lichen Fächer der Theologie die historischen Fächer der Theologieerfüllen die Bedingungen der Wissenschaftlichkeit. Für ihre Arbeit ist die historisch-kritische Methodehistorisch-kritische Methode konstitutiv, und an ihr hängt deren Charakter als Wissenschaft. Auf methodisch kontrollierte Weise rekonstruieren diese Disziplinen die Geschichte der christlichen ReligionReligionchristliche im Kontext der religionsgeschichtlichen Entwicklung im alten Orient, im Zeitalter des *Hellenismus, des römischen Reiches etc. Dabei folgen sie, und das macht ihre Wissenschaftlichkeit aus, den Standards, die für jede historische Wissenschaft gelten. Historische Rekonstruktionen der biblischen Grundlagen der christlichen Religion sowie von dessen Geschichte führen allerdings nicht zu einer Begründung der normativen Geltung des Christentums. Im Gegenteil: die historische Betrachtung legt die Relativität der biblischen Schriften offen und destruiert den von dem alten Protestantismus erhobenen Anspruch, die Bibel verdanke sich einer wortwörtlichen Inspiration. Glaube und GeschichteGlaube und Geschichte, die RitschlRitschl, Albrecht zusammengeführt hatte, werden von TroeltschTroeltsch, Ernst wieder getrennt.

Der die theologische Dogmatiktheologischen DogmatikDogmatik sowie den praktischen Fächern fehlen solche Methoden. Deshalb kommt ihnen der Status einer Wissenschaft nicht zu. Bei der Dogmatik handelt es sich, wie TroeltschTroeltsch, Ernst formuliert, um ein Stück der praktischen Theologie. Wie diese ist sie eine Art BekenntnisBekenntnis. Zwar setze die Dogmatik wissenschaftliche Kenntnisse voraus, aber sie selbst ist keine eigentliche Wissenschaft.

Durch die von TroeltschTroeltsch, Ernst vorgeschlagene wissenschaftstheoretische Neugestaltung soll die Theologie einen konstruktiven Beitrag zur kritischen Eindämmung der Krise des HistorismusHistorismus leisten. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich das historisch-kritische Denken in allen Kulturwissenschaften durchgesetzt. Die Geschichte avancierte zum Leitparadigma des Denkens. Zudem war das religionskundliche Wissen über die Religionen und ihre Geschichte zunehmend angewachsen. Und schließlich wurden um 1900 die Folgen des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses der Gesellschaft unübersehbar. Die Industrialisierung hatte sich in allen europäischen Ländern sowie in Nordamerika durchgesetzt und traditionale Lebenswelten sowie ihre Moralen verdrängt. Die Aufnahme dieses modernen Problemhorizonts in die Theologie erzwingt deren grundlegenden Umbau zu einer Kulturwissenschaft des Christentums.

[79]Infobox

Modernisierung:

 

Unter Modernisierung versteht man einerseits die Prozesse, die „sich bei der Übernahme der industriellen, der westlichen Zivilisation in Ländern der dritten Welt abspielen“, und andererseits soll der Begriff „den einmaligen Prozeß des ungeheuer schnellen ökonomischen, sozialen, kulturellen, politischen Wandels beschreiben, der sich in den letzten 200 Jahren, seit der Doppelrevolution des späten 18. Jahrhunderts, der industriellen und der demokratischen Revolution, zuerst in der europäisch-atlantischen Sphäre und dann in der ganzen Welt abgespielt hat“ (NipperdeyNipperdey, Thomas1986, 44).

Im Fokus des theologischen und philosophischen Interesses von TroeltschTroeltsch, Ernst steht die Frage, wie sich unter den Bedingungen des historischen Denkens Begründung von geltenden Normengeltende Normen begründen lassen. Er hat sich dieser Problemstellung in seiner großen Abhandlung Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte von 1902 und in seinem Fragment gebliebenen späten Hauptwerk Der HistorismusHistorismus und seine Probleme, dessen erster Band 1922 erschien, angenommen. Ein bloßer Rekurs auf die geoffenbarte Schrift ist für die Begründung von Normen unter den Bindungen des historischen Wissens ebenso wenig möglich wie die Konstruktion einer religionsgeschichtlichen Entwicklung, die in einer absoluten ReligionReligionabsolute gipfelt. Die Geschichte kennt nur Relativitäten, aber keine absoluten Normen. Troeltschs Vorschlag zur Begründung von Normen resultiert aus einer Verknüpfung von zwei Perspektiven. Die historische Forschung ist mit einer GeschichtsphilosophiePhilosophieGeschichts- zu verbinden. Während die erstere die Geschichte anhand der Quellen rekonstruiert, obliegt der zweiten die Bestimmung von geltenden Normen. Das kann lediglich durch eine subjektive EntscheidungEntscheidung geschehen. Sie ist jedoch selbst durch die Geschichte bestimmt, die sie beschreibt, und wirkt sich auch in der Auswahl der Quellen und deren Gewichtung aus, aber sie ist ein eigenständiges Moment, welches von einer gleichsam objektiven Geschichtsbetrachtung zu unterscheiden ist.

In jeder GeschichtskonstruktionGeschichtskonstruktion steckt ein methodischer ZirkelZirkel. Sie basiert zum einen auf Quellen, die mit den Mitteln der historischen Kritikhistorische Kritik zu rekonstruieren sind, und zum anderen verdankt sich das Bild der Geschichte einem konkreten Standpunkt, der freilich selbst in einem bestimmten Kontext steht. TroeltschTroeltsch, Ernst[80]war der Auffassung, der Religions- sowie der GeschichtsphilosophiePhilosophieGeschichts- obliege die Reflexion dieses geschichtsmethodologischen ZirkelsZirkelgeschichtsmethodologischer. Nur diese beiden, und nicht die lebensweltliche Religion, durchschauen gewissermaßen die Geschichtlichkeit und Wandelbarkeit jeder Norm und WahrheitWahrheit. Mit Troeltschs Geschichtsphilosophie war jedoch auch die Differenz von empirischer GeschichtsforschungGeschichtswissenschaft, Geschichtsforschung und NormativitätNormativität in den Blick gerückt. Der Glaube ist ein geschichtliches Geschehen. Er bezieht sich auf Jesus Christus. Aber das Bild des Glaubens von der Geschichte unterscheidet sich von dem der Geschichtswissenschaft. Die Dogmatik, so wurde deutlich, lässt sich nicht mehr an die Ergebnisse der kritischen ExegeseExegese anknüpfen. Troeltschs geschichtsphilosophischer Begründung von Normen, also seiner Antwort auf die Frage nach der Absolutheit des Christentums in der Religionsgeschichte, kommt eine Katalysatorfunktion für die weiteren Debatten zu.

Literatur

Mark D. Chapman: Ernst TroeltschTroeltsch, Ernst and Liberal Theology. Religion and Cultural Synthesis in Wilhelmine Germany, Oxford 2001.

Friedrich MeineckeMeinecke, Friedrich: Die Entstehung des HistorismusHistorismus, München 21965.

Thomas Nipperdey: Probleme der Modernisierung in Deutschland, in: ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 21986, S. 44–59.

Jan Rohls: Protestantische Theologie der Neuzeit, Bd. II: Das 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 1–185.

Ernst TroeltschTroeltsch, Ernst: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) (= KGA, Bd. 5), hrsg. v. Trutz Rendtorff, Berlin/New York 1998.

Ernst TroeltschTroeltsch, Ernst: Die Krisis des HistorismusHistorismusKrisis des, in: ders.: Schriften zur Politik und Kulturphilosophie (1918–1923) (= KGA, Bd. 18), hrsg. v. Gangolf Hübinger, Berlin/New York 2002, S. 437–455.

Folkart Wittekind: Ernst TroeltschTroeltsch, Ernst, Die Absolutheit des Christentums und die ReligionsgeschichteReligionsgeschichte, in: Christian Danz (Hrsg.): Kanon der Theologie. 45 Schlüsseltexte im Portrait, Darmstadt 32012, S. 269–276.

Aufgaben

1 Informieren Sie sich in einer Theologiegeschichte über die Debatten um 1900.

2 Lesen Sie den Beitrag von Folkart Wittekind über Troeltschs Schrift Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte.

3 Wie begründet Ernst TroeltschTroeltsch, Ernst die Stellung des Christentums in der Religionsgeschichte?

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