Von der irrwitzigen Flucht ins Zentrum des Seins

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Einzig der physische Hauptkarl, der sich für die unselige Rolle eines Systemadministrators mit drei Kindern und einer verdammt anstrengenden Partnerin entschlossen hatte, machte ihm Kummer. Seine Hauptsorge galt seiner charakterlichen Disponiertheit. Er konnte sich einfach nicht von seinem inneren Schwur lösen, der einmal übernommenen Verantwortung für seine Familie bis zu seinem Ende nachzukommen. Selbst wenn er sich von Viktoria trennen würde, aus dieser Versorger-Rolle konnte ihn nichts und niemand erlösen. Denn es war nicht nur eine Frage des Geldes, sondern vor allem des Herzens. Trotzdem kostete das alles natürlich Geld. Es fühlte sich wie in einem Hamsterrad gefangen. Mit normalen Mitteln war an eine Flucht gar nicht zu denken. Zu tief hatten ihn Elternhaus, Religion und Schule geprägt, eine angenommene Verantwortung nicht abzugeben. Vielleicht, so dachte er, schlummerte in ihm ja auch ein schwerwiegendes vorgeburtliches Erbe, das sich nicht nur biologisch, sondern auch geistig auswirkte? Davon musste er zwangsläufig ausgehen, in Anbetracht vieler seiner Kollegen, die mit derartigen Verantwortungsfragen völlig anders umgingen.

So träumte er weiter, bis Karl eines Tages merkte, dass ihn seine Träume nicht mehr befriedigen konnten. Alle Varianten waren durchgeträumt und schossen nur noch in eine graue Leere. So sehr er sich auch bemühte, die Bilder, die ihm so lange eine kurzweilige stille Zufriedenheit verschafft und die Liebesspiele mit Viktoria mehr und mehr abgelöst hatten, wollten sich nicht mehr einstellen Irgendetwas in ihm verweigerte sich. Als wäre in ihm eine Art innerer Zensor erwacht, der ihm befahl, die Traumebene zu verlassen. Es war an der Zeit, diese Ebene in seiner Lebenswirklichkeit, in seinem Alltag, wiederzufinden.

Lebenswirklichkeit. Dieses schwer aushaltbare Etwas mit seinem ewigen Berufs- und Familiendruck. Was blieb ihm denn schon für eine Alternative? Er konnte sich aufmachen und ins Kloster gehen. Da hätte er dann seine Ruhe. Aber auch das stimmte ja nicht. Als Klosterbruder hätte er neben seinen Tagespflichten zusätzlich allen Verordnungen des Codex Iuris Canonici zu folgen. Und dazu gehörten je nach Klostergemeinschaft auch die Gebetsstunden, die er auch während seiner kreativsten Phasen einzuhalten hätte. Giordano Bruno kam ihm in den Sinn. War die starre klösterliche Zeiteinteilung gar der eigentliche Grund für seine geniale Ketzerei gewesen? Durchaus denkbar, dass sie den Anstoß für sein reformatorisches Gegenwerk gab. Auch schliefen manche Mönche sogar in ihren Kleidern und nahmen nur selten ein Bad. Auf dem Höhepunkt dieser Gedankenfolge recherchierte Karl sicherheitshalber noch einmal genau nach. Ob es noch heute so in allen klösterlichen Bruderschaften zuging, konnte er auf die Schnelle nicht herausfinden. Aber es reichte ihm, was er da las: Zwischen den Messen und geistlichen Übungen werden die klösterlichen Arbeiten verrichtet. Und wann bitte schön sollte er zu seiner eigenen Berufung kommen? Armut und Keuschheit wären ja kein Problem. Der langjährige intensive Sex mit Viktoria reichte bereits jetzt schon für drei weitere Leben aus. Durch lebenslangen Verzicht auf Sex würde er sich für andere Aufgaben schonen. Allein die bildhafte Erinnerung ihrer gemeinsamen wilden Betteskapaden reichte aus, und schon war er todmüde und satt von all dem. Der Überdruss eines üppig Gespeisten, der sich nach Wasser und Brot sehnt. Oder einfach nach Licht.

Der Gehorsam konnte jedoch zu einem Problem werden, wenn man ihn im Kloster gängelte. Und man würde ihn bevormunden, da war er sich sicher. Man würde ihm die Zeit neiden, die er für sich beanspruchte, und ihn aus Niederträchtigkeit vermutlich zum Kartoffelschälen abkommandieren. Außerdem, welches Kloster würde überhaupt einen 42jährigen Novizen mit drei Kindern aufnehmen?

Für ihn, Karl, blieb es eine groteske Idee, vor allem wegen der abartigen Betzeiten. Doch auch die absurdeste Idee sollte sauber und wohl überbedacht sein, bevor sie aus dem Katalog der Möglichkeiten eliminiert wurde.

Karl wusste schon immer: Alles war erreichbar, wenn man nur fest daran glaubte. Die Energie richtete sich nach der Vorstellung. Immer! Bisher war alles in seinem Leben den umgekehrten Weg gegangen, was für ihn aber keinesfalls die Wahrheit dieses Glaubenssatzes in Zweifel stellte. Es lag einzig an seiner innerlichen Zersplitterung, die er in aller Klarheit sehen und auch benennen konnte. Seine Lebensbilanz war eindeutig: Hätte er nur genug an sich selbst geglaubt, wären ihm entweder seine drei Kinder mit Viktoria gar nicht erst passiert, oder er hätte sich auf andere Weise durchsetzen können. Karl wusste jedoch auch: Was spät kommt, hat trotzdem eine Chance! Alles war eine Frage der festen inneren Entscheidung. Sie muss genug Sehnsucht und Kraft in sich tragen. Der Wunsch muss einen starken Impuls haben und eine reiche Vorstellungskraft, die wieder und wieder von Gefühlen und Gedanken gespeist wird. Ablenkende Gedanken sind nicht zu dulden. Nie das Ziel aus den Augen verlieren. Eine Vision darf sich nicht von Hoffnungslosigkeit leiten lassen. Weder von Bequemlichkeit noch vom Risiko. Dann kann es funktionieren. Sein bisheriges Leben abzuwerfen und die eigene Wirklichkeit neu zu gestalten, war nichts für labile Gemüter. Nur für jene, die das nötige Feuer in sich trugen. Die Energie des Feuers war bei jedem Schöpfungsprozess unverzichtbar. Sei es bei der Gestaltung eines Planeten oder eines alltäglichen, banalen Wunsches.

Karl erkannte, dass sein Versagen vor allem in seinem einseitigen Fokus auf die anderen Familienmitglieder lag. Ihm fehlte offenbar jenes besondere Gen, das Viktoria in sich trug. Sie war für die anderen und sich selbst zugleich da. Und weil sie sich selbst gut pflegte, konnte sie mehr für andere tun als er, der nichts für sich tat. Die Formel musste nur umgestellt werden. Doch das war leichter gesagt als getan. Die Erkenntnis war zwar ein erster Schritt, aber ihr mussten konkrete Handlungen folgen, die sich nicht nur in der Phantasie abspielten. Was also war zu tun, um nicht vollends der Depression zu verfallen?

Karl begann von vorn. Was wollte er denn eigentlich? Er wollte frei sein. Er wollte schreiben, wollte seine Talente ausleben. Spüren, wo er in all dem quirligen Leben um sich herum stand, er selbst, als Karl. Er hatte genug von den Rollenspielen seiner Vernunft, von der Verantwortung, er wollte einfach das tun, was für ihn gesund und richtig war. All das möglichst so, dass niemand zu Schaden kam, nicht eingeengt wurde oder seine Wünsche zurückstecken musste. Mit anderen Worten: Karl wollte das Unmögliche – und zugleich nicht dafür zahlen. Allen sollte es gut gehen. Ihm jetzt besonders und erstmalig überhaupt. Keinesfalls aber auf Kosten der Kinder und Viktoria, die von seinem Einkommen abhängig waren.

Er wollte nichts weniger als die Quadratur des Kreises. War er zu feige, einen gesunden Egoismus auszuleben, weil ihm das am Ende Vorhaltungen einbrachte, ohne den es andererseits aber auch nicht ging? – Vielleicht. Warum zögerte er noch? Aber Karl stand in diesen Dingen zu seinen Anschauungen. Er war seines inneren Friedens wegen gezwungen, im Vorfeld alle praktischen Dinge sorgsam zu regeln. Wenn ihm das nicht gelang, war an eine schöpferische Arbeit gar nicht erst zu denken. Sein permanent belastetes Gewissen würde jede Kreativität in ihm ersticken. Sollte er nicht alles unter einen Hut bekommen, dann müsste er eben darauf verzichten. Notfalls müsste er halt krank werden und sterben. Das wäre auf jeden Fall die bessere Alternative, als körperlich gesund in dem Wissen weiterzuleben, seine Talente nicht verwirklicht zu haben.

Wie er es auch drehte und wendete, die Gleichung ging nicht auf. Und nach einem Monat kam ihm die paradoxe Idee, dass es wohl nur einen Weg gab, wenn er seine Freiheit wollte: Er musste ins Gefängnis gehen. Er wusste, er bräuchte fünf Jahre zum Schreiben seines ersten Großwerkes. Fünf Jahre für sich. Das hieße aber auch fünf Jahre Verzicht auf ein normales Familienleben, mit allen Konsequenzen. Dafür hätte er im Falle eines Bestsellererfolgs für den Rest seines Lebens ausgesorgt. Früher oder später würde der Erfolg kommen, wenn seine Grundenergie endlich ins Fließen gekommen wäre. Einmal im Fluss, wäre er nicht mehr zu stoppen. Dann gewänne die Kreativität die Oberhand über sein Leben. Die Dinge dann anders einzurichten, wäre dann auch kein finanzielles Problem mehr.

Vielleicht eine Hütte am Fluss, am Meer oder in den Bergen. Ganz für sich und seine wahre Berufung. Dazu aus der Entfernung ein harmonisches Familienleben. Nach dem ersten Bestseller würden die Gelder dauerhaft fließen. Dann wäre der Knoten geplatzt und auch die Nachfolgewerke kämen in stetigem Strom aus seiner Hand, seinem Herzen und seiner Inspiration. Notfalls müsste er sich eben befreien, indem er sich vorübergehend physisch einkerkern ließ.

Fünf Jahre väterlicher Erziehung und Prägung würden in den Biografien der Kinder letztlich fehlen. Im Gegenzug hätten sie dann aber keinen toten Vater, sondern einen sehr erfolgreichen. Die Jahre dafür waren zu investieren. Es war doch für alle Familienmitglieder ein Gewinn. Nathan würde es kaum merken, da ihn früher oder später die musikalischen Talente mehr und mehr fesseln würden als die vielen noch nicht ausprobierten Substanzen. Lucy und Mikosch wiederum würde er jeden zweiten Tag Briefe mit besonderem seelischem Tiefgang schreiben, und so den Mangel an körperlicher Zuwendung kompensieren.

Wie viele Männer, beruhigte sich Karl, waren in Freiheit und dennoch nie für die Kinder da? Sie waren auf Geschäftsreisen rund um den Globus oder tummelten sich abends und am Wochenende auf politischen oder sozialen Veranstaltungen. Oder trieben sich in Kneipen, Stadien oder Bordellen herum. Ja, was waren denn das für Väter! Und überlebten deren arme Kinder nicht auch? Es gab unzählige Beispiele, in denen die leibliche Vateranwesenheit mit den eigenen Kindern weder zeitlich noch emotional etwas zu schaffen hatte. Und sowieso, in allen Familien lebte jeder früher oder später sein eigenes Leben. Das war ganz normal.

 

Kinder dagegen, die in einer ständigen emotionalen Korrespondenz über ihre Nöte und Geschichten des Alltag mit ihrem Vater standen, die sollte man doch erst mal finden! Ein als großer Schriftsteller aus der Haft entlassener Gefängnisvater war doch allemal besser als jeder Durchschnittsvater. Je tiefer Karl seine Situation betrachtete, umso mehr wuchs in ihm die Überzeugung, dass es geradezu seine väterliche Pflicht wäre, in den Knast zu gehen, damit die Kinder den besten Vater aller Zeiten bekämen. Das würde sogar Viktoria einsehen.

Jetzt konnte er ihr endlich zeigen, was er drauf hatte. Und Viktoria würde mit dem Geld, das es bald regnen würde, all das machen können, was ihr wirklich wichtig war. In diesem Punkt war sie so zuverlässig wie ansonsten permanent anstrengend.

Von all diesen Gedanken ahnte Viktoria nichts. Sie nahm zwar die Symptome einer angehenden Krise wahr, besaß aber genug Feingefühl, nichts vor der Zeit zu problematisieren. Dazu verhalfen ihr eine grundsolide Menschenkenntnis und die besondere Fähigkeit, mit komplexen Zusammenhängen im Umfeld des inneren Gefühlschaos traumwandlerisch sicher umzugehen. Sie hatte eine eigene Mentalrezeptur entwickelt, die ihr bedeutete, man müsse das Komplizierte möglichst in Windeseile unbedingt weiter verkomplizieren, so dass der Verstand wirklich gezwungen sei, eine kluge, schlichte und einfache Lösung zu finden. Sie sah sehr wohl, dass viele Menschen mit solchen Herausforderungen völlig falsch umgingen, indem sie die Not an der falschen Stelle abzuwenden gedachten. Das brachte ihnen eine Reihe unnötiger Schwierigkeiten ein. Denn auch eine Not will ernst genommen werden und sich erst mal zeigen dürfen. Sie will ihre Botschaften aussenden und nicht schon in kleine, alberne Nöte zerstückelt werden, bevor sie erblühen kann. Viktoria hatte Verständnis für jede Not und keineswegs nur für den Notleidenden an sich. Deshalb das Erblühen der Not, die Spitze, der Höhepunkt, der Gipfel, auf dem die Lösung des Ganzen ruhig hockt und darauf wartet, dass sie von jemandem abgeholt wird.

Aber wer dachte schon auf solche Weise über das Wesen der Not nach! Waren doch alle nur bemüht, sie zu ächten und zu verdrängen, so als hätte die Not keine Existenzberechtigung. Kein Wunder also, dass so viele Menschen beständig in Schwierigkeiten steckten. Sie gingen die Sache mit der noch nicht erblühten Not auf dem Höhepunkt ihrer Entwicklung einfach nicht radikal genug an, sondern verblieben im Zustand einer ständigen Angst.

Auch Viktoria war nicht angstfrei. Mehr Angst als die Angst aber machte ihr etwas ganz anderes. Und das war dann auch ihr Motor: Sie hasste ungeklärte Situationen. Gleich danach kam die permanente Sorge, dass eines Tages die Langeweile hinterrücks in ihr ständig aufregendes Leben einfallen könnte. Mit diesen Ideen schaffte sie es, Ängste zu überwinden, das Komplizierte auf seinen eigenen Höhepunkt zu zwingen, um von dort aus die Klarheit der schlichten Lösung zu finden.

Im Herzen wusste sie schon lange, was Karl fehlte. Er kam einfach hoffnungslos zu kurz. Und so sehr sie sein Schreibtalent bewunderte, so sehr bedauerte sie ihn für seine immerwährende Schwäche in Bezug auf die Gestaltung des persönlichen Glücks. Selbst ihre raffinierten Bettspiele vermochten ihn nicht mehr zu fesseln. Nicht einmal die Fesseln selbst. Sie würde sie wieder in Ebay einstellen. Fast neu. Zehn Euro. Taschengeld für Mikosch. Ansonsten würde sie beobachten und abwarten. Es würde sich schon geben.

Die Tatsache der kollektiven familiären Hochbegabung sah sie als Garant dafür, dass alles gut werden würde. Wie sollte es auch anders gehen. Sonst wäre die Hochbegabung ja keine. Sie war schon immer der Meinung, dass intelligente Menschen stärker herausgefordert werden müssten als durchschnittlich begabte Menschen. Das Leben an sich wäre doch sonst inadäquat. Ja, es sei geradezu beleidigend, bedeutende Menschen mit Potential nur mit lächerlich kleinen Sorgen zu prüfen statt mit heftigen und großen Herausforderungen. Insofern war diese Prüfung nicht nur folgerichtig, sondern auch notwendig und gut. Nach diesen tröstlichen Gedanken stellte sie sich stolz vor den Spiegel und sagte sich: Viktoria, du musst den Überblick behalten! Nur dann hältst du das Heft in der Hand. Sei wie eine Göttin!

Göttinnen sind Macherinnen und voller Vertrauen. Sie wissen um ihre Schöpferkraft. Selbst um die von Karl! Auch wenn er selbst es nicht ahnte!

Viktoria, das Leben ist schwer und schön! Schwer schön!

Sich im stummen Zwiegespräch in der zweiten Person anzusprechen, war ein uraltes Ritual, das es ihr ermöglichte, in Abstand zu sich selbst zu treten. Dass dabei in aller Regel etwas Positives abfiel oder zumindest doch eine aufbauende Zuversicht, war kein unbeabsichtigtes Nebenprodukt. Es war gewissermaßen ein Erkenntnisakt, der eine ganz eigene Kraft hatte und aus einer Region ihres Wesens kam, die ihr vertraut war. Dass sie dieser inneren Kraft blind vertrauen konnte, stand ganz außer Frage.

Die Nächte dieses Sommers waren schwül. Karls Kopfschmerzen kamen wieder und die Träume im bewusst gewählten Alphazustand waren kaum noch aufrechtzuerhalten. Im Arbeitszimmer holte Karl die alten Kladden aus der Schublade, in denen er die Gedichte seiner Jugend aufbewahrte. Er las und staunte, was ihm alles aus der Feder geflossen war. Fast las er sich wie einen Fremden, und doch offenbarten sich ihm die Sehnsüchte, die ihn damals erfüllt hatten, mit einer Klarheit, die schmerzte. Wo waren all diese tiefen Gefühle hin?

Karl legte die Gedichte beiseite und überließ sich ganz seinen Gefühlen. Er überdachte sein Leben und spürte, wie ihn die kalte Wut überkam. Wie hatte er es nur zulassen können, dass ihn alle Welt dominierte? Oder war er bereits domestiziert? Ein innerlich wildes Tier, an die Kette einer nie enden wollenden Verantwortung gelegt? Der Arbeitgeber, die Familie, die Kinder. Verpflichtungen auf allen Ebenen. Und alles ruhte auf seinen Schultern. Den Gedanken, warum Viktoria unmöglich arbeiten gehen konnte, ohne dass die Kinder zu kurz kamen, hatte er x-fach hin und her bewegt. Es erschloss sich ihm auch jetzt keine neue Alternative. Die Kinder gediehen bei ihr optimal. Daran war nichts zu deuteln, selbst dann nicht, wenn man ihre ständige Hochbegabungsbehauptung als komplett durchgeknallten Spleen ansähe, über den sich fast jedermann hinter ihrem Rücken amüsierte. Aber alles war schon jetzt unverhältnismäßig anstrengend. Wie würde es erst sein, wenn auch die beiden Kleinen in die Pubertät kämen. Die langen Studien- und Ausbildungsjahre! Jahr um Jahr ging dahin. Sein ganzes Leben. Fiel Viktoria aus, um irgendwelchen Jobs nachzugehen, war das für sie nicht nur keine Verwirklichung, sondern sogar Verrat an ihren wertvollsten Prinzipien. Aber verdammt noch mal, das Geld reichte hinten und vorne nicht, wenn er auch mal zu seinen eigenen Angelegenheiten kommen wollte.

Viktoria wiederum hatte noch nie verstehen können, worin bei vielen berufstätigen Frauen denn bitteschön die ernsthafte Selbstverwirklichung liegen sollte, nur weil sie außer Haus für Fremde arbeiteten. Zumeist wären es doch nur lächerliche subalterne Jobs mit armselig entlohnten, inhaltsleeren Tätigkeiten. Manch eine ihrer allmorgendlich aus dem Haus flüchtenden Freundinnen war ja schon dankbar, wenn sie in ihren High Heels für einen kurzen Augenblick zum Blickfang geiler Männer in dunklen Anzügen wurde. Hirnlose Nichtcheckerbräute, die ein körperliches Schütteln bei Viktoria auslösten angesichts des Gedankens, auf solche Karrieren tatsächlich auch noch stolz zu sein.

Anders mochte es bei all jenen Frauen sein, deren Job tatsächlich in irgendeiner Weise kreativ, spannend oder heilend war. Die an Schaltstellen sinnvollen Wirkens saßen, wo die gestellte Aufgabe für das individuelle Talent und die eigene Berufung perfekt zusammenfielen. In diesen Fällen war das Kriterium echter Selbstverwirklichung für Viktoria glaubhaft gegeben. Unabhängig davon, welchen Preis die Frauen dafür bezahlten. Letztlich war bei jeder Variante alles irgendwie mit irgendwas zu bezahlen. Keine bekam ihr Glück zum Nulltarif. Wäre es anders, gäbe sie sich jetzt auf der Stelle die Kugel. Kaliber 45, aus einer Glock.

Aber wie vielen Frauen erging es denn schon so? Ihren teils in Büros arbeitenden Freundinnen jedenfalls konnte sie die Selbstverwirklichung in der Regel nicht ansehen. Hatten sie dennoch jenes gewisse Etwas, so war es in den wenigen Fällen auf anderem Fundament gewachsen, das letztlich mit dieser beruflichen »Selbstverwirklichung« nun wirklich nichts zu tun hatte. Überhaupt war sie der Meinung, dass dieser Begriff grundsätzlich mit Vorsicht auszusprechen sei.

So sprach sie immer wieder zu Karl und er fand, dass sie das durchaus richtig sah. Selbstverwirklichung begänne erst da, wo Qualitäten nicht nur vorhanden waren, sondern auch angewandt und ausgelebt wurden und erst damit eine Einheit mit dem Individuum bildeten. Viktorias Gedankenstrukturen waren auf eine Weise angelegt, die nur von wenigen Menschen nachvollzogen werden konnten. Karl jedoch konnte es, manchmal. Und dann faszinierte es ihn auch sehr. Viktorias Reiz lag eben nicht nur in ihrer Optik, sondern auch in der Klugheit, die sich dem Mainstream feministischer Moderne auf unnachahmliche Weise entgegenstellte. Eine freie Antifeministin, jenseits aller politischen oder gesellschaftlichen Klischees, die sich um nichts scherte als um ihre tatsächliche Berufung. Und die bestand darin, der Welt ihre drei Hochbegabten zu schenken. Notfalls auch um den Preis, dass ein zweiter James Joyce des 21. Jahrhunderts nicht in die Annalen der Literaturgeschichte eingehen konnte. Als starkes Individuum war Viktoria bereit, sich jederzeit zwischen alle Stühle zu setzen. Keineswegs aus reiner Mutterliebe, sondern aus Liebe zur schicksalhaften Berufung.

Entsprechend nahm sie sich das in ihren Augen rechte Maß an Freiheit. Neben ihren vielfältigen Alltagspflichten war sie in diversen Gruppen aktiv, die nur eines gemeinsam hatten: Sie hatten keine der üblichen hierarchischen Strukturen.

Ihre Nebenaktivitäten sorgten dafür, dass sie nicht das Gefühl familiärer Enge empfand, unter dem so viele ihrer Freundinnen litten, die einfach ihre alten Muster nicht wirklich zu verändern wussten. Die nur halbherzige Sachen machten, die keinen Mut erforderten und deshalb auch wenig Befriedigung brachten. Die Familie war auch der Mittelpunkt ihres Lebens. Aber jede Form von Hausfrauenfrust prallte einfach an ihrer Amazonenrüstung ab.

Entscheidend für ihre Grundzufriedenheit aber war die Ausdehnung ihres inneren Aktionsradius. Lebenslust, Tiefe und Gestaltungsdrang kamen bei Viktoria nicht zu kurz. Sie übertrug sie direkt in soziale Modelle innerhalb und außerhalb der Familie. Mit ihren besten Freundinnen konnte sie sich auf so kreative und intelligente Art streiten und wieder vertragen, dass es fast schon berauschend war. Und die eine oder andere lernte dabei, die Dinge endlich auch so perfekt zu verkomplizieren, dass alles am Ende ganz einfach, weil logisch war. Der Umweg über die Komplexität hatte eben seinen tieferen Sinn, weil ja nun einmal der Weg das Ziel war.

Ihr eigener Weg stand ganz im Zeichen des Sozialen und der Erforschung des Zwischenmenschlichen. Wohl wissend, dass dies nicht nur keine Anerkennung, sondern durchaus schiefe Blicke einbrachte. Nicht selten auch Schlimmeres. Vorurteile, mit denen Viktoria wenig anzufangen wusste und die sie innerlich abschmetterte. Ratzfatz! Federstahlwurfmesser! Bei all dem bekam ihre Seele.Kratzer ab. Aber ohne Kratzer keine innere Schönheit. Das gehört mit zum Risiko, wenn man so authentisch wie möglich sein wollte. Wenn sie hin und wieder an seelischen Schnittwunden litt, dann weinte sie eben Blut.

In Karl mischten sich ambivalente Gefühle von Neid und Zorn, von Stolz und Freude, von Missgunst und Traurigkeit, über sich selbst und Viktoria, die Kinder, die Familie, die Ehe und vor allem das Leben an sich. Er erlebte erstmals bewusst einen großen Mangel. Er kam zu kurz. Zu lange schon. Dabei, so fand Karl, war er doch nie ein Jammerlappen gewesen. Dennoch hatte er sich selbst zum Opfer gemacht. Unbemerkt, ungewollt. Wo war bloß der Ausweg aus diesem absurden Dilemma?

Karl schloss die Augen und sah sich wieder einmal in einer seiner einsamen Traum-Hütten. Irgendwo in irgendwelchen Bergen auf diesem Planeten oder einem anderen. Was spielte es schon für eine Rolle. Wichtiger als der Ort war seine innere Befindlichkeit. Er sah, wie diese kleine Hütte alles Notwendige enthielt – und nichts Überflüssiges. Das, was überfloss, waren allein seine Gedanken. Sollten sie doch reich fließen. In Tinte und auf Papier. Später über den PC hinein in sein erstes Meisterwerk. Vor allem träumte Karl von viel Zeit. Zeit war ihm schiere Verheißung. In seinen Träumen hatte er davon so viel er wollte. Eine bürgerliche Identität kam in diesen Visionen gar nicht mehr vor. Er war irgendwie versorgt. Wie von Zauberhand. Genauere Details hätten den Traum zerstört. Er träumte, er schriebe. Und er lächelte und schlief darüber ein.

 

Am nächsten Morgen wurde er von Viktoria in seinem Arbeitszimmer geweckt. Ein Novum – aber kein problematisches, da in ihrer Ehe zwar manches anders, aber alles in Ordnung war. Zumindest dachte er das. Nach fünfzehn gemeinsamen Jahren, in denen ihre Liebe allen möglichen Belastungen standgehalten hatte, war solches nächtliche Fernbleiben kein Problem. Sie hatten schon ganz andere Sachen durchgestanden. Die derzeitige neue Krise war eine Chance. Das las man doch immer wieder, dass Krisen nur Chancen seien. Selbst der Büchermarkt lebte doch millionenschwer davon, wie toll Krisen sind und dass man sich dafür zu bedanken habe. Und diese Chance war zu nutzen. Also her mit den Krisen.

Trotzdem befragte Viktoria ihren Liebsten in liebevoller inquisitorischer Manier nach Schlafstörungen, Potenzstörungen, Verdauungsstörungen, Zahnschmerzen. Oder war es am Ende eine gefährliche Entzündung der Bauchspeicheldrüse? Wusste er überhaupt, wo die lag? Sicherheitshalber legte sie ihre Hand auf die entsprechende Stelle. Sie hatte sich ein umfangreiches medizinisches Laienwissen angeeignet und betrachtete sich als ausreichend kompetent für einen Erstbefund. Nachdem ihr diagnostischer Check mit umfangreicher Anamnese abgeschlossen war, überwies sie ihren Gatten dann doch an einen Spezialisten. Sollte man.zunächst mit einem Psychologen beginnen oder doch besser mit einem Urologen? Hier lagen die Problematiken bei Männern doch oft hautnah beieinander. Irgendwie war sie als Frau auch der kompetentere Mann in so manchen Dingen.

Karl winkte freundlich ab. Er fühlte sich erfrischt wie lange nicht mehr. Er erinnerte sich wieder seiner Träume in den frühen Morgenstunden. Seine Arbeit war für ihn erträglicher als die Wochen zuvor und seine gedrückte Stimmung verflog, sobald er sich in seine einsame Hütte träumte.

Drei volle Tage und Nächte ging das so. Dann kam der Durchbruch. Karl schritt zur Tat. Immerhin war die Erde ein Tatplanet und kein Traumplanet. Es musste doch eine lebbare Alternative zu seinen Träumen geben! Es gab immer eine. Eine, die vielleicht nicht billig und auch nicht ganz einfach und ungefährlich war. Aber es gab immer eine! Man musste nur lange genug nachdenken.

Das Ziel war ihm schon länger klar: Er brauchte für eine Weile eine Auszeit, wenn er an diesem verkorksten Leben nicht zugrunde gehen wollte. Er musste sich auf den Weg machen, und zwar jetzt, musste aber gleichzeitig sicherstellen, dass seine Liebsten finanziell in trockenen Tüchern waren. Es war ja kein Luxus nötig, nur ein Mindestauskommen, das ihnen ein anständiges Leben ermöglichte. Und er musste Kontakt zu ihnen aufnehmen können. Neue Bilder zogen an Karl vorbei. Sie sanken in die Untiefen neuer, noch unbekannter Empfindungsregionen und stiegen wieder in veränderter Form hoch. Er sah jetzt nicht nur Hütten, in denen es sich vortrefflich und ruhig schreiben ließe, sondern sein Unterbewusstes offenbarte ihm eine echte Alternative.

Zuerst sah sich noch einmal in einer traumhaft himmelwärts schwebenden Klosterzelle, die ihn an die Auferstehung erinnerte. So, als sei diese Auferstehung nicht nur für Christus, sondern selbst für Räume, Gebäude und Zeiten vom Allschöpfer vorgesehen, falls es einen solchen gab. Dieses Bild verschwand aber bald wieder in der Versenkung, als ein Impuls ihm noch einmal das Reizwort Betzeiten zuflüsterte. Dann verwandelte sich die Klosterzelle langsam in eine Gefängniszelle. Sie kam aus der Tiefe der Erde. Vermutlich direkt aus dem Erdinnern. Doch das besondere daran war: Sie stieg nicht, wie die anderen Bilder, hinauf in den Himmel. Sie blieb waagerecht vor seinem blinzelnden Auge stehen. Gefängnis! Also doch! Das war es! Diesen Weg musste er einschlagen.

Es war wohl der Höhepunkt des Absurden, in einer Gefängniszelle seine Freiheit finden zu wollen, sinnierte Karl über die gerade stattgefundene Bildmeditation. Den Körper einkerkern, damit der Geist frei war? Karl erinnerte sich spontan an einen erst kürzlich ausgestrahlten Film über den holländischen Strafvollzug. Dort wurden höchst komfortable Zellen für zirka 7.500 Euro monatlich das Stück vom belgischen Staat angemietet, dessen Gefängnisse hoffnungslos überfüllt waren. Die liberalen Holländer hatten es den Gefangenen schön gemütlich gemacht. Die Häftlinge hatten dort nicht nur einen Kühlschrank plus Mikrowelle und einen Fernseher, sondern manche sogar einen Computer. Ob mit oder ohne Internetanschluss wurde leider nicht erwähnt. Aber den benötigte er auch nicht unbedingt. Einen Computer, eine Einzelzelle, Vollverpflegung und Ruhe. Dann hätte er, was er brauchte.

Doch gleich welche Zelle, sie musste erst einmal »verdient« sein. Dazu konnte ihm nur ein ordentliches Verbrechen verhelfen. Es müsste kriminell genug sein, dass es eine langjährige Haftstrafe garantierte. Möglichst eines mit flexiblen juristischen Möglichkeiten. Günstig, wenn man wegen guter Führung auch nach zwei Dritteln der Zeit entlassen werden könnte. Unter gewissen Umständen wäre das gut. Zeitlich war für ihn derzeit nicht klar zu überblicken, wie schnell er mit seinem großen Erstlingswerk vorankäme. Seine lebenslang unterdrückten Ideen hatten sich zu einer schwerverdaulichen Masse zwischen seine Synapsen gelegt. Unterzöge man sein Gehirn einer Computertomografie, die Ärzte wären angesichts dieser verdickten Knäuel sicherlich ins Rätseln gekommen. Sollte er seine grob berechneten fünf Jahre vollständig brauchen, würde er sich entsprechend schlecht im Gefängnis benehmen, damit es keine vorzeitige Entlassung gäbe. Das zumindest war schon mal klar.

Und die Familie? Das Gefängnis war ideal. Denn es war die einzige Möglichkeit, um auch das Versorgungsproblem zu lösen. Das Verbrechen brauchte ja nur ein intelligent durchgeführtes Kapitalverbrechen zu sein. Er hatte sich schon informiert, schwerer Raub brachte ihm nach §§ 249 und 250 StGB aber nur dann fünf Jahre Gefängnis ein, wenn mindestens noch Waffengebrauch mit im Spiel wäre. Er musste nur zusehen, dass seine Schüsse niemanden verletzten. Blutige Verletzungen hatte er noch nie ertragen können. Bei seiner polizeilichen Unauffälligkeit würde man vermutlich alle Milderungsgründe ins Feld führen und ihm womöglich nur drei Jahre geben. Derzeit hatte er ja noch nicht einmal Punkte in Flensburg.

Gefängnis bedeutete aber eben auch: Die Kinder hätten einen echten und sogar juristisch zertifizierten Verbrecher zum Vater. Urkundlich kriminell und abgeurteilt. Die wenigsten Kinder würden dies besonders cool finden, obschon er sich bei Nathan da nicht ganz sicher war. Lucy und Mikosch könnten gehänselt werden. Vermutlich aber nicht länger als einige Wochen, die sie ja notfalls mit Viktoria fernab vom Trubel verbringen könnten. Zwei Wochen auf die Kanalinseln. Wer kannte die Sandhausers schon in St. Peter Port auf Guernsey!