"Das strittige Gebiet zwischen Wissenschaft und Kunst"

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Implizites Wissen und reflektierende Praxis/Reflexion bilden tatsächlich den Fokus von zwei für die Diskussion um PAR bedeutenden Theorien, die zu einer neuen Epistemologie der Praxis beigetragen haben. Die erste ist die bereits erwähnte Position von Michael Polanyi, während sich die zweite in Donald Alan Schöns Werk The Reflective Practitioner artikuliert. 1983 hat Schön den Begriff „reflective practice“ eingeführt, welcher den Zusammenhang von Wissen und Handeln in der Tätigkeit von Praktikern zu verdeutlichen versucht und nach einer neuen, auf der Praxis basierenden Verschmelzung von Kunst und akademischer Lehre strebt. Von unterschiedlichen Fallstudien ausgehend stellt Schön fest, dass die Art und Weise, wie Praktiker Aufgaben stellen und Probleme lösen, von einem impliziten personalen Wissen abhängt, das oftmals nicht ausgesprochen ist und das auf die in der Praxis gelernte Improvisationsfähigkeit setzt. Doch diese statische Wissensform sei nicht in der Lage, mehr Wissen im Praxisfeld zu konstruieren, weil Praktiker die Instrumente für die Artikulation ihres intuitiven, im Handeln inhärenten Wissens und folglich für die Wissensvermittlung nicht beherrschen. Der Bereich der Praxis bleibt hier von dem der wissenschaftlichen Untersuchung getrennt. Unter bestimmten Umständen können sich Praktiker allerdings auf eine „reflektierende Praxis“ konzentrieren, welche die Beziehung zwischen Praxis und Forschung wiederherstellt. Der natürliche Austausch zwischen diesen Bereichen wird durch die „Reflexion im Handeln“, d.h. das Reflektieren über das Handeln während des Handelns selbst, und die „Reflexion über das Handeln“, d.h. eine rückschauende Reflexion über die abgeschlossene Handlung, implementiert. Der Praktiker wird zum Erforscher seiner eigenen Praxis, wenn er über sein eigenes Wissen in der Praxis reflektiert – mitten in der kreativen Handlung wie auch danach.8 Christopher Crouchs Kritik an Schöns reflektierender Praxis (2007) gipfelt aber in der Feststellung, Reflection sei ein Prozess, durch welchen sich das Individuum an einem schon vorhandenen Wissensbestand beteilige, ohne sich zu fragen, wie und inwiefern er seine Forschung beeinflusst und was letztendlich als Forschung angenommen wird. Crouch plädiert stattdessen für die Wichtigkeit von reflexive practitioners, die sich kritisch mit ihren kreativen Werken oder Artefakten beschäftigen. Reflexivität bezeichnet demnach einen dynamischen Lernprozess, der die interne Perspektive mit der externen verbindet. Im Kunstbereich bzw. in der Kunstforschung wird ein solcher Lernprozess entweder in Zusammenarbeit zwischen Künstlern und Akademikern oder von Kunstpraktikern selbst durchgeführt, die aber ihre eigenen auf der Praxis basierenden Kenntnisse mit kritischem Blick untersuchen und in der Öffentlichkeit verbreiten können. Praxis bzw. reflexives Handeln erzwingt den Einsatz der Einzelnen für die Aushandlung eher gesellschaftlicher als akademischer Prinzipien und Werte:

When the creative practitioner adopts praxis, it encourages the act of reflecting upon, and reconstructing the constructed world. Adopting praxis assumes a process of meaning making, and that meaning and its processes are contingent upon a cultural and social environment. Because praxis is not self-centred but is about acting together with others, because it is about negotiation and is not about acting upon others, it forces the practitioner to consider more than just the practicalities of making. Praxis encourages a move away from the pitfalls of introspective narcissism and towards an analytical engagement with human interaction, and emphasizes the necessity to clarify the inter-subjective circumstances of the communicative act. (111f.)

So ist es nicht überraschend, dass die Situiertheit des Wissens und des Lernprozesses als heutiges Bewertungskriterium von PAR am meisten zählt. Sie betrifft die Art und Weise, wie die practitioners ihre Arbeit kontextualisieren – d.h. situativ platzieren –, welche Probleme sie durch ihre Arbeit untersuchen und welche Methoden sie anwenden, um die Fragen ihrer Kunstforschung zu behandeln und, wenn möglich, zu beantworten. Es besteht in dieser Hinsicht kein entscheidender Unterschied zwischen situiertem und erfahrungsbasiertem Wissen, soweit nach Sutherland und Krzys (2007) die praktische, kontextbezogene und relationale Aktivität des Lernens betroffen ist. Wenn sie behaupten: »[R]ather than metaphors of location, creative practice demonstrates the need to use metaphors of embodiment and tacit knowledge in order to understand the nature of experiential knowledge« (133), dann übersehen sie die Bedeutung von Situiertheit sowie die ganze Debatte über die Praxis als Hauptgrund für das Lernen. Doch die Fokussierung auf das Erfahrungswissen und auf die Konstituierung des Kunstwerks durch die direkten Kontakte der Subjekte zur Kunst beleuchtet das Problem der Re-präsentation von praxisorientierten Forschungsarbeiten.

Da jede wissenschaftliche Forschung auf »sustained and structured reflection« basiert, welche das unausgesprochene, implizite Wissen eines Kunstprozesses explizit macht (Nelson 2006: 112), muss Praxis sowohl im Kunstwerk als auch in einer damit verbundenen Dokumentation artikuliert und kommuniziert werden. Diese Doppelartikulation der Kunstpraxis im wissenschaftlichen Bereich wird aber in zweifacher Hinsicht kritisch gesehen: Wenn einige Wissenschaftler argumentieren, gewisse Kunstpraktiken und die Erschaffung von Kunst selbst seien als ernsthafte wissenschaftliche Forschung zu betrachten, »or at least as an integral aspect of the research, because it is an indispensable part of the research« (Dallow, 2003: 55), beklagen andere die akademische Betonung auf Zweck und Ziel der Kunstschöpfung, was das Kunstwerk und dessen Wert in den Hintergrund drängt. Anna Pakes (2004) spricht ihr tiefes Bedauern über den für PAR typischen systematischen Versuch aus, die Konturen von Kunstwerken festzulegen, sie als Lösung einer externen Infragestellung aufzuweichen und somit ihre Polysemie zu verweigern: »The problem is that exercising such control may also undercut the value of artworks as able to speak to a multiplicity of interests and a variety of viewers […]«. Erschwerend kommt hinzu, dass die etablierte akademische Weise, die Struktur einer Forschungsarbeit zu evaluieren, gerade dem epistemologischen Wert der Kunst entgegensteht: Neben der objektiven wissenschaftlichen Erkenntnis spielen die äußerst produktive Verflechtung von Beziehungen und Erfahrungen, die intime und innige Beschäftigung mit dem eigenen Werk ebenso wie die hohe Interpretationsoffenheit von Kunstwerken eine Rolle. Gerade wegen dieses zweimal verkörperten Wissens – einmal im kreativen Prozess, einmal im Kunstwerk – ist die Frage nach einer angemessenen Dokumentation vor allem in den praxisorientierten performative arts entscheidend: Die Flüchtigkeit von Aufführungen und die von ihnen untrennbare leibliche Ko-Präsenz von Zuschauern und Akteuren entziehen sich jeder Übertragung in andere Formen. Hier kommt es zu einem Bruch zwischen Wissensproduktion und Wissensvermittlung: Die effektive Übersetzung einer Performance in ein anderes Medium, wodurch die Kriterien der etablierten akademischen Forschung allein befriedigen werden könnten, untergräbt die Forschungsmethode selbst.9 Eine solche Forschungsarbeit kann sich nämlich gerade mit den medialen Bedingungen oder mit der besonderen Erscheinung der Materialität einer Aufführung beschäftigen – und zwar mit Aufführungsmerkmalen, die auf ein verkörpertes Wissen hindeuten und per definitionem in einer Video- oder Audioaufzeichnung weder eingebettet noch artikuliert werden können (Rye 2003). Eine derartige Kunstforschung wird folglich entweder durch spezifische Dokumentationsmodi betrieben, die über ihr immanentes Paradox Auskunft geben: »that is, documents that do not suggest an unproblematic transparency between the live event and its record and therefore that the two cannot be conflated« (Ebd.); oder durch eine anti-akademische Praxis sensu stricto, die statt Sicherheit, Kontrolle oder Archivierungszwang gerade Zweifel, Verlust und Verschwinden kultiviert, um alle möglichen Interpretationen der transformierenden bzw. produktiven Triebkraft zwischen Realem und Repräsentation immer zu zulassen und aufzuführen (Phelan 1993: 173; 180). Als Antwort auf die bisher aufgezeigte Debatte über Methodologie und Validität der Forschung schlug Brad Haseman 2006 vor, ein neues Paradigma in der Kunstwissenschaft einzuführen – das Paradigma der Performative Research. Damit sind alle Untersuchungsformen gemeint, bei denen die symbolischen Fakten selbst performativ wirken: »It not only expresses the research, but in that expression becomes the research itself«. Performative Research könne also die Sozialstruktur und den kulturellen Kontext der Kunstpraxis erklären, gerade weil sie sich auf persönliche Narrative als situierte Praxis konzentriere: »Performative research represents a move which holds that practice is the principal research activity – rather than only the practice of performance – and sees the material outcomes of practice as all-important representations of research find­ings in their own right«. Schließlich lässt sich festhalten, dass die kritische Hinterfragung der Methoden und des Dokumentationsverfahrens,10 das Experimentieren ebenso wie die direkte Teilnahme der Forschenden an der praktischen Durchführung ihrer Forschungspläne die Bestandteile der praxisbasierten Forschung bzw. der künstlerischen Praxis bilden. Sowohl Nelson (2006: 115) als auch Borgdorff (2009: 43f.) setzen sich darum für die Verwendung des umfassenden Begriffs „arts research“ / „Kunstforschung“ ein, deren Hauptmethodik auf der Praxis beruht und die das implizite Wissen verkörpert, welches durch Experimente und Interpretationen ermittelt und vermittelt wird.

Vor diesem Hintergrund kann Artur Kutschers wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Objekt Theater als eine sehr frühe Anerkennung der grundlegenden Praxisdimension im Untersuchungsverfahren und als eine erste Eingrenzung des Problems „Praxis als Forschung“ im akademischen Horizont betrachtet werden. Kutscher lehnte jedes praxisferne Untersuchungsverfahren im Bereich der Theaterwissenschaft ab, weil er die Praxis als Ausgangspunkt und Zielpunkt11 aller Kunstforschung betrachtete. Er war außerdem davon überzeugt, die Binarität zwischen Praxis und Theorie sei nur ein Konstrukt des etablierten akademischen Denksystems, welches das Wissenspotential der metakritischen Theaterpraxis nicht gebührend schätzte. Da diese für Kutscher und dessen Schüler typische Forschungsperspektive in anderen zeitgenössischen theaterwissenschaftlichen Abteilungen oder Instituten kein Analogon fand, erscheint es nicht richtig, von der Entstehung einer einheitlichen, monolithischen Disziplin im deutschsprachigen Raum zu reden,12 sondern von der Entwicklung unterschiedlicher Facetten eines Wissenschaftsgebiets, die die Tätigkeit unterschiedlicher Forschungsgemeinschaften aus unterschiedlichen Orten widerspiegeln. Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, welches methodologische Instrumentarium dem Spezifikum der von Kutscher betriebenen Theaterforschung bzw. der Praxisdimension gerecht wird. Das theoretische Modell sollte zum einen den spezialisierten Wissenszweig „Theaterwissenschaft“ nicht als isolierte Erscheinung untersuchen, die Bedingungen der Möglichkeit prüfen, wie dieses neue Gebiet sich im universitären Wissenschaftsbetrieb von anderen Fächern abgrenzen, bzw. akademische Anerkennung erfahren konnte. Mit anderen Worten: Die Analyse muss im Hinblick auf den Modernisierungsprozess und auf den Betätigungsdrang der Intellektuellen im gesellschaftlichen und kulturellen Bereich durchgeführt werden, welche aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlicher Weise die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts charakterisierten. Zum anderen sollte es die Bestrebungen des „Theaterprofessors“, durch die Etablierung eines neuen Fachgebietes den Wissenserwerb und die Wissenserzeugung seiner Lerngemeinschaft anzuregen, in einen breiteren gesellschaftlichen Rahmen stellen.

 

Wissenschaftlicher Diskurs und ausgehandelte Praxis

Nach dem heutigen Stand der Wissenschaft kann keine gründliche Beschäftigung mit materiellen und/oder institutionellen Bedingungen des wissenschaftlichen Diskurses von Foucaults Diskursanalyse absehen. Doch Foucaults Diskursbegriff stellt hinsichtlich der Praxis ein großes Dilemma dar: das Verschwinden des Einzelakteurs in der Praxis selbst und daher die Negation direkter Interaktionen sowie produktiver Austauschprozesse zwischen Subjekten.1

Besonders am Anfang seiner theoretisch-methodologischen Reflexion (1968–1970) versucht Michel Foucault wiederholt, den Überbegriff „regulierte Praxis“ bzw. „Diskurs“ zu beschreiben. Diskurs und Praxis bilden lediglich ein Analyseinstrument, um die Konstitution von Wissen und Wirklichkeit zu erfassen.2 Er erkennt eine diskursive Praxis einerseits und eine nicht-diskursive Praxis andererseits. Die erste sei »eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben« (Foucault 1973: 171), während sich die zweite auf eine zu errichtende Systematik des Machbaren – also nicht des Aussagbaren oder des Denkbaren – bezieht.3 Die funktionale Verkettung dieser zwei Praktiken erschafft ein allgemeines System von Regeln, die innerhalb eines bestimmten Zeitraums der Wissensproduktion zugrunde liegen. Es stellt sich hier natürlich die Frage, wer oder was diese Regeln determiniert. Als reglementierende Instanz fungiert eine Art anonyme historische Macht, die der Praxis sowie dem sprechenden und handelnden Subjekt vorausgesetzt ist, eine aus Beziehungsbündeln bestehende Matrix. Die Praxis entspricht in Foucaults Theorie einem System von Strukturen oder Mustern, die alle Gegenstände, Begriffe und sprachlichen Äußerungen sowie die Position des Aussagesubjekts hervorbringen. Im Rahmen dieser Praxis gestalten Subjekte ihre Welt, »wie sie dabei von den Regeln des Diskurses geleitet, beschränkt und dezentriert werden« (Sarasin 2005: 107). Die Praxis regelt alles, was man denken, sagen und tun kann, und zwar organisiert sie die wahrgenommene Wirklichkeit. Die Individuen, die mit einer bestimmten diskursiven und nicht-diskursiven Praxis vertraut sind, teilen dieselben begrenzten Möglichkeiten, sich in einer gewissen Weise auszudrücken und zu handeln. Subjekte stehen mithin nicht im Zentrum des Lern- und Erkenntnisprozesses, sondern am Rande der Wissenserzeugung und der Wirklichkeitskonstitution: Durch die Subjekte bekommen gegebene Äußerungen eine festgelegte Funktion innerhalb der Praxis bzw. des Diskurses. Das Individuum als Subjekt, als Akteur stellt in Bezug auf die Praxis ein transparentes, amorphes und regungsloses Wesen dar, durch welches eine Äußerung erst konkret ausgesprochen werden kann. Das Subjekt existiert also nur, um Diskursinhalte zu vermitteln; es wurde vom Diskurs selbst konstituiert und legitimiert, sodass keine Aussage und kein Handeln außerhalb des Normierungssystems des Diskurses möglich sind. Der Diskurs allein bringt Wissen hervor, indem seine Prozesse die Handlungsmöglichkeiten der Menschen beschränken.4 Gerade in der Produktion von materiellen und diskursiven Bedingungen – und nicht zuletzt in der Produktion von Wissen – wird die Rolle des persönlichen Beitrags, der individuellen Leistung überaus fragwürdig: Wenn die Praxis einen Denkraum und zugleich einen Tätigkeitsbereich bezeichnet, dann erscheint die Vorstellung fragwürdig, dass der Akteur nur ein Epigone sei, der auf eigene Interessen, Intentionen und Entscheidungen verzichtet und der die ihm äußerlichen Strukturen einfach inkorporiert und reproduziert. Foucault erkennt zwar einen subjektiven Anteil in der Art und Weise, wie der Einzelakteur Aussagen nachvollzieht, insistiert zugleich aber auf dem Konzept, das Subjekt sei nur ein kontingentes Produkt einer historischen, kontextabhängigen, regulierten Praxis.

In der letzten Phase der Konstituierung seiner Theorie der Macht (1971–1984) beschreibt Foucault das Subjekt eher als Produkt von vorherrschenden allgegenwärtigen Machtkonstellationen. Die Verkoppelung zwischen Diskurs und Macht bekräftigt also Foucaults Ansatz, menschliche (Selbst)Erfahrung und Wirklichkeitswahrnehmung basieren nur auf einem Sozialdiskurs bzw. auf einem Machtfeld. Auch diese soziale Einbettung der Praxis löst den Widerspruch zwischen einer systeminternen Kausalität und dem menschlichen Handeln innerhalb des Geschichtswandels nicht. In dem Versuch, die anthropozentrische Denkstruktur und deren fast metaphysischen Subjektbegriff zu bekämpfen, kapituliert Foucault vor der Immanenz und Determiniertheit der objektiven Strukturen. Die jenseits menschlicher Kontrolle existierende Ordnung des Diskurses generiert nämlich ein Wissenssystem, das von den Akteuren und den Institutionen völlig unabhängig ist, die es durch eine konkrete Praxis anwenden und zu guter Letzt erzeugen (Bourdieu 2001: 316f.; 329f.). Das dynamische Prinzip dieses Systems befinde sich im System selbst, wobei die Einzelakteure keinen Spielraum für die Infragestellung, Ablehnung, Veränderung oder Neudefinierung der herkömmlichen Ordnung von Sinnproduktion und -durchsetzung hätten. Die aktive Rolle des handelnden Individuums, die Bedeutungsaushandlung sowie die Fähigkeit zu alternativen Taten und Intentionen5 bleiben bei Foucault außer Acht.

Ein Versuch, die Frage zu beantworten, wie sich geschichtliche materielle Bedingungen, ästhetische Strukturen und soziale Trägerschaften jenseits simpler Reproduktionsmuster aufeinander beziehen lassen, wurde erst von der Interdiskursanalyse durchgeführt. Die Erweiterung der Foucaultschen Diskursanalyse durch die zwei parallelen Begriffe „Spezialdiskurs“ und „Interdiskurs“6 erfolgt zugunsten einer Rehabilitierung des Subjekts: Dies profiliert sich als Stifter von Interdiskursen, der aus den unterschiedlichen kursierenden Diskursen auswählen kann. Der generative Ansatz in der soziokulturellen Praxis wird somit wieder zur wissenschaftlichen Debatte gestellt. Rolf Parr erarbeitet die interdiskurstheoretische Perspektive für die Beschreibung literarisch-kultureller Gruppierungen, wobei er den Interdiskurs »als entscheidende[s] Kopplungsfeld zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Praxisbereichen« annimmt (2000: 23). Die Fokussierung verschiebt sich allmählich auf die kollektive As-Sociation bzw. Socius-Bildung, welche »immer zugleich individuelle Ausbildung von „Psyche“ und Prozess des kollektiven sich Associierens an andere« ist (14). Doch auch im interdiskursiven Ansatz erdrückt die grundlegende sozialhistorische Kontingenz des Wissenssubjekts jede Handlung oder jeden aktiven Lernprozess des Individuums. Wenn auch das Konzept des homogenen Kollektivsubjekts durch die Annahme einer Herstellung distinkter Subjektpositionen im kulturellen Feld konterkariert wird, bleibt die individuelle Betätigung in der Integration der Praktiken und in der Applikation von interdiskursiven Elementen völlig unbeachtet. Der Interdiskurs setzt einen Wissensgehalt voraus, der objektiv gegeben, schon fixiert und kaum veränderlich ist. Das Subjekt ist kein Akteur, der seinen Spielraum durch seine eigene Körperlichkeit, Erfahrung und Wahrnehmungsfähigkeit innerhalb einer Gemeinschaft bewerten, mitbestimmen und neu definieren kann. Die Interdiskursanalyse vermeidet konsequent, den Begriff „Praktiken“ zu definieren: Anscheinend sind sie nur generative Regeln für die Erzeugung von Kunst und Wissen. Die Aushandlung von Bedeutungen, Praktiken und Symbolen spielt demgemäß überhaupt keine Rolle: Jeder Teilnehmer eines literarisch-kulturellen Vereins scheint eher passiv, ohnmächtig zu sein. Das Verfahren der Reproduktion formierender interdiskursiver Elemente in der Tätigkeit einer Gruppierung werde nämlich, wie Parr argumentiert, durch Rituale fortgeführt, deren Auswahl, Genese, Entwicklung und Modifizierung offenbar jenseits der Einflussmöglichkeiten der Mitglieder liegen.7 Das sogenannte formierend-historische Projekt bzw. das „Projekt der Praktikenintegration“ nimmt dann die vagen Konturen einer unsichtbaren, den Individuen vorgängigen Macht an. Auch in der Interdiskurstheorie bleibt die Subjektivität in abstrakten Strukturen oder in unfassbaren Kreuzen zwischen unterschiedlichen Achsen befangen: Das Individuum ist immer noch ein Träger des jeweils gegebenen Projekts, kein interaktives und zugleich agierendes Subjekt. Man spricht ständig von Ideen, Symbolen, Ideologemen und Projekten, als wären sie Teil eines halbgöttlichen Plans, da von Menschen kaum die Rede ist. Eine Analyse von soziokulturellen Gesellschaften oder Vereinen, von Wissenschaften8, von Künsten und deren Werken kann allerdings nicht darauf verzichten, die Erzeugung und Reproduktion von Erfahrung und Wissen seitens der Subjekte zu berücksichtigen. Mit anderen Worten, das Individuum als Produkt einer Struktur soll mit einem subjektiven Bedeutungs- und Aktionshorizont dialektisch verknüpft werden, den außerhalb jener Struktur gewonnen wurde. Wie Stephen Turner zu Recht bemerkt, ist es das Konzept von Praxis selbst, das eine Zwei-Ebenen-Struktur aufweist: einerseits eine individuelle Substanz, die subjektive Veranlagungen mit einschließt, andererseits eine sozialhistorische Gegebenheit (1994: 50).

Es ist nun deutlich geworden, dass weder die Diskursanalyse noch die Interdiskuranalyse einen angemessenen theoretischen Rahmen bieten, in dem die Problematik der von Subjekten im Alltagsleben sowie in (theater)wissenschaftlicher Forschung ausgehandelten Praxis einer eingehenden Betrachtung zugeführt werden kann. Die für die Münchner Theaterwissenschaft bezeichnende Praxisdimension kann nur als Baustein der Wissensumwandlung begriffen werden, die in der Lerntätigkeit der an Artur Kutscher gebundenen Gemeinschaft durch die zweipolige Interaktion zwischen personaler Erfahrung und sozialen Kompetenzen stattfand. Als Ansatzpunkt für vorliegende Arbeit wird demnach die Theorie der situierten Kognition angewandt, die dem Vorbild von Jean Lave und Etienne Wenger folgt9 und die den Lernprozess als eine kontextbezogene Transformation des Wissens versteht, welche persönliche Veränderungen mit der Entwicklung von Sozialstrukturen kombiniert (Wenger 2000: 227).