"numquam abrogata"?

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Kapitel 2: Überblick über den Forschungsstand

Trotz der enormen innerkirchlichen Wichtigkeit der Thematik und der Aktualität von Summorum Pontificum ist die Anzahl der Publikationen, die sich um eine genauere Beleuchtung der numquam abrogata-Formulierung Benedikts XVI. bemühen, äußerst übersichtlich. Selbst eine Publikation wie Anselm J. Gribbins Buch „Pope Benedict XVI and the liturgy“ aus dem Jahr 2010, die sich explizit den liturgischen Entwicklungen unter Papst Benedikt XVI. – darunter auch Summorum Pontificum – widmet, erwähnt jene strittige Formulierung eher am Rande und versucht erst gar nicht, diese zu erklären20. Auch das im Jahr 2008 von Albert Gerhards herausgegebene Buch „Ein Ritus – zwei Formen“, das die Bestimmungen des Motu Proprio Summorum Pontificum beleuchtet, bietet keine Lösungsansätze für die Behauptung einer niemals abgeschafften alten Messe an21. Auf mögliche Erklärungsversuche für die numquam abrogata-These richten nur wenige Veröffentlichungen tatsächlich ein Augenmerk. Zunächst ist hier Martin Rehak zu nennen, der im Jahr 2009 in seinem Buch „Der außerordentliche Gebrauch der alten Form des Römischen Ritus“ das Motu Proprio Summorum Pontificum eingehend untersucht hat und hierbei auch auf verschiedene Erklärungsmöglichkeiten der numquam abrogata-These eingegangen ist22. Rehaks Darstellung der in Frage kommenden Erklärungsmöglichkeiten stellt die detaillierteste bis zum heutigen Tag erschienene dar. Die Mehrzahl der theoretischen Erklärungsansätze für jene strittige Formulierung Benedikts XVI. werden von Rehak – jedoch wohlgemerkt in kurzer und oft wenig detaillierter Form – behandelt. Insgesamt hält Rehak keinen dieser Ansätze für zufriedenstellend23. Bereits ein Jahr zuvor hatte Norbert Lüdecke in einem Beitrag im Liturgischen Jahrbuch eine kirchenrechtliche und ekklesiologische Analyse von Summorum Pontificum vorgenommen, die auch auf diverse Theorien eingeht, welche das alte Missale als „niemals abgeschafft“ ansehen24. Lüdecke verweist in diesem Zusammenhang auf die – seiner Meinung nach nicht haltbaren – Theorien der Gleichsetzung einer späteren Erlaubnis mit einer früheren Erlaubnis, einer Immunisierung des Missale von 1962 gegen eine ersetzende Reform auf Grundlage des vierten Artikels der Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium und einer verbindlichen Neudeutung des Gesetzgebungsaktes Papst Pauls VI. durch Papst Benedikt XVI. unter Berufung auf die primatiale Vollgewalt25. Auch Matthias Pulte widmete sich jenem Motu Proprio Papst Benedikts XVI. im Jahr 2010 in einer Abhandlung im Archiv für katholisches Kirchenrecht, in welcher er auch auf die numquam abrogata-These eingeht26. Pulte verweist zur Erklärung dieser These einerseits auf die Indultpraxis der Jahrzehnte vor dem Motu Proprio, andererseits auf die Verwendung des Begriffs derogatio – das wörtlich lediglich eine teilweise Abschaffung oder Aufhebung bezeichnet – im Zuge der Abschaffung des Missale von 1962, wobei er dem letztgenannten Ansatz wohl noch die größere Plausibilität zubilligt27. Nicht zuletzt geht Wolfgang F. Rothe in seinem Buch „Liturgische Versöhnung“ kurz auf die numquam abrogata-Formulierung ein: er verweist als Begründung auf die nach dem Inkrafttreten des neuen Missale weiterhin bestehende Möglichkeit der Feier der Messe von 1962 für Priester im fortgeschrittenen Alter aufgrund der dementsprechenden Ausnahmeregelung – trotz dieser theoretischen Möglichkeit geht Rothe von einem faktischen Verbot des alten Missale aus28. Aus der Knappheit der Forschungen, die sich in der Folgezeit des Motu Proprio Summorum Pontificum der numquam abrogata-Thematik widmen, folgt zwangsläufig, dass der größte Literaturschwerpunkt dieser Arbeit breit gestreut, sowie bereits vor der Veröffentlichung von Summorum Pontificum erschienen ist und auch jeweils lediglich kleinere Teilaspekte behandelt, die in dieser Arbeit zu einem großen Ganzen zusammengebracht werden sollen.

20 Vgl. Gribbin, Anselm J., Pope Benedict XVI and the liturgy. Understanding recent liturgical developments, Leominster 2011, 144.

21 Vgl. Gerhards, Albert (Hrsg.), Ein Ritus – zwei Formen. Die Richtlinie Papst Benedikts XVI. zur Liturgie, Freiburg im Breisgau 2008.

22 Vgl. Rehak, Martin, Der außerordentliche Gebrauch der alten Form des Römischen Ritus. Kirchenrechtliche Skizzen zum Motu Proprio Summorum Pontificum vom 07.07.2007, Sankt Ottilien 2009.

23 Vgl. ebd., 46-55.

24 Vgl. Lüdecke, Norbert, Kanonistische Anmerkungen zum Motu Proprio Summorum Pontificum, in: LJ 58 (2008), 3-34.

25 Vgl. ebd., 11ff.

26 Vgl. Pulte, Matthias, Von Summorum Pontificum bis Anglicanorum Coetibus. Gesetzgebungstendenzen im Pontifikat Benedikts XVI., in: AfkKR 179 (2010), 3-19.

27 Vgl. ebd., 6ff.

28 Vgl. Rothe, Wolfgang F., Liturgische Versöhnung. Ein kirchenrechtlicher Kommentar zum Motu proprio „Summorum Pontificum“ für Studium und Praxis, Augsburg 2009, 59ff.

Kapitel 3: Interpretationslinien der numquam abrogata-Formulierung

3.1 Traditionsbasierte Theorien

Unter traditionsbasierte Theorien lassen sich Theorien einer Weitergeltung der alten Messe zusammenfassen, die ihren Geltungsanspruch aus dem geschichtlichen Werdegang der Messe – hauptsächlich dem Trienter Konzil und dessen Folgewirkungen – ableiten. Um diese traditionsbasierten Theorien auf ihre Stichhaltigkeit untersuchen zu können, wird im Folgenden zunächst ein kurzer historischer Abriss der Entwicklung der Messe seit der Antike bis zur ersten gesetzlichen Regelung im Jahre 1570 vorgenommen werden. Anschließend wird eine inhaltliche Darstellung der Promulgationsbulle Quo primum des Missale Romanum aus dem Jahre 1570 erfolgen und die möglichen Intentionen des Gesetzgebers, Papst Pius V., beleuchtet werden. Danach werden die unterschiedlichen traditionsbasierten Theorien vorgestellt und auf ihre Stichhaltigkeit untersucht werden. Diese reichen von der Unwiderruflichkeits- und der Privilegientheorie, die beide auf Quo primum basieren, bis hin zur Gewohnheitsrechttheorie, welche die angeblich weiterhin bestehende Legitimität der tridentinischen Messe durch das Gewohnheitsrecht gewährleistet sieht. Abschließend soll dann noch ein kurzes Zwischenfazit gezogen werden.

3.1.1 Zeitlicher Abriss der Vorgeschichte bis zur ersten gesetzlichen Regelung im Jahr 1570

In seinen Anfängen war das Christentum noch stark an das jüdische Leben rückgebunden. So beteiligte sich etwa die judenchristliche Urgemeinde in Jerusalem einerseits nach wie vor am Tempelkult und Synagogengottesdienst, andererseits feierte sie die urchristliche Eucharistie in Form eines gemeinsamen Mahls29. Da im Laufe der Zeit die Größe der Gemeinden immer mehr anwuchs, gewann die Eucharistie festere Strukturen: die Vielzahl der Tische reduzierte sich auf einen Tisch – der den Ursprung des christlichen Altars darstellt. An diesem sprach der Vorsteher das Preisgebet über Brot und Wein. Des Weiteren wurde der Wortgottesdienst aus dem Synagogengottesdienst herausgelöst und mit dem Herrenmahl verbunden. Diese Verbindung aus Wortgottesdienst und Herrenmahl zu einer einzigen Feier des Gottesdienstes hatte sich bis zur Mitte des ersten Jahrhunderts etabliert und wurde nun auch mit dem Begriff der „Eucharistie“ bezeichnet30.

Die erste genauere Beschreibung der frühen Liturgie stellt die „Apostolische Überlieferung“ des Hippolyt von Rom31, die um das Jahr 215 entstanden sein dürfte, dar. Jedoch war zu dieser Zeit noch eine Freiheit zur spontanen Erstellung liturgischer Texte grundsätzlich gegeben. Es handelte sich allerdings trotz der damaligen Differenzierungen aufgrund der verschiedenen kulturellen Ausprägungen bei der Eucharistiefeier immer um eine Danksagung an den Vater für die in Christus geschehene Erlösung32. Im vierten Jahrhundert bedingte schließlich der Wandel der Kirche von einer bedrängten Minderheit zur Reichskirche, der eine starke quantitative Zunahme der Gläubigen mit sich brachte, zwangsläufig einen höheren Grad an festen Strukturen in der Eucharistiefeier. Zu beachten ist, dass allerdings zu dieser Zeit noch eine große Anzahl an verschiedenen gleichberechtigten Formen der Liturgie nebeneinander existierte: der Mittelmeerraum war im Wesentlichen geprägt von seinen verschiedenen Zentren der antiken Hochkultur, die jeweils eine selbst ausdifferenzierte Form der Liturgie hatten33. Für den Zeitraum des vierten bis sechsten Jahrhunderts lassen sich in Bezug auf die abendländische Liturgie zwei Grundtypen unterscheiden, nämlich die nordafrikanisch-römische und die gallische Liturgie. Während davon ausgegangen werden kann, dass in der nordafrikanischen Liturgie von Anfang an Latein die Sprache der Liturgie war34, fand in Rom erst im Laufe der zweiten Hälfte des dritten Jahrhunderts ein Wechsel von der griechischen zur lateinischen Sprache statt35. Einheitliche Texte für die Liturgie gab es zu dieser Zeit weder in Nordafrika, noch in Rom, wo schließlich erst im Laufe der Zeit eine Ordnung der Liturgie stattfinden sollte36 – selbst im Frühmittelalter wurden dort im päpstlichen Gottesdienst noch andere Messbücher verwendet, als in den Titelkirchen37. Die Anfänge des Missale Romanum lassen sich vermutlich in das Ende des sechsten nachchristlichen Jahrhunderts einordnen, als Papst Gregor der Große zu Beginn seines Pontifikats – wahrscheinlich im Jahre 592 – ein Sakramentar zusammengestellt hat. Dabei ging es ihm jedoch sicherlich nicht um eine lange Gültigkeit dieses Dokuments über sein Pontifikat hinaus, sondern lediglich um eine Neuordnung des damaligen päpstlichen Stationsgottesdienstes38. Im sechsten Jahrhundert hatte auch mit der Kirche von Ravenna die erste Diözese Norditaliens den Messritus aus Rom übernommen39. Im Laufe des siebten Jahrhunderts stagnierten diese ersten leichten Vereinheitlichungsversuche jedoch, da dann lediglich noch ältere Messbücher mit dem Gregorianum vermischt wurden40. Erst im achten Jahrhundert bildete sich ein „Reichsmessbuch“ der Langobarden heraus41, das aufgrund der lebhaften gegenseitigen Beziehungen zwischen der gallofränkischen und der römischen Liturgie42 schließlich gegen Ende des Jahrhunderts an den Königshof in Aachen gelangte und in der Folge im westlichen Frankenreich und zum Teil auch in den von Karl dem Großen eroberten Gebieten eingeführt wurde43. Das Sakramentar Gregors des Großen hatte sich also zwei Jahrhunderte später bis in das Frankenreich vorgearbeitet44. Gegen Ende des achten Jahrhunderts begann außerdem die Sitte, dass das Eucharistische Hochgebet nur noch leise gesprochen wurde45. Nicht zuletzt bemühte sich Karl der Große stark um eine Vereinheitlichung auf liturgischer Ebene: Gott wolle keine „Fehler“ hören46. Im zehnten Jahrhundert sind im Metropolitan-Gebiet Roms eine Vielzahl von Messbüchern verwendet worden47. Zu dieser Zeit entstanden die Ordines, die Regieanweisungen enthielten – heute würde man sie als Rubriken bezeichnen. Davor beinhalteten die alten römischen Liturgiebücher fast ausschließlich Texte48. Unter Papst Gregor VII. begann schließlich Ende des elften Jahrhunderts in Rom eine liturgische Konsolidierungsphase. Von nun an verlangten die Päpste von den Bischöfen die Umsetzung des Gottesdienstes der römischen Kurie. Bis in das 13. Jahrhundert sollte es dauern, bis diese Bemühungen weitreichende Früchte trugen. In diese Zeit fällt auch die immer stärkere Tendenz der Individualisierung und Subjektivierung der Liturgie, da nun nicht mehr für die einzelnen Mitwirkenden je eigene liturgische Rollenbücher vorgesehen waren, sondern Vollmissalien an ihre Stelle rückten, die auch dem Priester allein eine Feier der Messe ermöglichten49. Durch neue Herren-, Marien- und Heiligenfeste wurde das Kirchenjahr in dieser Zeit außerdem immer stärker ausgeweitet. Die Heiligen- und Reliquienverehrung, sowie das Wallfahrtswesen nahmen stetig zu50. Ein großes Schauverlangen für das Heilig-Göttliche war entstanden, das in der Betonung auf der Schau der Hostie seinen Höhepunkt fand51. Gleichzeitig ging der Kommunionempfang immer weiter zurück52. Im späten Mittelalter trat dazu noch ein stark quantitatives Denken auch in religiösen Dimensionen hinzu. Die Häufigkeit der Messe wurde beinahe bis ins Absurde gesteigert: die Menge von Altären, die heute noch in den Kirchen jener Epoche zu bestaunen ist, spricht dabei für sich. Immer neue Votivmessen und immer zahlreichere Messreihen gingen mit einer schlechten Ausbildung der meisten Priester einher. Eine „Reform an Haupt und Gliedern“ war unausweichlich53.

 

3.1.2 Die Bulle Quo primum

In den Jahren von 1545 bis 1563 fand schließlich – mit großen zeitlichen Unterbrechungen – das Trienter Konzil statt54. Die letzte Sitzungsperiode in den Jahren 1562/63 widmete sich hierbei der Erneuerung der Liturgie. Jedoch wurde angesichts der Zeitknappheit lediglich eine Zusammenstellung der Missstände und eine Darstellung der Reformideen vorgenommen und in der letzten Sitzung des Konzils – statt eine Lösung im Rahmen des Konzils anzustreben – der Entschluss gefasst, die Vorarbeiten dem Papst zu übergeben und ihm die Erneuerung des Missale und Breviers, sowie die Veröffentlichung eines Index der verbotenen Bücher und eines Katechismus zu überlassen. Unter Papst Pius V. erschien dann im Jahr 1566 zunächst der Katechismus, zwei Jahre später das Brevier und im Jahre 1570 schließlich das Missale – jeweils begleitet von Bullen, deren Zweck im Wesentlichen darin bestand, diese Bücher für unbedingt verpflichtend zu erklären, mit der Ausnahme eines mindestens 200-jährigen Sonderbrauchs55. Die Bulle Quo primum wurde ab 1570 bis 1962 in identischer Fassung allen Ausgaben des Missale Romanum vorangestellt56 und soll im Folgenden einer genaueren Betrachtung ihrer Bestimmungen unterzogen werden, da diese Bulle als eines der Hauptargumente für eine etwaige Weitergeltung des alten Missale über das II. Vatikanum hinaus benutzt wird57. Zunächst wird darin betont, dass es darum gehe, „das Messbuch nach der ursprünglichen Norm und dem Ritus der heiligen Väter wieder her[zustellen]“ (Nr. 4)58. Hierzu wurden zwar die Handschriftenbestände der damals erreichbaren Bibliotheken herangezogen, jedoch war dies bei dem damaligen Stand der Liturgiegeschichte und den zur Verfügung stehenden Mitteln sicherlich ein unrealistisches Ziel59. Außerdem wären damit nachfolgenden Generationen die ja zwangsläufig stattfindenden weiteren Erkenntnisfortschritte verwehrt worden60. Stattdessen stellte die Reform vielmehr eine Einheitsgestaltung der gewordenen Liturgie der römischen Kirche dar61. Der Zweck des Messbuches wird darin gesehen, dass „die Priester […] erkennen [sollen], welche Riten und welche Zeremonien sie zukünftig bei der Feier der Messe einhalten müssen“ (Nr. 5)62. Somit wurde die Klerusliturgie festgeschrieben63, die sich seit der Karolingerzeit entwickelt hatte und der Gemeinde nur noch eine Zuschauerrolle zugestand64. Eine Kernaussage besteht darin, dass

„alle das von der heiligen Römischen Kirche […] Überlieferte überall annehmen und beachten [sollen]. Deshalb sollen von nun an und für alle künftigen Zeiten in allen Provinzen des christlichen Erdkreises […] keine anderen Messen als nach jenem Formular des von Uns herausgegebenen Messbuchs gesungen oder gelesen werden“ (Nr. 6).65

Jedoch wurde eine Ausnahme von dieser Regel gemacht, indem es ein Gewohnheitsrecht der Messfeiern für Kirchen anerkannte, wenn diese „aufgrund einer Gewohnheit 200 Jahre lang bei der Feier der Messe in diesen Kirchen ununterbrochen beobachtet worden sind“ (Nr. 6). Allen anderen Kirchen wurde der Gebrauch ihrer Messbücher untersagt und festgelegt, dass diese Konstitution „auf ewig Gültigkeit besitzen soll“ (Nr. 6)66. Die zentralste Kernaussage war die dann folgende Anordnung, „dass diesem Unseren jüngst herausgegebenen Messbuch niemals etwas hinzugefügt, daraus etwas weggenommen oder an ihm verändert werde“ (Nr. 6)67. Weiter bekräftigt wird dies noch mit der dann folgenden Bestimmung, dass

„allen und jedem einzelnen Patriarchen und Verwalter […] und anderen Personen, gleich welcher kirchlichen Würde sie sich erfreuen, selbst wenn sie Kardinäle der heiligen Römischen Kirche seien oder irgendeinen anderen Rang oder eine Vorrangstellung innehätten “

befohlen wird, „alle übrigen Gebräuche und Riten“ (Nr. 7) aufzugeben68. Daraufhin wird festgelegt, dass „das vorliegende Schreiben niemals widerrufen oder abgeändert werden [könne], vielmehr bleibt es für immer in vollem Umfang rechtskräftig bestehen“ (Nr. 9)69.

„Dem Zuvor Gesagten soll nichts entgegenstehen, […] [auch keine] Apostolische[n] Konstitutionen und Verordnungen und auf Provinzialkonzilien und Diözesansynoden gefasste allgemeine oder besondere Konstitutionen und Verordnungen“ (Nr. 10)70.

Von einem Verbot für ein allgemeines Konzil, an dieser Messe etwas zu ändern, ist bezeichnenderweise nicht die Rede. Schon das Trienter Konzil hatte ja auf liturgischem Gebiet lediglich die Grundintention, Missbräuche zu beseitigen und zu einer älteren, von Missbildungen noch freien Form von Liturgie zu gelangen71. Über das Streben nach dem Ursprünglichen war Papst Pius V. zwar – besonders in der Reform des Heiligenkalenders – hinausgegangen, trotzdem wurde in Quo primum ja die Reform der Messe als eine Rückkehr zum Ritus der heiligen Väter bezeichnet. Eine Hauptaufgabe des Trienter Konzils, mitsamt den Anstrengungen der folgenden Jahrzehnte, bestand dabei darin, einen Abwehrkampf gegen die vordringende Reformation zu führen und die Besitzstandsverhältnisse zu wahren72. Das gottesdienstliche Leben blieb jedoch zu großen Teilen gewissermaßen eine Fortführung des Mittelalters, mitsamt der Konzentration auf die Klerusliturgie und lateinische Sprache. Es war dabei gar nicht beabsichtigt, für die Masse des Volkes Zugänge zur Liturgie zu schaffen73. Die möglichen Intentionen von Papst Pius V. – besonders für seine zentralste Formulierung in Quo primum, „dass diesem Unseren jüngst herausgegebenen Messbuch niemals etwas hinzugefügt, daraus etwas weggenommen oder an ihm verändert werde“ – lassen sich aus dem historischen Kontext herleiten. Im Vorfeld des Trienter Konzils war ein sich durch das Spätmittelalter bis hin zur Reformation ziehender Niedergang der kirchlichen Verhältnisse zu beobachten, der auch den Gottesdienst erfasst hatte74. Daher wurde dann in der letzten Sitzungsperiode des Konzils eine Kommission mit einer Zusammenstellung der bestehenden Missstände der Messe beauftragt, welche aufgrund von Zeitknappheit jedoch nicht mehr im Rahmen des Konzils zur Umsetzung kam75. Die Missstände reichten dabei von dem Eindringen peripherer Elemente in das gottesdienstliche Handeln, über die Ausbreitung abergläubischer Praktiken, bis hin zu einer Kluft zwischen Gottesdienst und Volk, sowie einem neuen Zeitgeist, der vom städtischen Bürgertum, von Humanismus und der Renaissance geprägt war. Da die dringend benötigte Reform der Liturgie von unten her – also ausgehend von den Ländern, Kirchenprovinzen und Diözesen – weitestgehend erfolglos geblieben waren, war man nun in Trient gewillt, eine Reform von oben durchzusetzen76. Die angedachten Maßnahmen lassen sich im Wesentlichen drei Themenblöcken zurechnen: der Fixierung der Liturgie, der Vereinheitlichung und der Zentralisierung. Die angestrebte Fixierung der Liturgie sah man in einem dauerhaften Festschreiben einer einheitlichen Liturgie mittels einheitlicher liturgischer Bücher und einheitlicher gottesdienstlicher Ordnungen. Es sollte zu keinen eigenmächtigen teilkirchlichen Veränderungen kommen. Dies mag als kurzfristige Konsolidierungsmaßnahme geeignet gewesen sein, auf Dauer konterkarierte man jedoch den Zweck der Liturgie, indem man auf andere kulturelle Situationen und die Sprache keine Rücksicht mehr nahm und somit die Menschen ausschloss77. Die Vereinheitlichung steht dabei für eine Uniformität des gottesdienstlichen Handelns in der gesamten lateinischen Kirche. Die Vielfalt der gottesdienstlichen Formen der Teilkirchen wurde damit quasi abgeschafft und stattdessen die Liturgie der Diözese von Rom als für alle anderen verbindlich festgeschrieben. Auch diese Maßnahme hatte sicherlich in der Eindämmung von „Wildwuchs“ in der Liturgie ihre Rechtfertigung, beendete aber auch die lokalen Eigentraditionen78. Letztendlich wurde auch eine Zentralisierung der liturgischen Ordnungsbefugnis erwirkt, indem nun den Orts- und Teilkirchen mitsamt ihren Bischöfen jegliche Zuständigkeit für den Gottesdienst entzogen worden war. Dies sollte dann auch bis zum II. Vatikanum unverändert fortdauern79. Alle diese Maßnahmen können zu Recht als „Notstandsmaßnahmen“ in einer für die Katholische Kirche sehr schwierigen Zeit bezeichnet werden80. Und diese Aufgabe haben sie sicherlich souverän erfüllt, jedoch nicht ohne negative Begleiterscheinungen. Der Preis für die Abgrenzung zum Protestantismus, welche auch aufgrund der Nichtakzeptanz humanistischer Theologien auf dem Trienter Konzil zu theologischen Einengungen und Verarmungen führte81, war hoch und ist Jahrhunderte später kaum noch zu rechtfertigen. Auch kann durchaus vermutet werden, dass die Intention von Papst Pius V. weniger im Schaffen einer Notmaßnahme als Dauerzustand lag, sondern vielmehr darin, Schaden von der Kirche abzuwenden und eine Zeit der Krise zu überstehen. Dass man bereits in der Folgezeit des Trienter Konzils nicht bereit war, einen unveränderlichen Dauerzustand zu akzeptieren, lässt sich nicht zuletzt auch an den fortwährenden Eingriffen der Pius V. nachfolgenden Päpste bis zum II. Vatikanum in das tridentinische Messbuch ablesen. Exemplarisch sei an dieser Stelle auf die sehr reichhaltige Einführung neuer Heiligenfeste und die Modifikationen des liturgischen Regelwerks, die zu gewandelten Nutzungsbedingungen für das Messbuch führten, ver- wiesen82. Aufgrund dieser ständigen Veränderungen kann also gar keine Reprobationsklausel für die Zukunft enthalten gewesen sein – und selbst unter der Annahme, dass dies der Fall gewesen wäre, wäre diese ja aufgrund der fehlenden receptio legis unwirksam gewesen. Ein Widerspruch offenbart sich außerdem in der Formulierung der Wiederherstellung des „Messbuch[es] nach der ursprünglichen Norm und dem Ritus der heiligen Väter“ (Nr. 4). Diese Wiederherstellung sei möglich geworden durch einen Vergleich von „fehlerfreie[n] und unverdorbene[n] Handschriften mit allen sehr alten Handschriften Unserer Vatikanischen Bibliothek und von vielfältiger anderer Herkunft“ (Nr. 4).83 Natürlich herrschte im 16. Jahrhundert ein anderes Wissenschaftsverständnis vor, sodass die damals Beteiligten wohl nicht unbedingt mit einem weiteren liturgiewissenschaftlichen Fortschritt rechneten – heutzutage jedoch muss Jedem klar sein, dass bei einem ewigen Festschreiben des damaligen Ist-Zustandes früher oder später zwingend nicht mehr die nach bestem Wissen und Gewissen möglichst authentische Tradition gewährleistet ist84.

 

3.1.2.1 Unwiderruflichkeitstheorie

Die Wortwahl Papst Pius’ V. in der Bulle Quo primum, dass das Missale von 1570 „von nun an und für alle künftigen Zeiten“ gelten soll (Nr. 6) und „niemals etwas hinzugefügt, daraus etwas weggenommen oder an ihm verändert“ werden darf (Nr. 6)85, kann möglicherweise so interpretiert werden, als ob Pius V. das damalige Missale für immer vor jeglichen Veränderungen oder Abschaffung hätte schützen wollen. Der vermutlich Erste, der diese These vertrat, war Marcel Lefebvre86 – der Gründer der Piusbruderschaft87. Er äußerte sich hierzu in einer Predigt im Jahre 1976 anlässlich einer Priesterweihe88. Darin führte Lefebvre unter Rückgriff auf Quo primum aus, dass Papst Pius V. für immer bestimmt habe, dass kein Priester bestraft werden könne, der diese heilige Messe lese. Somit wäre selbst eine Exkommunikation ungültig, weil sie im Widerspruch stünde zu dem, was Pius V. für alle Zeit in seiner Bulle verkündet habe. Weil diese heilige Messe durch Pius V. „kanonisiert“ worden sei, sei sie „für alle Priester des römischen Ritus für alle Zeiten festgelegt.“89 Diese Theorie einer vermeintlichen Unwiderruflichkeit der alten Messe durch Quo primum soll im Folgenden auf ihre Stichhaltigkeit untersucht werden. Die zuerst einmal grundlegende Frage ist hierbei, wie die „Niemals-Klausel“ in Quo primum („dass diesem Unseren jüngst herausgegebenen Messbuch niemals etwas hinzugefügt, daraus etwas weggenommen oder an ihm verändert werde“ (Nr.6))90 denn überhaupt zu interpretieren ist. Zunächst spielt hierbei die Frage nach den Intentionen, die Pius V. mit dieser Formulierung verfolgte, eine tragende Rolle. Wie bereits im vorherigen Unterkapitel erläutert, war es sicherlich nicht seine Absicht, die Messe von 1570 für alle Ewigkeit in Stein zu meißeln. Der geschichtliche Kontext der Krise der katholischen Kirche im späten Mittelalter und der Zeit der Reformation ist gewissermaßen die Ursache für jene heutzutage missverständlichen Formulierungen. Es ging wohl primär um eine zeitnahe Beendigung der Krisensituation und nicht um das Herstellen eines unabänderlichen Dauerzustandes. Des Weiteren stellt die „Niemals-Klausel“ in ihrem Grundsatz ja lediglich eine disziplinäre Anordnung dar, die allgemeine Konzilien oder spätere Päpste in keinster Weise rechtlich binden kann91. Denn laut dem Codex Iuris Canonici ist ein Gesetz nicht unaufhebbar.

„Ein späteres Gesetz hebt ein früheres ganz oder teilweise auf, wenn es dies ausdrücklich sagt oder ihm unmittelbar entgegengesetzt ist oder die ganze Materie des früheren Gesetzes umfassend ordnet […]“ (can. 20 CIC/1983).

Und dass die Form der Feier der Messe nicht unveränderlich ist, wurde ja nicht zuletzt auch in Sacrosanctum Concilium betont: „[…] die Liturgie enthält einen kraft göttlicher Einsetzung unveränderlichen Teil und Teile, die dem Wandel unterworfen sind. […]“ (SC 21). Die Eucharistie steht also aufgrund der göttlichen Einsetzung fest (u.a.: Mt 26, 26-28), alle anderen Teile der Messfeier sind jedoch einem Wandel unterworfen. Es wird wohl niemand so weit gehen zu behaupten, dass die Messe in ihrer konkreten Form von 1570 göttliches Recht darstelle – folglich handelt es sich bei Quo primum um ein Gesetz rein kirchlichen Rechts. Kirchengesetze können logischerweise schon aufgrund der Dynamik und geistgewirkten Lebensfülle der kirchlichen Communio nicht unveränderlich sein92. Kriterien des Außerkrafttretens sind für Quo primum reichlich vorhanden. So kann ein Außerkrafttreten von Gesetzen etwa durch

„völligen und dauerhaften Wegfall der inneren, die Nützlichkeit oder die Gerechtigkeit des Gesetzes bedingenden Wesenserfordernisse, der die vom Gesetzgeber wenigstens stillschweigend gebilligte Nichtbeobachtung zur Folge hat “,

erfolgen.93 Eine Feststellung des Wegfalls der die Nützlichkeit des Gesetzes bedingenden Wesenserfordernisse könnte beispielsweise bei der Betonung der Rolle der Volkssprache in Sacrosanctum Concilium vorliegen, als festgestellt wurde, dass „bei der Messe, bei der Sakramentenspendung und in den anderen Bereichen der Liturgie nicht selten der Gebrauch der Muttersprache für das Volk sehr nützlich sein kann“ (SC 36 § 2). Ganz klar für die Abschaffung von Quo primum zutreffend ist freilich die Tatsache, dass ein Gesetz außer Kraft tritt, wenn dies seitens der gesetzgeberischen Autorität verfügt wird94. Denn in der Apostolischen Konstitution Missale Romanum wird zur Einführung des neuen Missale klar festgelegt, dass dessen Einführung geschehen soll und zwar „unter Aufhebung eventuell entgegenstehender Konstitutionen und Verordnungen Unserer Vorgänger sowie aller übrigen Anweisungen, welcher Art sie auch seien.“95 Somit ist festzuhalten, dass Papst Paul VI. in der Apostolischen Konstitution Missale Romanum die Bulle Quo primum absolut rechtsgültig außer Kraft gesetzt hat. Denn – wie aus den bisherigen Ausführungen hervorgeht – stellte Quo primum ganz gewiss kein Glaubens- oder Lehrdokument dar, sondern war schlichtweg eine disziplinäre Bulle, die sicherlich keinen Anspruch auf Unfehlbarkeit erhob. Folglich kann Quo primum selbstverständlich aufgrund einer neuerlichen gesetzlichen Regelung unwirksam werden – mitsamt der Ewigkeitsklausel.

3.1.2.2 Privilegientheorie

Eine weitere Theorie zur Weitergeltung der alten Messe besteht in der Annahme, dass Papst Pius V. in der Bulle Quo primum das Privileg verliehen habe, in alle Zeit die Eucharistie nach dem Missale aus dem Jahre 1570 zu feiern. Dieser Ansatz wird beispielsweise von der Piusbruderschaft vertreten, die auf „eine dauernde, „für immer“ gültige Erlaubnis […] die überlieferte Messe in völliger Freiheit und erlaubterweise, ohne Gewissensbisse, Strafe, Verurteilung oder Zensur zu feiern“ verweist, welche Papst Pius V. in der päpstlichen Bulle Quo primum gewährt habe96. Um der Plausibilität dieser Theorie nachgehen zu können, wird im Folgenden zunächst der rechtliche Begriff des Privilegs erläutert werden, um anschließend die Pro- und Contra-Argumente vorzustellen, diese abzuwägen und zu einer Bewertung der Privilegientheorie zu gelangen. Ein Privileg stellt ein typisches Ausnahmerecht dar. Dieses besteht aus einer bevorzugten Rechtsstellung, welche vom allgemeinen Recht nicht vorgesehen ist, oder diesem entgegensteht. Ein Privileg kann zugunsten einer Person, einer Sache oder eines Ortes eine Ausnahme vom regelmäßigen, gemeinen Recht machen97. Es ist „ein durch einen besonderen Rechtsakt gewährter Gnadenerweis zugunsten bestimmter physischer oder juristischer Personen“ (can. 76 § 1 CIC/1983). Der Empfänger bekommt also eine Rechtsstellung, die – wohlgemerkt ohne jeden Rechtsanspruch – allgemeinem oder partikularem öffentlichen Recht widerspricht, oder von diesem nicht erfasst wird98. Für die Theorie eines erteilten Privilegs scheint zu sprechen, dass die in Quo primum verwendete Formulierung „concedimus et indulgemus“ (Nr. 8)99 tatsächlich auf die Gewährung eines Privilegs, oder auch eines Indults hinweisen kann100. Hier heißt es nämlich, dass „Wir für jetzt und für immer [erlauben und gewähren], dass sie in allen Kirchen […] von nun an ausschließlich diesem Messbuch folgen und es frei und erlaubterweise gebrauchen können und dürfen“ (Nr. 8)101. Dies ist jedoch auch der einzige Ansatzpunkt, der für eine Vermutung der Erteilung eines Privilegs durch Pius V. herangezogen werden kann. Die Gegenargumente sind dagegen weit vielfältigerer Natur. Zunächst einmal gelten Privilegien ja nicht für sämtliche Kirchenglieder und auch nicht für bestimmte Angehörige der Kirche, die durch gemeinsame Merkmale geprägt sind102, wie es beim Wunsch nach der alten Messe wohl der Fall wäre. Stattdessen wendet sich ein Privileg an individuell benannte physische oder juristische Personen als Adressaten103. Die Tatsache, dass eine derartige Nennung in Quo primum nicht vorkommt, spricht folglich stark gegen die Privilegientheorie. Des Weiteren wäre es aus der Perspektive von Papst Pius V. in höchstem Maße absurd gewesen, ein derartiges Privileg grundsätzlich überhaupt zu erteilen. Denn es ging ihm ja um eine Vereinheitlichung der Messe. Das Missale Romanum aus dem Jahre 1570 sollte ja eine Regelmesse darstellen104. Es widerspricht sämtlicher Logik, dass ausgerechnet für diese gerade eingeführte Regelmesse ein Privileg, diese weiterhin abzuhalten, gewissermaßen parallel in die Wege geleitet wird. Außerdem wird ein Privileg ja durch einen besonderen Rechtsakt erst erteilt105. Vor diesem Hintergrund wäre es systemwidrig, ein Privileg im Rahmen eines allgemeinen Gesetzes zu gewähren106. Letztlich ist noch zu erwähnen, dass selbst wenn es zweifelsfrei feststellbar in Quo primum ein Privileg bezüglich des zeitlich unbegrenzten Abhaltens der Messe von 1570 gegeben hätte, dieses Recht mit Inkrafttreten der Messe von 1970 ohnehin erloschen wäre107. Denn die Apostolische Konstitution Missale Romanum, welche die Einführung des erneuerten römischen Messbuches regelte, stellte an ihrem Schluss klar, dass die darin enthaltenen

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