Aliens & Anorexie

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In Zürich im Jahr 1917 schrieben Hugo Ball und Tristan Tzara Nonsens-Gedichte aus Glossolalien. Sie versuchten, wie es in Balls Dada-Manifest heißt, »moeglichst ohne Worte und ohne die Sprache auszukommen […], an der der Schmutz klebt wie von Maklerhaenden«. In New York in den frühen Sechzigern schufen John Cage und die Mitglieder der Fluxus-Bewegung vollkommen willkürliche Kompositionen aus Klängen und Gesten. Im Londoner Empress Hotel schufen Brion Gysin, William Burroughs und Ian Sommerville »Cut up«-Texte und -Filme, indem sie ihre Intuition mit aller Gewalt öffneten wie Tulpenknollen, um die versteckten Botschaften in all dem zu offenbaren, was wir hören und sehen.

Diese Männer waren Krokodile in Clubsesseln, Dirigenten kontrollierter Chaos-Experimente. Im Interesse einer höheren Wissenschaft waren sie darauf vorbereiten, sich Stücke ihrer eigenen nichtporösen Haut auszureißen. Mädchen hingegen sind viel weniger reptilisch …

Katia Perry trampte gern die Nordinsel von Neuseeland zwischen Wellington und Auckland hinauf und hinunter. Per Anhalter zu fahren war ein Glücksspiel. Weil Katia damals noch Englisch studierte und ihr die kritische Intelligenz fehlte, nur irgendeinen Unterschied zwischen sich und ihrem Studienfach zu entdecken, kam ihr das Trampen wie ein pikarisches Abenteuer vor.

Tom Jones wurde zum Urtext. Jedes Mal, wenn Katia mitgenommen wurde, begann ein neues degressives Kapitel, das mit den Worten »In welchem …« begann. Highway 1 von Wellington nach Auckland war wie eine Zauberkiste der Postmoderne. Fast 900 Kilometer lang handelte es sich um eine zweispurige Straße, in deren Verlauf sich die Landschaft vom Regenwald hin zur Wüste wandelte und zu allem dazwischen.

In Otaki, wo die Hügellandschaft braunschweigisch grün war, stellte Katie sich gerne vor, dass der Pick-up-Truck, in dem sie mitgenommen wurde, eine Postkutsche war. Nördlich von Palmerston, als das Heidekraut sich zu einem Wald sammelte, wanderte Katia durch die nördlichen Provinzen Japans im 17. Jahrhundert. Sie war der Dichter Bashō auf einer Pilgerreise. In Taihape verengten sich die Hügel voller Schafe zu gekrümmten Felsen, die auf den Himmel zeigten wie flämische Felswände in einem mittelalterlichen Gemälde. Auf dieser Reise war alles möglich, und Katias Ambition bestand darin, ihre Lebenszeit darauf zu verwenden, all das zu lernen, was es zu lernen gab.

Während sie auf diese Weise durch Kontinente und Jahrhunderte reiste, hielt Katia gerne nach Zeichen und Botschaften Ausschau. Die Tatsache, dass sie trampte, bedeutete, dass sie diese Botschaften von Menschen erhielt, die sie nicht kannte. Und hatte ihr Lieblingsdichter James K. Baxter nicht dazu aufgefordert, die eigene Haustür für Fremde offen zu halten, weil jeder Fremde Christus sein könnte?

Eines Sonntags wurde Katia von Wellington nach Silverstream mitgenommen. Die nächste Fahrt brachte sie 80 Kilometer weiter bis zu einer Abfahrt nördlich von Dannevirke. Die Straße war leer und so ging sie mehrere Kilometer zu Fuß. Es handelte sich um eine Übergangsgegend, in der das landwirtschaftlich genutzte Land ganz allmählich den Bergen wich. Die Hügel waren zerklüftet und von schlammigen, von Schafen ausgetretenen Kämmen zerfressen. Der Highway führte zwischen den Hügelspitzen hindurch und durch ein Tal. Es war Frühling: kalt und feucht, und Wasser tropfte die Felsen hinunter und sprang über die Straße.

Katia hatte gehofft, noch vor Einbruch der Dunkelheit bis nach Taupo zu kommen, einem Seeort mit zwanzig billigen Motels, doch gegen halb vier schien dieses Vorhaben bereits zweifelhaft. Als also die drei Betrunkenen in einem ramponierten Ford anhielten und ihr anboten, sie mitzunehmen, schien es ihr das Beste zu sein einzusteigen. Ein Landwirt und dessen Frau hatten sie von Silverstream aus mitgenommen; diese Fahrt bedeutet einen abrupten Szenenwechsel in ein anderes soziales Reich. Wie lautete noch jene Zeile, an die Katia sich erinnerte? Sei bereit für den Fremden, denn jeder Fremde könnte Christus sein.

Sie warf ihren Rucksack ins Auto und fragte sich, ob Bier ein Sakrament sei, als der Fahrer seinen Arm um sie legte. Was verstehest du unter dem Worte: Sakrament? Ich verstehe darunter ein äußerliches und sichtbares Zeichen einer innern und geistlichen Gnade, die uns verliehen wird. Es war romantisch: Vier Fremde, die in einem Wagen aus den Sechzigern den Highway hinunterrumpelten. Sie boten ihr etwas zu trinken an und dann ein paar Pillen, und sie nahm sie und lauschte ihren ländlichen Akzenten. Ihre Stimmen wurden mit dem schlechten Radioempfang vermengt, der kam und ging. Es gab ein berühmtes Gedicht über Schafe von Allen Curnow – die Schafe breiteten sich aus wie eine Pest über den Hügel – Katia lächelte. Die Sonne verabschiedete sich, während sie die holprige Straße entlangreisten.

Die Pillen dehnten alles in die Länge. Katia fiel auf, dass sie den Highway verlassen haben mussten, weil sie nun eine nicht asphaltierte Straße hinunterfuhren. Niemand sprach. Ein flaches weißes Haus tauchte auf: das Quartier eines Schafscherers? Satellitenschüssel, mehrere Autos, und durch die offenen Türen und Fenster dröhnte Musik. Eine Party. Der Fahrer sagte: »Wir sind da«, und Katia folgte, als die Männer ausstiegen und hineingingen.

Was ihr auffiel, waren die Möbel. Wie sie sich, obwohl sie gar nicht zueinander passten und schäbig waren, ganz leicht großmütterlich anfühlten. Drinnen befanden sich ein Paar und zwei weitere Männer, einige der Anwesenden unterhielten sich. Die Typen, die sie mitgenommen hatten, waren Gäste. Ein Fetter mit Bart in Jeans schien hier das Sagen zu haben. Irgendwann verzog sich das Paar.

Katia wusste nicht, ob sie einen Trip fuhr, doch sie begann, sich den Typ mit Bart als Roland vorzustellen, jenen Banditenkönig in de Sades Justine. Sie sprang hin und her zwischen diesen Zeiten und Orten und war sich ihrer eigenen Präsenz in diesem Bild nicht ansatzweise bewusst. Deshalb sah sie keinerlei Gefahr und erkannte nicht einmal die Tatsache, dass sie ein Teenager war, der mit fünf betrunkenen Männern Trips schmeißt. Etwas später löste sich der Nachmittag in einen Nebel aus Möbeln und Boden und blauen Flecken auf. Doch Katia kroch hinaus, überlebte –

Mein Freund Dan Asher kehrte 1978 nach New York City zurück. Er hatte eine Zeit lang in Paris gelebt, wo er Penner und Rockstars und Béjart-Ballerinen fotografierte, manchmal in der Wohnung irgendeines Freundes unterkam, manchmal an der Seine schlief. Ich kann mich nicht erinnern, wo wir uns kennengelernt hatten – vielleicht in einem Café, vielleicht am Zeitungskiosk Gem Spa. Das Wort »obdachlos« war noch nicht erfunden worden, doch wir hatten keinen Wohnort, und ich hielt ihn für ein Genie, das heißt, wir hassten viele von denselben Leuten, also bot ich ihm an, doch einfach bei mir unterzukommen. Dan Asher über die Kunstwelt: »Ich verbringe lieber Zeit mit Pennern, den Clochards, sie sind interessanter als die Wichser, die in der Kulturindustrie das Sagen haben!«

Dan trug einen sackartigen Mantel und prügelte sich ständig mit irgendjemandem. Erst später definierte er seinen Zustand als »autistisch«, einen Zustand, über den er seitdem mit großer Präzision redet und schreibt. Ich hatte schlicht und einfach angenommen, dass er verrückt sei, dass auch ich verrückt sei, und dass wir uns deshalb so gut verstanden. Ich hatte mich dieser Gruppe von Leuten angeschlossen, die an Colleges und Unis wie Swarthmore, Harvard und Grinnell studiert hatten. Dan und ich waren Teil ihrer urbanen Übergangslandschaft, einer Halbwelt, der sie irgendwann entwachsen würden. Sie waren bereits in ihren späten Zwanzigern und führten gequälte Gespräche über ihre Zukunft. Sie waren lächerlich, genau wie die Arschlöcher in Zeit der Reife, diesem Buch von Jean-Paul Sartre. Es war offenkundig, dass es keine Zukunft gab. Punk kam uns gerade gelegen.

Dan machte Fotos für ein paar Leute von irgendeinem Magazin, das er hasste. Ich trat in einem Theaterstück auf. Der Regisseur sah mich oft an und sagte: »Ich will, dass du verletzlicher bist«, was natürlich ein totaler Witz war. Ich hatte kein Geld und keinerlei Aussicht, irgendwann welches zu verdienen. Ich konnte meine Miete nur zahlen, wenn ich irgendwem im Hinterzimmer einer Obenohne-Bar einen blies. Der Regisseur hingegen bekam ein Taschengeld von seinen Eltern und hatte gerade sein Studium bei Grinnell beendet. Dan störte sich nicht daran, dass ich die X-Ray-Spex-Platte Oh Bondage, up yours! ungefähr dreißig Mal am Tag auflegte.

Mein Mitbewohner Tom, der an der New School Philosophie studierte, schlief im Schlafzimmer, ich schlief in der Abstellkammer, Dan schlief auf der Couch. Wir standen gegen 11 auf, nachdem Tom zur Uni gegangen war, und verbrachten Stunden damit, uns über einfach alle, die wir kannten, ins Fäustchen zu lachen. Die Wohnung war vollkommen aboriginal. Sie war unsere Höhle. Manchmal wurden unsere Gespräche so intensiv, dass ich aufstand und ein Set Poster-Farben kaufte, um unsere Gedanken als Aphorismen in die Küchenschränke zu schreiben, auf die Wände.

Meistens sprachen wir darüber, dass alles so transparent war. Die gesamte beschissene New Yorker Punkszene war einzig und allein davon motiviert, wie man Karriere machen und wen man ficken konnte. Die Mädchen waren am schlimmsten, weil sie eigentlich nur das Ficken hatten. Wie sie da in ihre Netz-Outfits aus schwarzem Leder gestopft an Clubwände gelehnt standen, waren sie nicht mehr als Pro-bono-Huren, die einfach nur wollten, dass die coolsten Jungs sie liebten. Wenn ich nicht gerade irgendwo oben ohne tanzte, trug ich eine ausrangierte Armee-Uniform. Es war mir vollkommen unerklärlich, wie nur irgendwer ihre Titten für umsonst zeigen konnte. In seinem sackartigen Mantel war Dan immun gegen alles, was mit Sex zu tun hatte, fand Sex im Grunde ekelhaft. Wir lachten uns schlapp, wie all diese Leute so taten, als befänden sie sich in einem Zustand permanenter Rebellion, wo sie doch eigentlich nichts anderes wollten als Anerkennung. Dan hasste all diese Rockstar-Heterojungs. Was uns am meisten bewegte, waren symbolische Gewalt- und Zerstörungsaktionen. Wir waren eine aus zwei Personen bestehende Anti-Sex-Liga.

 

Dan war pleite, doch er wollte nach Frankreich zurück. Irgendein Typ, den er kennengelernt hatte, hatte ihm angeboten, ihn an einem Geschäftsplan zu beteiligen, doch er brauchte 500 Dollar im Voraus. Ich arbeitete ein paar extra Tanz-Schichten, doch dann löste sich das Projekt in Luft auf. Als seine Mutter ihm schließlich das Flugticket kaufte, fühlte Dan sich schuldig, dass er einfach so abhaute, ohne das Geld zurückgezahlt zu haben, und so hinterließ er einen Pappkarton voller Zeug, das er durch die ganze Welt geschleppt hatte.

»Hier, Chris, du kannst diesen Karton behalten«, krächzte er am Morgen seines Abflugs, und dann sollte ich ihn zwanzig Jahre lang nicht wiedersehen.

Vor langer Zeit lebte in einem Land, das ein wenig wie Japan war, ein Bauer, der sich eine Schwalbe als Haustier hielt. Seine Frau war eine bösartige und eifersüchtige Frau. Sie hielt ihren Mann für einen Narren, weil er den Vogel mit den Resten seiner eigenen dürftigen Mahlzeiten fütterte. Eines Tages, als sie gerade bügelte, flog die Schwalbe durch das Fenster und stieß eine Flasche mit Stärke um. Die Frau nahm ihren Besen und schlug den Vogel und hieß ihn, nie wiederzukommen.

Als der Mann dies hörte, zog er seine Stiefel und seinen Mantel an und machte sich auf den Weg in den Wald, um die Schwalbe zu suchen. Und nachdem er lange und ermattet durch den Wald gestapft war, hielt er einen Moment lang inne, um zu Atem zu kommen. Und eine Briefschwalbe kam von einem Baum herab, landete auf seiner Schulter und winkte ihn auf eine Lichtung zu. Der Mann zögerte einen Moment lang, doch dann ging er hinüber. Und als er auf die Lichtung trat, sah er ein Haus – ein Strohhaus, besetzt mit Silber und mit Gold. Es war das feinste Haus, das der Mann je gesehen hatte.

Eine Frau trat aus dem Strohhaus. Sie war groß, mit langem schwarzem Haar und weichen und feierlichen Augen. Sie hieß ihre Köche, ein Bankett anzurichten, sie hieß ihre Kammerfrauen, vor dem Mann zu tanzen. Und nach all dem Essen und Tanzen trat die Frau einen Schritt vor und gab sich dem Mann zu erkennen. Sie sagte: Die Schwalbe ist nur eine meiner vielen Formen. Du warst sehr gütig zu mir. Deine Güte soll dir vergolten werden.

Ich vermisste ihn. Wochen vergingen, bevor ich endlich dazu kam, den Karton zu öffnen. Und als ich es tat, fand ich eine Reihe seiner Fotos von Patti Smith, Keith Richards, Tom Verlaine. Einige Kunstperlen und Federn. Und dann noch einen Stapel von Büchern: die Schriften des Dadaisten Hugo Ball, einige französische Bücher von Antonin Artaud. Die erste Plon-Ausgabe von Simone Weils Schwerkraft und Gnade, auf Französisch La Pesanteur et la grâce. Die Schriften von Ulrike Meinhof, inklusive ihres auf Französisch als Le Foyer übersetzten Drehbuchs. Ich kaufte ein Wörterbuch und begann zu lesen.

Obwohl mir nie zuvor der Gedanke gekommen war, dass ich Kunst machen könnte, enthielt Dans Karton alles, mit dem ich später arbeiten sollte. Und zwar die ganzen nächsten fünfzehn Jahre lang.

Zufall und Magie, Zufall und Klaustrophobie.

Am Donnerstagnachmittag stand ich auf und ging zurück zum Market für meine Vorführung, die mich 300 Dollar kostete. Zwölf Leute waren da. Die bemerkenswerteste Figur unter den Anwesenden war die Direktorin des Boston Jewish Women’s Film Festival, die sich später die Zeit nehmen sollte, mir eine persönliche Ablehnung zu schicken. Als das Licht ausging, zog ich Bilanz. Wenn man den Flug, das Hotel und die Gebühren für den Market berücksichtigte, kostete mich jeder der Anwesenden, die sich Gravity & Grace ansahen, ungefähr 275 Dollar. Neun gingen noch vor dem Bandwechsel. Mir wurde klar, dass Gravity & Grace wahrscheinlich überall sonst sehr viel erfolgreicher gewesen wäre als hier. Zwei weitere gingen während des zweiten Bandes, und als das Licht wieder anging, war nur noch einer da. Sein Name war Thomas Niederkorn.

Er stellte sich mir vor als Deutscher, der in New York lebte. Er hatte Film an der NYU studiert. Thomas Niederkorn war 25, sehr gepflegtes Äußeres, sehr elegant auf eine klassenlose Art und Weise. Er sagte, dass er als Produzent von Independent-Filmen arbeite und hier auf dem Market allerlei Meetings habe, um Geld für einen Spielfilm aufzutreiben. Es kam mir vollkommen unglaublich vor, dass er sich den ganzen Film angesehen hatte. Mein Herz hüpfte, als er das Wort Produzent sagte.

»Ich würde Sie gerne etwas fragen«, sagte Thomas.

»Ja? – « Ich lächelte erwartungsfroh.

»Ob Sie womöglich noch Kontakt haben mit einer neuseeländischen Freundin von mir. Sie heißt Delphine Bower.«

Ich wusste sehr viel über Delphine Bower. Ihr Name war im Abspann von Gravity & Grace als Co-Produzentin gelistet. Angesichts der Umstände von Delphines Mitarbeit bedeutete die Tatsache, dass ich ihr einen Platz im Abspann eingeräumt hatte, einen finalen Akt meines Märtyrertums. So dachte ich jedenfalls –

»Ahhh, sie war außergewöhnlich«, sagte Thomas. »Ich halte sie für ein Genie. Sie war so schön und so großzügig. Delphine hat mir geholfen, den Pilot für meinen Thriller zu drehen. Sechs Monate lang war sie meine Freundin. Und als sie ging, gingen wir als Freunde auseinander.« Thomas wollte wissen, ob ich sie gesehen hätte.

Im Stillen rechnete ich. Es war jetzt Ende Januar 1996. Delphine Bower war im November 1993, zwei Tage nachdem wir in New York fertiggedreht hatten, endgültig verschwunden. (Tatsächlich hatte sie das Set bereits am ersten oder zweiten Drehtag verlassen, doch sie kam in der letzten Drehwoche noch einmal zurück, um unter den Darstellern und der Crew ein Bewusstsein dafür zu schaffen, auf welch herzlose Weise sie ausgebeutet wurden, und, oh ja, um weitere 300 Dollar an Ferngesprächsrechnungen anzuhäufen –.) Nun, wenn Thomas seinen Piloten im Herbst 1995 gedreht hatte, dann bedeutete das, dass sich Delphine tatsächlich noch zwei Jahre lang in New York herumgetrieben haben musste. Für eine Waise aus einer Wohnwagensiedlung in Taranaki ohne Green Card oder Arbeit kam dies einem Triumph gleich.

Perverserweise und völlig leidenschaftslos hatte ich Delphines Bewegungen bis Ende 1994 im Auge behalten. Faszinierend, die Bewegungen eines bestimmten Subjekts, »Delphine B.«, durch konzentrische Kreise der New Yorker Kunstwelt zu kartografieren. Ihre Bewegungen ergaben eine Art Soziogramm. Noch lange nachdem sie auch unsere engsten Bekannten durchgebrannt hatte, sickerten aus Harlem und Tribeca Nachrichten von den Bewegungen des Subjekts zu mir durch. Die Flugmuster von »Delphine B.« waren wie ein freies Assoziationsspiel für eng miteinander verflochtene Gruppen aus Freunden und Persönlichkeiten und Bekanntschaften. Weil sie eine Spur aus Geheimnissen, gestohlenen Objekten, Lügen und unbezahlten Rechnungen hinterlassen hatte, erinnerten sich eigentlich fast alle an sie. Zuletzt hatte ich gehört, dass »Delphine B.« gesehen worden war, wie sie Kopien im Büro von Artforum machte.

Wenn Delphine in jenem Herbst mit Thomas gearbeitet hatte, dann musste sie neun Monate länger in New York gewesen sein, als sich bislang hatte nachweisen lassen. Ich verspürte eine gereizte Verbitterung, als Thomas ihren Namen erwähnte. Ein Teil von mir war versucht, ihm alles zu berichten.

Das erste Mal traf ich Delphine Bower in Neuseeland im Januar 1933. Ich war sofort verliebt, und sie war liebenswert. Den gesamten Herbst über, den ich mit meinem Mann Sylvère Lotringer in Easton in Pennsylvania verbracht hatte, um Geld für den Film zu sparen, hatten wir diese Fantasie gehegt, dass ich in Neuseeland dann endlich eine Freundin haben würde. Ich malte sie mir als Baby-Butch mit rosigen Wangen vor, vielleicht mit Motorrad, eine jüngere Version meiner Freundin Darlene. Sie würde mich in all den Bars herumführen und es überhaupt erst ermöglichen, dass wir einen Film drehen. Die vergangenen zwei Jahre war ich mit Gänsehaut und großen Gefühlen in eine Studentin meines Mannes verknallt gewesen, die überzeugt war, dass die Professorengattin zu verführen das Aufregendste überhaupt sei. Doch dann lachte sie mich aus, und nichts passierte.

Im Sommer zuvor hatte Delphine eine Hauptrolle in einem langen Experimentalfilm von Jason Pauling gespielt. Jason verliebte sich in sie. Sie war lebhafte und taufrische zwanzig Jahre alt. Seitdem hatte sie ihr Studium geschmissen und hatte weder Job noch Wohnung, und als Jason versuchte, ein ernsthaftes Gespräch mit ihr über ihre Zukunft zu führen, sagte Delphine: »Aber das Einzige, was ich wirklich machen will, sind Filme.« Jason hatte gehofft, ich könnte einen Job für sie finden. Sie hatte ein Gespür für Kleidung … vielleicht könnte sie mir ja bei den Kostümen assistieren?

Als wir darüber sprachen, gewann Delphine mich sofort für sich, indem sie sich über Jasons Aussehen, über seinen Paternalismus und über seinen Film lustig machte. Ich war erst seit zwei Wochen in Auckland, hatte jedoch bereits das Gefühl, als trete ich für irgendeine Wahl an, weil ich ständig irgendwo Gefallen schnorrte und zu allen nett war, weshalb ich Delphines Boshaftigkeit als köstlichen Rausch empfand. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in Neuseeland gab mir Delphine das Gefühl, dass ich wirklich mit jemandem klickte.

Wir trafen uns im Stadtzentrum. In einem trendigen Bistro wartete sie schon auf mich, gelangweilt mit ihren falschen Perlen spielend. Ihr Haarschnitt glich dem von Louise Brooks. Sie trug eine zweireihige Nadelstreifen-Jacke. Delphine wollte, dass ich sie mochte, und ich mochte sie. Sie war wirklich entzückend, aber auf eine interessante Art. Sie performte mit dem sanftesten, bedächtigsten Gespür für Ironie. Delphine Bower war keine eifrige Filmcrew-Mädchen-Sportskanone. Vielmehr spielte sie die demütigende Rolle der »Arbeitssuchenden« mit einem selbstreflexiven Unterton. Während sie sich hin- und herbewegte zwischen einer grausamen Jason-Parodie und einem berührend aufrichtigen Enthusiasmus für mein Drehbuch, sonderte Delphine einen Hauch leidenschaftsloser Abscheu für eine Welt ab, die einfach nicht anders konnte, als sie zu enttäuschen. Sie war ein Genie, das in einer Welt umhergeworfen wurde, die keinen Platz hatte für Arbeiterklassemädchengenies. Und dann war sie emotional auch noch so zerbrechlich und wunderschön –

Beim zweiten Drink war klar, dass es undenkbar geworden war, Delphine auf etwas so Unbedeutendes wie die Kostüme zu verschwenden. Wir gingen eine Liste von Jobs am Set durch. Keiner passte so richtig. Deshalb konnten wir sie im Grunde nur zur Co-Produzentin erklären. Schnell wurde vereinbart, dass Delphine im Austausch für ihre Arbeit an dem Film in mein Reihenhaus in Grey Lynn ziehen sollte. Sie sollte mein Auto benutzen, und ich würde für all ihre Spesen aufkommen.

Monatelang war Delphine unfehlbar effizient und ganz einfach eine tolle Person. Ich begann diese »Freundinnen«-Idee von mir zu revidieren. Delphine war ein hübsches Mädchen und keine Baby-Butch. Sie behandelte mich wie eine Mutter, deshalb war Sex zwischen uns vollkommen undenkbar. Doch sie war charmant, leuchtete geradezu. Da ich noch nie ein hübsches Mädchen gewesen war, konnte ich genau wie all die Männer, mit denen ich konkurrierte, nun endlich eines haben.

Delphine erzählte mir Geschichten, während wir herumtelefonierten. Von Geburt an Waise, wurde sie von einem Paar aus Taranaki adoptiert. Ihr Adoptivvater starb, als sie zwölf war, und Vi, ihre Mutter, bandelte mit einer schwertrinkenden, Flanellhemden tragenden Lesbe namens Di an. Vi und Di zogen die kleine Delphine gemeinsam in einer Wohnwagensiedlung groß und brachten ihr bei, auf Hunde zu wetten. Sie hatte eine Wahnsinnsimitation der beiden drauf, die jeweils von Geschenkpaketen und Briefen ihrer Mutter ausgelöst wurde.

In den späteren Geschichten von Delphine Bower ging es um die Schicksale all der Jungen, die sich tragisch in sie verliebt hatten. Es gab da einen jungen Medizinstudenten, der sich das Leben nahm, als die sechzehnjährige Delphine ihn zurückwies. (Keiner ihrer Antagonisten trug einen echten Namen, sie waren alle nach ihrem Rang benannt, so wie Charaktere in einer mittelalterlichen Allegorie.) Als Delphine die Neuigkeiten erhielt, weinte sie, bis sie ins Krankenhaus eingeliefert wurde und Beruhigungsmittel verabreicht bekam. Am dritten Abend brach Delphine ein unverschlossenes Fenster im Sanatorium auf. Sie kletterte das Rankgitter bis ganz nach unten und nahm einen Bus nach Auckland. Delphine war Nadja, sie war Rapunzel. Ich was so sehr hingerissen davon, dass ich vergaß, dass es im Umkreis von 500 Kilometern Taranakis gar keine »Medizinuniversität« gab …

 

Inzwischen machte Delphine unglaubliche Fortschritte mit der Organisation des Films. In Auckland war sie von der wohlhabenden Familie ihres Privatschulfreundes Dodge aus Remuera praktisch adoptiert worden. Und während Delphine ein Gespür für die Grenzen des spindeldürren Dodge und seiner neureichen Eltern zu entwickeln begann, war die Familie für unsere Zwecke sehr gut vernetzt. Delphine beschwatzte Dodges Mutter, eine Sonntagsmalerin, die mit einem Investmentbanker verheiratet war, so lange, bis sie uns ihr Haus in Remuera lieh, damit wir es als Hauptdrehort verwenden konnten. Wenn Delphine in Schwung war, dann konnte niemand Nein zu ihr sagen. Sie war genau jene unbekümmert stylische Anarchistin, die ihre Opfer unbedingt sein wollten. Und zuweilen kam dieses Talent gepaart mit einem Sinn für Dankbarkeit, Respekt, Verantwortung. Als die Produktion längst über uns beide hinausgewachsen war und aus einer Horde eifriger Jungprofessioneller bestand, für die sich unser Film in keiner Weise von irgendeinem Film-der-Woche oder nur von einer Lexus-Werbung unterschied, war Delphine meine einzige Vertraute und Verbündete.

Die ersten Anzeichen, dass etwas schieflief, kamen zwei Tage, nachdem wir einen echten Produktionsmanager anstellten. Delphine besoff sich, parkte auf einem Hügel und vergaß, die Handbremse meines Autos anzuziehen. Der Morris-Minor-Oldtimer krachte in irgendeinen Toyota Celica. Das war natürlich eindeutig ein Test. Liebte ich sie noch? Natürlich liebte ich sie nur noch mehr. Ich beglich die Rechnung von ungefähr 1200 Dollar.

Alle, die Delphine kannten, begannen mich zu warnen, dass sie gefährlich und inkompetent sei. Und sie begann zu beweisen, dass sie recht hatten. Eines Abends, als Delphine in meinem Wagen unterwegs war, verschwand auf mysteriöse Weise Jason Paulings kostbarster Besitz aus dem Auto – ein Nagra-Aufnahmegerät, das 2000 Dollar gekostet hatte. Und trotzdem, meine einzige Freude bestand darin, sie zu sehen. Als also endlich die US-Gelder bewilligt wurden, mit denen ich den letzten Teil des Films in New York drehen konnte, kaufte ich Delphine ein Ticket für einen Air-France-Flug. United wäre billiger gewesen, war jedoch viel zu geschmacklos.

Am letzten Abend, den wir gemeinsam in Neuseeland verbrachten, sahen wir Robert Altmans Drei Frauen, Delphines Lieblingsfilm. Ich fand ihn eklig. Als könnten drei Frauen ausschließlich eine familiäre Beziehung zueinander haben, Mutter-Tochter-Schwester. Als sei rein gar nichts anderes denkbar. Und trotzdem lieh ich Delphine an diesem Abend mein Auto. Bis sie fünf Monate später in New York zu mir stoßen sollte, würde sie allein sein, ohne dass jemand dafür sorgte, dass alles mit dem Rechten zuging.

Zuerst legte Sylvère Einspruch ein, doch er hatte ein Kind und ich hatte niemanden, um die ich mich kümmern konnte. Delphine und der Morris Minor waren die einzigen beiden Dinge aus Neuseeland, die ich wirklich liebte, weshalb es einfach zu passen schien, dass sie zusammenbleiben sollten. Am Abend ihres Abflugs nach New York City betrank sie sich. Ihrer eigenen Schilderung zufolge hielt sie dann um 5 Uhr morgens auf der Queen Street in der Innenstadt an und schlief ein. Als die Polizei kam, ließ sie die Schlüssel in der Zündung. Ich sollte das Auto nie wieder sehen.

Während ich in Neuseeland noch Delphines geliebte ältere Freundin gewesen war, stellte sich in New York schon bald heraus, dass ich mich in einen weiteren Dodge verwandelt hatte: ein Hindernis für ihre Mobilität und Freiheit. Sie lieh sich Geld, verschwand, tauchte wieder auf und log. Sie häufte enorme Ferngesprächsrechnungen an. Delphines Erfolg darin, aus gelegentlichem Barsex Kapital zu schlagen, in Form von Geld und Schutz, war erstaunlich. Ich hatte angenommen, dass ihre Schmolllippen und ihr Babyspeck, ihr ultrafeminines Geflirte es in New York nicht bringen würden, doch ich lag falsch. Innerhalb von zwei Wochen nach ihrer Ankunft in New York prügelten sich eine Handvoll liebestrunkener Typen mit Jobs um sie.

Unterdessen blieb mir nichts anderes übrig, als zu sehen, wie ich einen 40-minütigen Teil des Films für 20 000 Dollar gedreht kriege; wo die im Oktober ankommende neuseeländische Besetzung und Crew untergebracht wird; wo ich das Filmmaterial herbekomme, mit dem wir in jenem 1:9-Format filmen können, das die neuseeländische Kamerafrau Colleen forderte, die bis dahin ausschließlich für Fernsehserien und Werbeclips als Kameraassistentin gearbeitet hatte.

Delphine bezauberte alle, die ich ihr vorstellte. Fred Harvey, seit zehn Jahren ein enger Freund von mir, bettelte sie an, den Film doch einfach aufzugeben und mit ihm zurück nach Los Angeles zu fliegen. Weil sie spürte, dass sich noch andere, noch bessere Möglichkeiten ergeben würden, erzählte sie mir von Freds Angebot. Ich brüllte vor Lachen, als Delphine die Schweigsamkeit und die exzellenten, sehr weißen und sehr protestantischen Mittelklassemanieren meines guten Freundes imitierte. Zweifel kamen auf, schwanden jedoch gleich wieder, wann immer Delphine morgens schluchzend auftauchte.

Zu diesem Zeitpunkt war vollkommen klar, dass Delphine dem Film in keiner Weise mehr helfen würde. Die einzige Frage war, wie sich der Schaden in Grenzen halten lassen könne. Gerade als ich endlich den Mut aufzubringen versuchte, sie loszuwerden, traf die neuseeländische Besetzung und Crew aus Auckland ein. In meiner Abwesenheit war Delphine bei Kamerafrau Colleen Sweeney eingezogen. Colleen war Delphines neue Beschützerin geworden, und sie war entsetzt, dass ich eine Waise auf die Straßen von New York City hinauszujagen vorhatte. Gemeinsam überzeugten Delphine-Colleen die Besetzung und Crew, deren Honorare Sylvère und ich zahlten, dass wir herzlose geldgierige Juden und Monster seien.

Am sechsten Tag der Produktion versuchte Colleen, einen Streik zu mobilisieren, weil Sylvère und ich uns weigerten, für das Catering aufzukommen. Am zwölften Tag verboten mir Colleen und die Assistenzregisseurin Harriet, die gerade erst frisch aus der experimentellen Filmschule kam und 600 Dollar pro Woche bei uns verdiente, in meinem eigenen Auto mitzufahren, das zum »Produktionswagen« erklärt worden war. Jeden Abend cruisten Sylvère und ich an den äußersten Rändern der Bronx umher auf der Suche nach billigen Hotels, sodass Delphine-Colleen in unserer Wohnung allein sein und Ferngesprächsrechnungen anhäufen konnten. Alles Gelächter und Geflüster hörte mit einem Mal auf, sobald ich das Set betrat. Die Überzeugung, mit der ich eine mehrheitlich weibliche Besetzung und Crew angestellt hatte, verwandelte den Film in einen Schulhof-Albtraum. Samstags spielte ich Gastgeberin für Colleen, führte sie in New York aus. Weil wir beide Mädchen waren, hielt sie mir Standpauken. »Ernsthaft«, sagte Colleen, »du solltest echt an deinen ganzen Problemen arbeiten, die du so mit Geldfragen hast.«

Drei Tage nachdem sie alle nach Hause zurückgekehrt waren, erholte ich mich in East Hampton. Während ich ziellos in den Seitenstraßen herumfuhr, wurde ich am Steuer ohnmächtig. Der Vorderteil meines Autos war vollkommen zerstört. Ich hatte keine Ahnung, was geschehen war.

Die Autoreparaturen in Neuseeland nicht mit eingerechnet, hat mich Delphine Bower insgesamt um die 6000 Dollar gekostet. Unserer Visa-Kreditkartenabrechnung zufolge blieb Delphine im East Village, kaufte Gourmet-Lebensmittel und Make-up. Doch als ich die Karte sperren ließ, verlor sich ihre Spur. Sie hatte mehrere Tage lang bei Carol Irving gewohnt, einer New Yorker Produktionsmanagerin, stahl Kleidung und Familienschmuck. Im Anschluss mietete sie die Wohnung von Carols Freundin Jayce auf Avenue B und prellte Jayce um zwei Monatsmieten und Telefonrechnungen. Und danach, wer weiß schon? Sie hatte eine leidenschaftliche Affäre mit einem Studenten meiner Freundin Ann Rower und lebte eine Weile lang in seinem Studentenwohnheim. Monate später hörte ich von einer entfernten Freundin, dass Delphine Bower mit einem russischen Dichter zusammengewohnt hatte, der auf tragische Weise in Harlem erschossen worden war. Deshalb nahm ich einfach an, dass Delphine nach Neuseeland zurückgekehrt war. Carol Irving hatte jedoch gehört, dass sie in einer Sendung im Kabelfernsehen über die Kunstwelt gesichtet worden war, und dann hörten wir noch von jemand anderem, dass Delphine nun bei Artforum ein Praktikum machte. Sollte dies etwa Delphine Bowers finaler Triumph sein?

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