"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"

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Der Kutscher-Kreis als Lerngemeinschaft

Wenn man zu den Anfängen der Münchner Theaterwissenschaft zurückkehrt, dann merkt man gerade im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in den Universitätsvorlesungen und -übungen Artur Kutschers die progressive Trennung zwischen Lehr- und Lerninhalten einerseits, die man als der neueren deutschen Literatur zugehörig betrachtet, und der wissenschaftlich-didaktischen Auseinandersetzung mit Theaterstücken und Inszenierungen andererseits. Diese Differenzierung der Wissensbereiche veranlasste schnell das Experimentieren und dann die endgültige Durchsetzung neuer Forschungs- und Lehrmethoden, welche die Theaterpraxis gleichzeitig als Gegenstand der Analyse, als Untersuchungsmethode und als Wirkungsebene für gemeinsames Handeln betrachten. Der direkte Übergang zu einer praxisbezogenen Disziplin vervollkommnete sich innerhalb des Kutscher-Kreises und durch die Beziehung zwischen dem Lehrer, den Künstlern und den Schülern. Die Münchner Theaterwissenschaft entstand zweifelsohne durch die Koordination durch eine Leitfigur wie Kutscher, wurde aber erst durch den Austausch und durch die Teilnahme einer Gruppe von Personen verwirklicht. Kutscher war eher der Leiter einer Lerngemeinschaft als der Vertreter eines Fachgebietes, da er das Objekt, die Methodologie, die Probleme und die Aufgaben der Theaterwissenschaft als veränderliche Aushandlungsergebnisse betrachtete, die er am gesellschaftlichen Kontext und an anderen Mitwirkenden seines kulturellen Kreises band. In den Berichten der Intellektuellen, Freunde oder Schüler Kutschers über die anfängliche Phase des theaterwissenschaftlichen Lern- und Lehrprozesses in München, findet man lediglich die Bezeichnung „Kreis“, während der Ausdruck „Schule“ nicht einmal erscheint1. Die besondere semantische Fruchtbarkeit des Ausdrucks „Kreis“ erweist sich tatsächlich in einer Reihe von Deklinationen, welche die Zentralität der Arbeitsgruppe immer hervorhebt: Der mehrmals zitierte »Kutscher-Kreis« war sowohl ein »Schülerkreis« als auch ein »Freundeskreis«, ein »fruchtbarer«, »kunstgeschulter« Kreis mit eigener Tradition, und schließlich ein »Wirkungskreis«.2 Offenbar benutzten die Studenten Kutschers diesen Begriff, um von innen heraus die Grenzen des gemeinsamen Unternehmens zu markieren. Die Tatsache, dass die Bezeichnung dann auch von politischen Autoritäten und Universitätskollegen angewandt wurde, beweist die äußere Anerkennung, die in wenigen Jahrzehnten die Münchner Theaterwissenschaft gewonnen hatte.3 Der Theaterprofessor selbst verstand seine Lerngemeinschaft nicht als eine Wissensstruktur, in der ein aufgeklärtes Einzelsubjekt seinen Hörern die Prinzipien und Ansätze einer Wissenschaft sowie deren praktische Anwendung einschärfte. Ganz im Gegenteil, er betonte wiederholt welchen grundlegenden Wert die Ko-Partizipation als Basis und Anreiz für die Lernsituation hat.4 Der Lernende wird ja instruiert, wie er zu handeln hat, aber nicht durch einen überlegenen Lehrmeister oder weil ein abstrakter sozialer Zusammenhang vorgegeben ist, sondern er lernt aus der »Wahrnehmung, Redefinition und emotionale[n] Bewertung« der Lernsituation in ihrer Situiertheit in der Praxisgemeinschaft (Wehner/Clases/Endres 1996: 77).

Am Anfang aller Überlegungen bezüglich der Lernsituation im theaterwissenschaftlichen Kutscher-Kreis steht also die Frage, wo und wie das Lernen praktiziert wurde. Es wäre eine oberflächliche Betrachtungsweise, würde man, was die Münchner Theaterwissenschaft betrifft, die in der Universität selbst betriebene Forschung von der praktischen Forschungsarbeit in Kneipen, Vereinen oder auf Studienfahrten unterscheiden.5 Der Fokus soll daher nicht in der Differenzierung zwischen Innerhalb und Außerhalb der Universität bzw. des Universitätssystems liegen, sondern auf dem Dazwischen. In der modernen Historiographie um 1900 sieht Jo Tollebeek beispielsweise eine intendierte Selbst-Inszenierung, d.h. den Versuch, durch die Gestaltung der sogenannten „Landschaft der Disziplin“6 eine neue Bildungsform herzustellen, »whose purpose was to make a nouvelle histoire possible« (2014: 130). In der sich in denselben Jahren konstituierenden Theaterwissenschaft könnte man ebenso das Ziel erblicken, durch die Vermischung von traditionellen universitären Räumen, privaten Gesellschaften und Vereinen, informellen Kreisen, Ausflugsorten und Bühnen zum einen das reformierte Theater der Zukunft zu gestalten und zum anderen eine dem Theater gewidmete Disziplin zu etablieren. In der Regel wurden die theaterwissenschaftlichen Vorlesungen im Universitätshauptgebäude und die Übungen im Institut, im Theatermuseum, in der Universitätsbibliothek, auf der Probebühne und/oder in Schauspielhäusern abgehalten.7 Darüber hinaus wurden Autorenabende, Theaterbesuche, Stammtischtreffen und Gesellschaftssitzungen zum Bestandteil des Studiums. Eine wichtige Stelle im Studienplan bekamen auch die gelegentlichen Theaterexkursionen. Die neue Disziplin verband ihren Wissensmodus mit den politisch-strategischen und kulturrelevanten Örtlichkeiten der Gegenwart und brachte dadurch das Studium an der Universität mit aktuellen Fragen der Kunst und der Gesellschaft in Verknüpfung: Das Hochschulsystem hätte sich der Theaterwissenschaft annehmen müssen, weil sie schon Teil der Kunstdebatte und dazu der sozialen Entwicklung der Jugend war.

Gerade um die Jahrhundertwende trat fernerhin eine Wende im Wesen sowohl der Wissenschaft als auch des Theaters ein, der sich auf die theaterwissenschaftliche Lehrtätigkeit Artur Kutschers auswirkte. Einerseits sahen die Verkünder der Theaterwissenschaft die Notwendigkeit ein, durch die Schaffung einer historiographischen Grundlage und durch die Zusammenstellung eines Kanons den Forschungsgegenstand „Theater“ wissenschaftsfähig zu machen. Die performative Theaterkunst wurde folgerichtig in Objekten, Artefakten und Modellen fixiert, welche man sammeln konnte: Das Theater wurde also musealisiert. Treffende Beispiele für diese Tendenz bieten die vielen Theatermuseen und neuen Theatersammlungen, welche in die Universitäts- und Forschungsinstitute eingegliedert wurden. Schon 1910 wurde das Münchner Theatermuseum im Clara-Ziegler-Haus gegründet, 1919 richtete Carl Niessen seine Theatersammlung ein,8 bis zu seinem Tod im Jahr 1924 vereinigte Albert Köster eine theatergeschichtliche Sammlung in Leipzig, 1922 baute Joseph Gregor die Theatersammlung der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien auf, 1924 veranlasste Eugen Wolff die Einrichtung des Kieler Theatermuseums, 1927 rief Oskar Eberle die „Gesellschaft für schweizerische Theaterkultur“ ins Leben, welche die Schweizerische Theatersammlung in Bern etablierte. Andererseits entdeckte die akademische Theaterwissenschaft den Körper, die Oralität und die Spektakularität als Bestandteile nicht nur ihres Forschungsgegenstandes sondern auch ihrer Lehrstrategien. Es wurde also versucht, die Tendenz zur Verdinglichung mit der Vitalität und Dynamik der Kunst zu bekämpfen, welche die Dozenten eben im Theater der Gegenwart erkannten. Universitäre Lehrveran­staltungen entwickelten sich allmählich in Richtung Performativität. Obwohl eine explizite performative Fokussierung in der erziehungswissenschaftlichen Reflexion erst in den 1990er Jahren zu beobachten ist, um jeweils eine Metapher für die Unterrichtskommunikation, eine Methode der partizipatorischen Lehre oder ein Paradigma fürs Bildungserlebnis zu bezeichnen (Pineau 1994: 6), kann man schon um die Jahrhundertwende eine neue Konzeptualisierung des Bildungsbegriffs erkennen, die sich auch im Universitätsunterricht abzeichnete. Unter Bildung wurde ein Prozess verstanden, in dem sich die Einzelidentität der Lernenden und die sich verändernden soziokulturellen Kontexte ständig verflechten. Eine solche Verkettung hätte dann allen Subjekten ermöglicht, an ihren Bildungs- oder Lernbedingungen mitzuwirken, und zwar sich selbst sowie ihre (Praxis)Gemeinschaft zu gestalten. Die rege Beteiligung aller Mitglieder – Lehrer und Schüler – an der Anhäufung, Bereicherung, Neu-Definierung und Weitergabe von Wissen erfordere daher eine immer höhere Aufmerksamkeit für die Regeln, Rollen und Rituale, die jeden Teilnehmer in den Lernprozess einbinden. Der performative Blickwinkel auf die Identitäts- und Gesellschaftsbildung bestimmt mithin die pädagogische Funktion des Lehrers neu: Er sei weder ein vom performativen Kontext isolierter Schauspieler noch ein Prediger inmitten der passiven, amorphen Masse seiner Studenten, sondern die leitende Figur der Aufführung „Unterricht“, der Koordinator, der die Lerngemeinschaft organisiert, der er selbst angehört. Lernende seien demzufolge nicht mehr Objekte des Bildungsprozesses, sondern dessen Subjekte, die sich ständig mit Lerngegenständen und Deutungen auseinandersetzen. Im unterrichtlichen Lernen werden dann die Körperlichkeit, das Erfahrene, die einzelnen Ereignisse und die ausgehandelten Wissensressourcen besonders signifikant. Eine sog. performative Lehrtätigkeit besteht in anderen Worten darauf, dass es im Unterricht um gelebte Realität geht, also um die Existenz, wie sie konkret erfahren wird. Jedes Fachgebiet entspricht folglich einer wahrnehmbaren Praxis, »in der sich ein bedeutender Teil subjektiver Kulturleiblichkeit bildet« (Klepacki 2009: 21).

Performative Aspekte des gemeinsamen Lernens

Kutschers außergewöhnliche Stellung in der Entstehungsphase der Theaterwissenschaft, d.h. seine Bestrebung, die wissenschaftliche Arbeit an Fragen des zeitgenössischen Theaters anzubinden und den intensiven Austausch zwischen Historiographie, Kritik und Praxis zu unterstützen, rührt von der oben geschilderten Konvergenz von Wissenschaft und Kunsttheater her. Im Prozess der Wissenserzeugung akzentuierte Kutscher den performativen Aspekt des gemeinsamen Lernens und fügte theatrale Komponenten in die wissenschaftliche Methodik ein. Dabei trat die aktive, partizipatorische Lerngemeinschaft in den Vordergrund und die Aushandlung von Lerninhalten, Interpretationen und wissenschaftlichen sowie künstlerischen Praktiken überschritt die Grenzen der professoralen Lehre im Seminarraum. Hugo Hartung sprach hierüber von den Impulsen »Forscherdrang, Lern- und Lehrbegier«, die den Kutscher-Kreis in Vorlesungen, Übungen, Exkursionen, Autorenabende, Theaterbesuche und -kritiken soeben wie in studentische Aufführungen trieben (1966: 164). Der ehemalige Student erinnert sich nicht nur an ein »spazierengehende[s] Lernen« (165), sondern auch an die »Vorlesung belebende[n] Glanznummern« (161), die Kutschers Programm bis in die 1960er Jahre hinein charakterisierten. Bezüglich der Art und Weise, wie Kutscher die Mitwirkung seiner Schüler an der gemeinsamen Praxis förderte, seien nur einige aufschlussreiche Beispiele genannt.1 Hugo Hartung schilderte Kutschers Haltung während der Lehrveranstaltungen folgendermaßen:

 

In seinen Vorlesungen kam Artur Kutscher uns oft vor wie Mephisto, der den Schüler lehrt und plötzlich wieder mal den Teufel spielen muß. Dann zog er wohl die Augenbrauen hoch, den Mundwinkel herunter, die Faust fuhr aufs Katheder nieder, und ein scharfer satirischer Pfeil schwirrte von der Sehne. Ihn gar den Mimus als den Urquell allen Theaters leidenschaftlich verteidigen sehen, war oft genug auch ein mimisches Erlebnis. (1966: 161)

Nach der Beschreibung von Kutschers temperamentvollen Ausführungen und coups de théâtre im Universitätssaal konstatierte er:

»Die Geheimräte«, wie Kutscher seine Gegner kollektiv zu nennen pflegte, versperrten ihm den Weg zum Lehrstuhl eines Ordinarius. […] Sie verstanden, daß ein Theaterwissenschaftler nicht nur die Meistersingerbühne von Nürnberg getreulich zu rekonstruieren brauchte, sondern daß er selbst jenen »Tropfen Theaterblut« besitzen mußte, den unser Professor allen Seminaradepten als Grundbedingung Numero eins mit steilem Zeigefinger abverlangte. / Für einen Kutscherschüler, der diesen Tropfen Theaterblut in sich hatte, war der Schritt in die Praxis nie sonderlich schwer. (163)

Vom besonderen Interesse ist hier zunächst die implizite Kritik an der Tendenz anderer Dozenten bzw. Institute, die Aufgaben der Theaterwissenschaft auf die Rekonstruktion einzelner Inszenierungselemente zu beschränken. Der Rekonstruktion widersetzte sich das Erlebnismoment, das man erst durch die und in der konkreten Theaterpraxis hat. Auch Carl Niessen betonte diesen Ansatz Kutschers: In der Lehre des Münchner Professors »stand die Bühne der Erfahrung stets im Mittelpunkt« und für seine Schüler »wurde das Theater nie zu einer Abstraktion« (in Günther 1938: 199). Da das verkörperte Wissen allein eine starke Wirkung auf der künstlerischen sowie gesellschaftlichen Ebene entfalten könne, erschöpfte sich das gemeinsame Lernen nicht im Unterricht, sondern ging programmatisch durch unkonventionelle Örtlichkeiten wie Theaterfahrten, Wanderungen, Zusammenkünfte, Stammtische und Aufführungen weiter. Darüber gab Ernst Hoferichter eine erschöpfende Auskunft:

Da waren die Vorlesungen bei Arthur Kutscher über Theatergeschichte, Stilkunde und Literarische Kritik sowohl Befreiung wie Entbindung. Hier herrschten statt der Ismen allein das Leben und seine Wirklichkeiten. Lebensgefühl war alles! Eine imaginäre Nabelschnur verband seine Vorlesungen mit der Fülle des Erlebens. „Meine Dam’n und Herren!“ begann eine Stimme, die ihre Erbmasse nicht aus der Sixtinischen Kapelle bezogen hatte. Schwer und dumpf kamen da Töne aus dem Inneren. Hier sprach die Erde mit. Diese Stimme höre ich noch immer. Was sie vortrug, habe ich längst vergessen. […] Die Wände des Hörsaals versanken. Wir saßen in einem Wald, zitierte Verse wurden Blätterräuschen. […] Und wenn eine Stunde zu Ende war, so stand die Kutscherei erst am Anfang eines Tages. Kanäle des Jungseins führten ins Herzgeviert brodelnder Lebendigkeit. (in v. Bruch/Müller 1986: 321f.)

Hugo Hartungs Wortwahl „Adepten“, „Grundbedingung“ und „verlangen“ soll hier deswegen in den Fokus gerückt werden, weil sie die Organisation der von Kutscher koordinierten Lerngemeinschaft eindeutig bestimmt. Hartung ist nicht der Einzige, der den partizipatorischen Charakter des Kutscher-Kreises gewahrte: Arnaudoff, bulgarischer Professor für deutsche Sprache und Kultur, behauptete, Kutschers »Vorlesungen, Übungen und Ausflüge« seien »massenhaft besucht bzw. mitgemacht« worden, und betonte fernerhin die Wichtigkeit der Bedeutungsaushandlung (in Günther 1938: 192). In Kutschers Übungen hätten alle Teilnehmer die Herausforderung angenommen, sich mit den im Seminarraum vorgeschlagenen Gedanken, Auffassungen oder Urteilen eingehend auseinanderzusetzen, so dass »häufig verschiedene Meinungen verfochten wurden und im Kampfe miteinander standen« (193). Auch Pongs, Professor für deutsche Literatur an der TH Stuttgart, erkannte, dass Kutschers Übungen »den Hörer in Zustimmung und Widerspruch« aktivierten (203), und Schalom Ben-Chorin präzisierte dahingehend, dass alle im Unterricht gewonnenen Erkenntnisse »bei Kutscher nicht vorgefaßte akademische Meinung, sondern Endprodukte langen Nachdenkens und reicher Erfahrung« waren (in v. Bruch/Müller 1986: 339).

Vor diesem Hintergrund muss der Begriff ‚Praxis‘ in Kutschers Lehrtätigkeit weiter erläutert werden: Der Theaterprofessor bezog sich damit nicht nur auf die Bühnenpraxis als mögliches Endziel einer universitären Bildung, sondern auch auf die Praxis der wissenschaftlichen Untersuchung. Die Voraussetzung für die Teilnahme an der Münchner theaterwissenschaftlichen CoP war ein »braves Immerdasein. Hier hieß es: immer darin sein – mitten in der Kunst, mitten im Leben und in der lebendigen Wissenschaft« (Hartung 1966: 165). Kunst, Leben und Wissenschaft bildeten somit ein Kontinuum, in dem sich alle drei Elemente bewegen sowie gegenseitig beeinflussen und bereichern. So ist es kaum verwunderlich, dass Kutscher als »der einzige Wissenschaftler, der das Theater als ein lebendiges und aus eigenen Gesetzen wachsendes Werk der Kunst erkannte« vom Regisseur Karl Hans Böhm und als »ein Mensch, der die Brücke zu schlagen wußte zwischen Wissenschaft und Praxis« vom Dramaturg Hermann Frieß bezeichnet wurde (in Günther 1938: 266 u. 272). Hoferichter bekräftigte diese Darstellungen, indem er schrieb: »Obgleich das ewig Lebendige ohne den Geist lebendig bleiben könnte, kam die Strenge der Wissenschaft bei Kutscher nicht zu kurz« (in v. Bruch/Müller 1986: 322). Die Grundkonzepte von Kutschers Forschung, d.h. das Zusammenwirken und das Aneinanderlernen, waren zum einen in akademischen Veranstaltungen und zum anderen im Kontakt mit dem aufgeführten oder noch aufzuführenden Theater vermittelt. Der übliche Verlauf eines theaterwissenschaftlichen Unterrichts in München bezog sich auf zwei Hauptmethoden: die einleitende Veranschaulichung und die nachfolgende Feldarbeit. Kutscher bot allen Mitgliedern der praxisbezogenen Lerngemeinschaft zuerst Anschauungsmaterialien wie Lichtbilder, Diapositive, Bücher mit Zetteln oder Modelle aus unterschiedlichen Stoffen, und dann forderte er die Mitglieder auf, mit oder aus diesen Objekten heraus selbstständiges Experimentieren bzw. empirische Feldforschung zu betreiben und die erworbenen Kenntnisse zu überprüfen. Er lehrte aus der Praxis heraus für die Praxis. Manchmal benutzte er auch banale Gebrauchsgegenstände, um das Verständnis eines Spiels oder die Erfassung eines Phänomens auf der Bühne vorzubereiten. Das von Norbert Schultze erzählte Hutexperiment in einer Vorlesung ist also ein gutes Beispiel für Kutschers Lehrtätigkeit:

Er wollte das »Wesen des Komischen« an Hand eines Experimentes noch einmal zusammenfassend deutlich machen. Dazu hatte er einen feierlichen steifen schwarzen Hut mitgebracht. Das »Experiment« bestand nun darin, die »Glocke« auf mannigfaltige Art und unter gewissenhafter Veränderung des Neigungswinkels auf das Professorshaupt zu stülpen. Solch eine Art Demonstration scheint mir typisch für Professor Kutscher: Sie war ebenso unterhaltend und erheiternd wie einprägsam und zweckmäßig. (in Günther 1938: 306)

Die Demonstration zeigt nicht nur die modernen sowie exzentrischen Lehrmethoden Kutschers, sondern auch seine Art, die Materialität der Szene – die ‚Glocke‘ ist ein im Volkstheater immer wieder vorkommendes Element – im Seminarraum zu reproduzieren, um sie den Studenten erfahrbar zu machen. Außerdem können die Vorlesungsteilnehmer ihre Fähigkeiten und Fantasie anhand der gebotenen Situation unter Beweis stellen. Die performative Didaktik Kutschers ist ein Beweis dafür, dass der Dozent und seine Schüler keine entkörperlichte, abstrakte Wahrheit verfolgten, sondern dass sie sich an »collaborative fictions« beteiligten (Pineau 1994: 10), um die Pluralität der Meinungen und Weltanschauungen zu einem kollektiv erarbeiteten Wissen zusammenfließen zu lassen, welches dann seine konkrete Anwendung in der Forschung sowie im Leben finden konnte. Alle möglichen Wissensansprüche sollten daher innerhalb der theaterwissenschaftlichen Gemeinschaft ausgehandelt und aufgeführt werden: »[P]erformance reframes the whole educational enterprise as a mutable and ongoing ensemble of narratives and performances, rather than a linear accumulation of isolated, discipline-specific competencies« (Ebd.).

Teil II. Potentialphase
München, der kulturelle Pol

Man suchte nach einem Ferment, das dieses Zellgewebe einer Stadt so weitmaschig und locker gemacht hat. Du verläßt einen Kreis, und der nächste nimmt dich auf. Du treibst dich so lange im fünften, bis dich unversehens drei Schritte wieder in den Mittelpunkt führen, während du schon dachtest, wer weiß wo zu sein. Jeder ist zugleich, wo er ist, und überall. Jeder ist bei jedem. Jeder hat alle Kreise. Alle Kreise haben jeden und keinen. Wenn man zu Ende ist, ist man wieder am Anfang. Wenn man sein Kleid nicht mehr zeigen kann, verkleidet man sich. […] Und so war München die Stadt einer gefühlsmäßigen Demokratie und auch des Karnevals. (Blei 2004: 322f.)

Nach dem Abitur in der Geburtsstadt Hannover entschied sich Kutscher im September 1899 für die Münchner Universität, wo er bei Hermann Paul, Franz Muncker, Roman Woerner, Adolf Furtwängler, Karl Theodor von Heigel und anderen anerkannten Namen studierte, die damals in der Hauptstadt Bayerns lehrten. Im Sommersemester 1900 besuchte er die Universität zu Kiel, an der Eugen Wolff Seminare über Schillers Ästhetik und über die Geschichte des deutschen Dramas im 19. Jahrhundert hielt. Kutscher ließ sich von Wolffs Vorstellung einer Wissenschaft des Theaters begeistern und las auch seine skizzenhafte Stilkunde mit Interesse, bevor er sie aber aus mangelnder wissenschaftlicher Präzision und Vollkommenheit ablehnte. Im Wintersemester 1900/1901, nach dem Besuch der Pariser Weltausstellung, zog Kutscher nach Berlin und, auch wenn er »das Theater gründlich kennenlernen« wollte (1960: 32), belegte dort vor allem germanistische Vorlesungen: „Altertums- und Volkskunde“ bei Karl Weinhold, die er positiv fand, „Geschichte der ältesten deutschen Literatur“ bei Roediger, dessen Reizlosigkeit Kutscher sehr schnell verurteilte, „Goethes Faust“ bei Ludwig Geiger, die dem Studenten eine dermaßen große Enttäuschung verursachte, dass er aus dem Kolleg hinauslief, und schließlich „Deutsche Literatur von Klopstock bis Schiller“ bei Erich Schmidt, dem verehrten Nachfolger Wilhelm Scherers, den Kutscher auch hochschätzte. Darüber hinaus hörte der späte Theaterwissenschaftler Max Dessoirs Vorlesung „Ästhetik mit Beispielen aus moderner Malerei, Musik und Architektur“. Gerade in jener Berliner Zeit engagierte sich Dessoir für die Neubegründung einer systematischen Kunstwissenschaft, was zweifellos eine große Faszination auf Kutscher ausübte. Allerdings verschlug es Kutscher im Sommersemester 1901 nochmals nach München und von da ab wurde die Stadt zu seiner Wahlheimat. Die Gründe seiner jugendlichen Entscheidung erklärte Kutscher in seiner Autobiographie: »Was mich veranlaßte, wieder München zu wählen, war nicht eigentlich die Universität, sondern die Atmosphäre der Stadt«, die er näher bestimmt: »ihre Offenheit gegen die mannigfaltige, große Natur, ihre ganze Lebensführung, die einem kräftigen […] Volkstum verbunden war, und ihre Liebe zu bildender Kunst, Architektur, Musik, Theater, die weniger vom bajuwarischen Stamme als von Zugereisten aus Nord und Südost getragen wurden« (35).

Was tatsächlich München um die Jahrhundertwende charakterisierte, war einerseits der Aufschwung des Wirtschaftslebens, der am Ende des sog. „Siebziger Krieges“ gegen Frankreich begann, und andererseits die Bevölkerungsexplosion: Durch eine massive Einwanderung wurde die Zahl der Einwohner in der Zeitspanne 1890–1900 von 350000 auf 498503 erhöht (Wilhelm 1993: 9). Neben den darauffolgenden aufsteigenden sozialen Konflikten erlebte die Stadt das Aufblühen von Vereinen, Bünden, Kreisen und Gesellschaften, Zeitungen, Zeitschriften und internationalen Ausstellungen, wie die ab 1889 jährliche Internationale Kunstausstellung im Glaspalast, die den Ruf Münchens als „Stadt der Kunst“ begründete. Die Prinzregentenzeit leitete eine Blütezeit ein, die München in eine der führenden Kunst- und Kulturstädte des deutschen Reiches verwandelte. Der Münchner Aufbruch in die Moderne wurde von sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten, Bewegungen und kulturellen Richtungen getragen, die aber einen gemeinsamen Charakter zeigten: der Widerstand gegen die Autorität – auch im künstlerischen Bereich – ebenso wie gegen viele sittliche Normen und Unterdrückungsformen.

 

Der Begriff ‚Moderne‘ entfaltete sich kunst-, theater- und literarhistorisch in der naturalistischen Bewegung und gleichzeitig in mancherlei Gegenrichtungen, die im Kunstwerk entweder die Entfaltung der Subjektivität nach Nietzsches „Willen zur Macht“ oder den Einbruch des Freud’schen Unbewussten oder die Erweckung naturmystischer Vorstellungen erstrebten. Wie Brauneck treffend zusammenfasst, ergab sich in der Moderne »ein äußerst produktives geistiges Klima […], in dem künstlerische Richtungen wie Impressionismus, Symbolismus oder „Neuromantik“ ihre theoretischen oder weltanschaulichen Bezugspunkte fanden« (682). Sowohl die Vertreter des Naturalismus als auch die Naturalismus-Gegner propagierten ein eigenes Projekt der Moderne: entweder einen Objektivitätsanspruch (Außenwelt, Realität „ohne die Menschen“) oder einen subjektiven Wahrheitsbegriff (Innenwelt, Empfindung, Naturtrieb, Vitalismus). Wenn man sich im deutschsprachigen Raum auf München allein konzentriert, ist sowohl die Koexistenz gegenseitiger und trotzdem eng verbundener Strömungen als auch das Kulturengagement unterschiedlicher Gruppierungen am deutlichsten erkennbar. Eine Beschreibung des kulturellen Pols München um 1900 ist für die Analyse der frühen Tätigkeit Artur Kutschers äußerst brauchbar, denn diese enthielt schon in nuce das Potential für die Förderung bzw. Koordination einer praxisorientierten Theaterwissenschaft. Wenn man Communities of Practice genauer betrachtet, kann man diese nicht als isolierte Erscheinungen auffassen oder sie unabhängig von anderen Praktiken verstehen: Ihre unterschiedlichen Praktiken sind miteinander eng verbunden. Ihre Mitglieder und ihre Artefakte sind nicht ihre eigenen allein, ihre Geschichten sind nicht einfach interne Geschichten. Sie sind eher Artikulationsgeschichten zur übrigen Welt hin (Wenger 1998: 103). Was die Kunst- und Kulturgeschichte Münchens in der Prinzregentenzeit prägt, sei eben die Aufwertung der Gemeinschaft im Sinne einer Bildung von sozialen Gruppierungen unterschiedlicher Art. Eine solche Kollektivität entfernte sich allmählich vom aufklärerischen Ideal einer kulturellen Elite, die nach ihrem geistigen Muster die ganze Nation modellieren sollte, und gab sich eher der Volksutopie hin. Die Künstler, die sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Förderung eines kultivierten Bürgertums beschäftigt hatten, plädierten für die Ausbreitung eines unpolitischen Klassizismus und waren daher der königlichen Macht untergeordnet.1 Die junge Künstlergeneration rebellierte demnach heftig gegen diese sterile Kunst, die in ihren Augen den Status quo einfach verteidigte und die deutsche Misere vertiefte. In ihrer Vorstellung sollte ein außergeschichtliches oder unhistorisches Volk an die Stelle einer bürgerlichen bzw. philiströsen Nation treten. In diesem Zusammenhang spielte die Theatervision Richard Wagners unzweifelhaft eine große Rolle.2 Wagners Kunstbegriff fußte auf dem Gemeinschaftserlebnis, welches durch emotionale, prä-rationale Bindungskräfte eine temporäre Überwindung der sonst gültigen Gesellschaftsspaltungen erforderte und hierdurch das ganze Volk konsolidieren und einigen konnte.3 Eine für das Volk erzeugte Kunst konnte nur aus der idealisierten Gemeinschaft des Volks selbst kommen und verlangte somit die Zusammenarbeit zwischen Intellektuellen, Theoretikern, schon ausübenden sowie debütierenden Künstlern, die sich jeweils durch eine Verflechtung ihrer Praktiken gegenseitig legitimierten. Rolf Parr, Literaturhistoriker und anerkannter Forscher auf dem Feld literarisch-kultureller Vereine vor und nach dem ersten Weltkrieg, hat versucht, das Phänomen systematisch zu kontextualisieren: Im wilhelminischen Deutschland hätten das Prosperieren von Technik, die Industrialisierung und die Universalisierungstendenz eines kapitalistischen Systems zur Radikalisierung der Opposition zwischen vorhandenem Materialismus und mangelndem Idealismus geführt, »was notwendigerweise kulturkritische Konzepte mit kompensatorischer Intention auf den Plan rufen mußte, die von einer nach 1860 geborenen und bereits im Reich aufgewachsenen Generation von Intellektuellen getragen wurden« (2000: 47). Man betrachtete also die schwache nationale Identität der Deutschen als direkte Folge des kulturellen Verfalls und beabsichtigte daher, das Verhältnis zwischen Nationalidentität und Kultur zu problematisieren:

Für diesen Teil des wilhelminischen Bildungsbürgertums galt es, zum einen nach „außen“ zu expandieren und zu kolonisieren, […] zum anderen nach „innen“ die deutsche Kultur zu erneuern, um damit […] das Spezifische eines präsupponierten deutschen Nationalcharakters und zugleich die eigene sozio-ökonomische Stellung zu sichern. (Ebd.)

Die konsequente Reaktion sei eine konservative Kulturkritik gewesen, welche die Kunst idealistisch verstand, wobei sie diese mit einem germanischen Kult verband. Das Volk würde somit

zum utopischen Zielbegriff einer noch zu verwirklichenden neuen nationalen Inte­gration, um deren Realisierung sich um 1900 eine Vielzahl kulturkritischer, lebensreformerischer und in der Regel zugleich völkisch-religiös akzentuierter Gruppe, Bünde, Orden, Gemeinschaften und Kreise bemühte, die teils mit minimalen Distinktionen in Konkurrenz zueinander standen, sich teils in übergeordneten Verbänden kooperierend zusammenschlossen. (49)

Der Ansatz einer konservativen Kulturkritik4 ebenso wie der eines reaktionären Modernismus im Sinne Jeffrey Herfs5 übersieht jedoch die ständige Gegenübersetzung von Denkern und Künstlern mit auktorialen Instanzen – seien sie Verkörperung der kulturellen Tradition oder Ausdruck der politischen Macht –, die Öffnung der deutschen Kunst zu ausländischen, sogar transnationalen Stilen6 sowie die Aushandlung von Bedeutungen, Funktionen und Praktiken zwischen Mitgliedern zwar unterschiedlicher, jedoch verbundener Gemeinschaften, Künste und Disziplinen.

Die Münchner Moderne kann eigentlich als »constellation of interconnected practices« bezeichnet werden. Damit meint Wenger Beziehungen zwischen Lerngemeinschaften, welche gemeinsame historische Wurzeln, voneinander abhängende Projekte sowie einige gemeinsame Mitglieder haben, einen gemeinsamen Zweck erfüllen oder einer Institution angehören, sich mit denselben Sachverhalten konfrontieren, Artefakte miteinander teilen, entweder geographisch oder durch Interaktion naheliegen, Überlappungsdiskurse oder -stile zeigen und welche schließlich für dieselben Ressourcen in Konkurrenz stehen (1998: 127). Die Interaktion zwischen Praktiken gibt der Konstellation eine gewisse Kontinuität und, umgekehrt, eine einzige CoP produziert und reproduziert die Verbindungen, Stile, Medien, Werkzeuge und Diskurse, durch die sie dazu beiträgt, eine breitere Konstellation zu bilden (130). Dieser Aspekt der Moderne in München ist noch prägender, wenn man die Abgrenzung und Strukturierung ihrer vielen praxisorientierten Gruppierungen betrachtet. Die Abgrenzung ist immer das Resultat historisch gewachsener und gemeinsam benutzter Handlungs- und Deutungsmuster, welche sich nur zum Teil in formal-organisatorischen Parametern spiegeln: »Sie sind vor allem Ergebnis von Aushandlungsprozessen zwischen betrieblichen Akteuren, die sich im Produktionsalltag immer wieder neu vollziehen« (Wehner/Clases/Endres 1996: 79). Die Träger der Geschichte und Tradition einer CoP sind daher die Produktionsmittel, bzw. Artefakte, und die Organisationsstrukturen. Eine so markierte Abgrenzung der kulturellen CoPs war aber um 1900 in der Hauptstadt Bayerns nicht vorhanden, was folglich daran zweifeln lässt, ob man von Communities of Practice überhaupt sprechen kann. Sie waren vielmehr embryonale praxisbezogene Gruppierungen, die einfach gemeinsame Interessen teilten oder die sich um starke Persönlichkeiten sammelten, ohne die Bedingungen für eine gemeinsame Unternehmung auszuhandeln. Sie mangelten ferner an einem im Laufe ihrer Existenz erzeugtem Repertoire, das sie von anderen Lerngemeinschaften unterscheiden ließ. Auch die charakteristische Multimitgliedschaft und Vielseitigkeit der Gesellschaften der Münchner Bohème gefährdete ständig ihre Grenzen und Peripherien7 sowie ihre Reproduktion, d.h. die Tradierung lokaler Deutungsmuster und relevanter Handlungssegmente. So ist es kaum verwunderlich, dass alle künstlerisch-geselligen Zirkel ihre interne Dynamik nicht lange zu bewahren wussten, nur wenige Jahre dauerten und mehrmals neugegründet wurden – oft mit anderen Namen. Schon 1954 vertrat Heribert Wenig in seiner – übrigens von Borcherdt und Kutscher selbst betreuten – Dissertation zu deutschen akademisch-dramatischen Vereinigungen eine ähnliche Ansicht: