Ich bin Matteo Salvini

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa
WAS VON DER EUROPAWAHL ZU ERWARTEN IST

Am 14. April 2019 hat Matteo Salvini es noch einmal deutlich gesagt, auf dem Landesparteitag der Lega in der Region Latium: »Diese Wahl ist die letzte Chance, um Europa noch zu retten.« Sein Ziel ist es, auf europäischer Ebene ein längst verlorenes Gleichgewicht wiederherzustellen. Der falsche Einfluss der europäischen Institutionen auf manchen Gebieten, vor allem in der Außenpolitik, mache es unmöglich, fortzufahren wie bisher. Wenn die Europawahlen die erhofften Ergebnisse bringen, so kündigte der Minister an, wird »die Lega ganz Europa den Schutz der nationalen Grenzen aufzwingen. Mit der Lega als europäischer Führungskraft werden die EU-Außengrenzen dicht gemacht. Wir haben gesehen, wie der Versuch endete, die Demokratie mit Bomben und Panzern nach Afghanistan, in den Irak und nach Libyen zu exportieren. Die Grenzen Italiens waren, sind und bleiben für die Menschenhändler geschlossen.« Kurz gesagt, Salvini setzt alles daran, damit sich wirklich etwas ändert und Italien nicht länger das große Flüchtlingslager bleibt, zu dem es die früheren Regierungen gemacht haben.

Die EU hat uns oft mit unserem Schicksal allein gelassen und wichtige Punkte allein der deutschen Kanzlerin Merkel oder auch dem Franzosen Macron überlassen, der ein Freund der »Renzianer« ist, aber sicher kein Freund Salvinis. Der steht vielmehr Marine Le Pen nahe, die von gewissen Kreisen immer wieder als viel zu weit rechts stehend verurteilt wird. Dabei war es vielmehr die Starrköpfigkeit einiger Regierungen nach den verheerenden Terroranschlägen und angesichts der millionenfachen Massenzuwanderung illegaler Migranten, die ganz Europa zunehmend nach rechts gerückt hat. Salvini weiß das und macht Druck, wobei er überwältigende politische Erfolge einfährt, die mit Sicherheit den Charakter der europäischen Gemeinschaftspolitik verändern werden.

Die Verbündeten, die Salvinis Weg folgen werden, haben sich dabei auch schon offenbart. Nach der internationalen Pressekonferenz am 8. April in Mailand haben die anwesenden Parteien entschieden, sich dem von der Lega initiierten Projekt anzuschließen. Darunter die schon historischen Verbündeten der Freiheitlichen Partei Österreichs um Heinz-Christian Strache (Vizekanzler in Österreich), die Eesti Konservatiivne Rahvaerakond aus Estland, geführt von Mart Helme, der erst kürzlich mit fünf eigenen Ministern in die Regierung eintrat, sowie die slowakische Partei Sme Rodina um Boris Kollàr. Was nach den Europawahlen aus der italienischen Regierung wird, ist schwer zu sagen. Die Zusammenstöße innerhalb der gelb-grünen Koalition werden immer heftiger. Salvini und sein Regierungspartner Luigi Di Maio befehden sich auf eine Weise, daß man glauben mag, ihr Vertrag gewähre ihnen einen bewaffneten Frieden und sie respektierten ihn bloß aus Anstand. Doch wenn bereits die Regionalwahlen der Prüfstein für ein vereintes Centrodestra waren, das die Zustimmung von Silvio Berlusconi und Giorgia Meloni fand, so könnten die Europawahlen durchaus zu einem Kurswechsel der Lega führen, die sich auch auf nationaler Ebene ihren historischen Verbündeten rechts von der Mitte annähern könnte. Es ist alles eine Frage der politischen Imagination, ein Spiel mit dem, was politisch möglich ist. So gibt es zwei Optionen. Nach den Europawahlen könnte sich Salvini entscheiden, den Koalitionsvertrag zu brechen und die in Umfragen ohnehin einknickende Fünf-Sterne-Bewegung ihrem Schicksal zu überlassen. In diesem Fall würde man zu Neuwahlen schreiten, zumal der Vorsitzende der Lega immer klar gesagt hat, daß eine neue technische Regierung auf keinen Fall in Betracht komme. Oder aber, zweite Möglichkeit, man geht den eingeschlagenen Weg weiter und akzeptiert den bisherigen Koalitionsvertrag, wenn auch widerwillig. Dies ist der Grund, warum die Wahlen am 26. Mai nicht allein für die Außenpolitik von Bedeutung sind, sondern ebenso für die italienische Innenpolitik. In den Räumen des Parlaments gehen jedenfalls Gerüchte um und es werden bereits Wetten angenommen, was nach den Europawahlen passieren wird. Und während das Land in einem Wartezustand verharrt und zu begreifen versucht, was da geschehen wird, kündet Salvini Innovationen und Entscheidungen an, die zum einen natürlich Teil seines Wahlkampfes, zum anderen aber bereits Kostproben konkreter Realpolitik sind.

»Wir sind dabei, einen großen Plan zur Einstellung von Polizisten auszuarbeiten«, hat der Minister jüngst in Erinnerung gerufen, »und zudem einen großen Plan zur Anbringung von Überwachungskameras, um die Sicherheit der Bürger zu garantieren. Dann arbeiten wir an einem Fond für Senioren, die Opfer von Betrugsdelikten geworden sind. Im Juni wird die Übergabe von Elektroschockern an sämtliche Polizeibeamte erfolgen.« Daneben gibt es einen Punkt, den Salvini nicht leugnet: »Wir müssen«, wie er sagt, »aus dem Kampf gegen die Händler von Drogen und Todeshändler einen Krieg machen, und das läßt sich nur mit einer Anhebung der Strafen für solche Händler erreichen sowie mit einer Absenkung der legalen Besitzmenge, um diese Kriminellen schneller ins Gefängnis werfen zu können. Harte Strafen, das ist es, was gebraucht wird.« Also ist die Rechtslage zu ändern, zumal die Gesetzeshüter ihrerseits darüber klagen, daß eine rechtliche Handhabe entweder fehlt oder die Gesetze schlecht formuliert sind und eine konsequente Strafverfolgung nicht garantieren können – so etwa wenn Verbrecher das Gefängnis schon einen Tag nach ihrer Festnahme wieder verlassen dürfen beziehungsweise selbst bei Vergewaltigung und Raub noch Strafmilderung erhalten.

BACKSTAGE

Rom, Viminalspalast. Ein Morgen Mitte April. Die Sonne steht am Himmel und wärmt bereits. Ich begebe mich zum Eingang, passiere die Einlaßkontrolle und gehe auf die Polizisten zu, die Wache halten. »Guten Tag, ich habe eine Verabredung mit Minister Salvini.«

»Guten Tag« antworten sie, »Ihre Papiere, bitte«. Dann geben sie mir einen Gästeausweis und kündigen mich im Sekretariat des Herrn Vizepremierministers telefonisch an.

»Hören Sie, das übliche Prozedere können wir uns sparen, begeben Sie sich einfach dort zum Seiteneingang.« Kaum trete ich in das Atrium ein, kommt mir schon ein Mitarbeiter entgegen. »Ich begleite Sie zum Aufzug«, erklärt er und weist mir den Weg. Im Obergeschoß erwartet mich Salvinis Pressesprecher, der Kollege Matteo Pandini15. »Ciao Chiara, wir müssen noch ganz kurz warten«, läßt er mich wissen. Kein Problem. Ich nehme auf einem der Sessel im Warteraum Platz und beginne, die Decke mit all ihren Rosenfenstern und Freskendekorationen zu bewundern. Ich sinne darüber nach, daß in Rom die Paläste der Macht, durchweg architektonische Wunderleistungen, auch deshalb heute so gut erhalten sind, weil sie schon lange als Regierungssitze genutzt werden. Während ich meinen Gedanken nachhänge und von verschiedenen Personen gefragt werde, ob ich einen Kaffee oder ein Glas Wasser möchte, vergeht die Zeit. Plötzlich ist Pandini wieder da und weist mir den Weg in ein Zimmer: »Da kannst du es dir bequem machen.«

Als ich den Raum betrete, sehe ich ihn auch schon. Der Minister, da sitzt er an seinem Schreibtisch und unterschreibt Dokumente, hebt ab und an den Kopf in Richtung eines Fernsehers, der nebenbei läuft.

»Ciao Matteo«, begrüße ich ihn. Wir kennen uns noch von früher, als ich für die Tageszeitung Libero schrieb. Damals hatte ich in den sozialen Medien ein wenig Dampf abgelassen – und er hatte den Beitrag geteilt und ihn so zu seinem Posting gemacht. Ich hatte von den Ausgrenzungen berichtet, die ich durch gewisse Politiker während der Regierung Renzi erlebte, den Schwierigkeiten, denen sich eine prekär beschäftigte Journalistin gegenüber sieht und davon, daß ich an Salvinis Seite auf die Straße gehen wollte, um einfach »Basta!« zu der verfehlten Politik derer zu sagen, die in meinen Augen völlige Fehlbesetzungen für die Spitzenposten des Parlaments waren. Er hatte den Post auf seiner Facebook-Seite verlinkt, die damals fast eine Million follower zählte, und so fand ich mich zwischen Tausenden seiner Fans wieder, die mir schrieben und Komplimente aller Art machten. »Ein Mädchen zum Umarmen«, hatte Salvini unter den Post geschrieben, was er dann auch wahrmachte, als er mich einige Wochen später bei einem von der Lega organisierten Mittagessen in der Toskana traf. Ich war als Journalistin dort, um ein Interview mit ihm zu führen, begleitet hatte mich damals Susanna Ceccardi, die heutige Europaabgeordnete der Lega, bekannt für ihre roten Haare. Er umarmte mich und sagte »Brava«. Mir fiel sofort seine lockere Art auf, wie er mit allen sprach, seine Spontanität in jeder Situation. Einmal telefonierte ich mit meiner Tante. Er sagte: »Gib sie mir mal, ich will sie grüßen, auch wenn ich sie nicht kenne.« Und dann sprach er einfach mit ihr. So ist er eben. Matteo Salvini agiert wirklich so spontan. Er hat sich mit der Zeit nicht verändert, auch wenn die dienstlichen Verpflichtungen ihm viel Raum für sich selbst und für seine Vorlieben verbaut haben. Aber er glaubt an das, was er tut, an das, was er sagt, an das, was ihm wichtig ist, um seine Ziele zu erreichen.

»Buongiorno Chiara«, ruft er mir zu, während er aufsteht, um mich zu begrüßen. »Come stai?« Nach den Förmlichkeiten setzen wir uns. »Lust auf einen Kaffee bevor es losgeht?«, fragt er. »Klar«, antworte ich. Wäre zwar schon der dritte heute, aber egal. Kurz darauf erscheint auch schon ein Angestellter mit einem Tablett. Matteo nimmt reichlich Zucker. »Dolce«, sagt er lachend. »Das Leben als Minister ist schon bitter genug.« Er trinkt den Espresso in drei Schlucken, aber dann bemerke ich, wie er kurz zögert.

Zigarette – ja oder nein?

 

Keine Zigarette.

»Hast’ also aufgehört?«, frage ich ihn.

»Seit dem 30. März rühr’ ich keine mehr an! Vielleicht klappt’s ja dieses Mal …«

Ich möchte ihm erzählen, daß ich den Krebs gebraucht habe, um endlich aufzuhören,16 aber ich lasse es bleiben. Ein bißchen aus Zurückhaltung, ein bißchen wegen der Umstände. Gewiß aber nicht aus Scham. Ich weiß, er würde mich verstehen, spräche ich es an. Ich erinnere mich, wie er zum Beispiel Nadia Toffa auf Instagram Mut gemacht hat. Das war eine schöne Geste.17

Es ist notwendig, Mut zu machen, nicht nur denen, die jeden Tag gegen den Krebs ankämpfen, sondern auch jenen, die einen betroffenen Familienangehörigen, Partner oder Freund haben. Denn man kämpft vor allem gegen seine blöde Scham, was dazu führt, daß man sein tatsächliches Befinden verbirgt, unaufrichtige Phrasen verwendet und sich schließlich selbst die Schuld gibt. Doch wo nichts zu verbergen ist, gibt es auch keinen Grund, sich zu schämen. Im Gegenteil.

Ich bin so vertieft in diese Gedanken, daß ich gar nicht mitbekomme, was er sagt. Er ist noch bei den Zigaretten und gesteht:

»Eine Weile höre ich auf, dann fange ich wieder an, höre auf, fange wieder an. Ich weiß, es ist ein idiotisches Laster. Aber es ist schwer, nicht rückfällig zu werden … Manchmal sage ich mir: ›Matteo, warum nimmst du nicht einen Bruchteil von der Willenskraft, mit der du die Häfen dicht machst, um auch deinen Mund für die Zigaretten zu verschließen?!‹ Aber da bin ich wohl ein bißchen wie die Pferde …«

»Wie die Pferde?«

»Ja, Pferde haben oft den Mut und die Kraft, über höchste Hecken und Hindernisse zu springen, doch dann machen sie plötzlich vor einer kleinen Pfütze Halt. So ist es auch mit meiner Willenskraft beim Rauchen. Aber dieses Mal klappt es. Dieses Mal habe ich aufgehört, selbstverständlich vorausgesetzt, daß Di Maio einverstanden ist.«

»Was hat Di Maio damit zu tun?«

»Na ja«, grinst er schelmisch, »zum Rauchen steht nichts im Koalitionsvertrag, also muß ich mich mit ihm erst noch darüber verständigen.«

Die Stimmung ist gelöst, Salvini entspannt. Mir gefällt der Gedanke, daß ich irgendwie vielleicht eine angenehme Unterbrechung seines Tages bin, eine Pause – hoffentlich lang genug, um das Interview in Gänze durchführen zu können –, in der er seine Vorsicht ablegt, um ein wenig zu erzählen, wer er ist und was er darüber denkt, eine Lichtgestalt der internationalen Politik zu sein.

Auch unter vier Augen, Ehrenwort, ist der erste Eindruck, den er auf mich macht, der eines Menschen, der offenkundig und unleugbar absolut normal ist. Ja, normalissimo. Einer von denen, bei denen du dich wohlfühlst schon aufgrund der Art, wie er auf seinem Stuhl sitzt. Er muß nicht zu dir herunterschauen, wie es vielleicht seine stets in feinsten Zwirn gewandeten Vorgänger der Ersten Republik taten, aber ebensowenig spürt man bei ihm jenen Zwang, unbedingt sympathisch wirken zu müssen, der häufig das Problem von Akteuren ist, die noch nicht lange auf der öffentlichen Bühne stehen. Nichts davon bei ihm. Wir sind einfach zwei Leute in einem Raum. Punkt.

Normal.

»Würdest du mir einen typischen Tag beschreiben«, fange ich an.

»Tja, ich bemühe mich, einen menschlichen Rhythmus einzuhalten. Ich stehe früh auf und versuche, um sieben Uhr bereit zu sein. Natürlich gibt es Abende, an denen man bis spät in die Nacht arbeitet und sich die Verpflichtungen auftürmen, dennoch stehe ich immer recht früh auf, um alles Wichtige im Auge zu behalten.«

»Du liest also erst einmal die Zeitungen?«, fahre ich fort.

»Die lese ich lieber am Abend. Doch wenn es etwas gibt, das mir empfohlen wurde, so schenke ich dem meine Aufmerksamkeit. Ich versuche allerdings, mich nicht von dem abhängig zu machen, was die Journalisten schreiben, auch wenn man mir diesen ganzen politischen Quatsch ständig vorlegt.«

»Na, sicher nicht alles!«

»Nein, aber den größten Teil schon. Jeden Morgen gibt es Hintergrundberichte, Artikel, die mir erklären, was ich gesagt haben soll oder nicht … oft und gerne ohne jede Substanz. ›Man sagt, daß … Es hat den Eindruck, als ob …‹ Ich wiederhole: politischer Quatsch.«

»Aber gelingt es dir trotzdem, dir Zeit für die Kinder und die Familie zu nehmen?«, frage ich ihn weiter.

»Die Zeit findet sich schon. Das weiß jeder, der einen streßigen und anspruchsvollen Job hat. Und auch wenn man sich mitunter ein Bein ausreißen muß, letztendlich sind wir als Eltern doch für unsere Kinder da. Klar, es könnte immer etwas mehr sein, weshalb wir auch jeden Tag genießen, an dem wir ausnahmsweise mal nur für uns sein können. Meine Kinder geben mir Kraft. Sie wissen, was ich tue und daß es ihnen gilt.«

»Aber bist du nie müde, Matteo?«

»Ich habe gar keine Zeit, müde zu sein«, lächelt er. »Gut, Scherz beiseite. Natürlich bin auch ich mal müde, also körperlich. Aber ich darf mich dem nicht hingeben. Vielleicht trete ich hier und da mal ein wenig kürzer, aber ich kann da keineswegs nachlassen. Denk an die Arbeit der Polizei, der Feuerwehr, an all die Frauen und Männer in Uniform, die sich ohne Unterlaß für uns aufopfern, inmitten tausender Gefahren, die Überstunden anhäufen, für die sie zuweilen aus eigener Tasche zahlen müssen. Wenn sie nicht aufgeben, dann darf ich es sicherlich auch nicht.«

»Gut, ich würde sagen, wir beginnen mit dem Interview. Aber um eines muß ich dich bitten. Wenn dieses Buch herauskommt, dann gib mir Bescheid, bevor du etwas dazu postest, damit ich die Wasserhähne zudrehen kann.«

Er fängt an zu lachen. »Ah ja, ich erinnere mich, wegen meines Posts hast du damals das ganze Haus unter Wasser gesetzt.«

»Naja«, antworte ich, »es war eben so aufregend, daß du meinen Beitrag geteilt hattest, daß ich vor lauter Panik das Wasser im Bad habe laufen lassen. Die Bewohnerin unter mir weiß noch gut, wie die Wassermassen die Treppe herunterliefen.«

Matteo lacht weiter.

Ich drehe mich um und sehe seine berühmte Polizeijacke am Kleiderständer hängen.

»Die gefällt dir wirklich, stimmt’s?«

Salvini lacht erneut, während ich feststelle, daß auf seinem Fernseher der Angel-Kanal läuft.

»Herr Minister, nun mußt du mir aber schon erklären, warum du dich so fürs Angeln interessierst!«

Ich bin mir sicher, Massimo Recalcati18 wird darüber noch ein Buch schreiben.

»Na, komm. Das ist doch verständlich, oder? Ich sitze fortwährend hier, umgeben von all diesen Nachrichten, den ständigen Informationen aus allen Abteilungen, jeder Art von Neuigkeiten und Pressemeldungen. Und wenn ich mir mal eine Verschnaufpause nehmen kann, dann dreh’ ich mich um und atme für eine Minute durch. Ich entspanne mich halt damit, was soll’s…«

»Hätte eher gedacht, du schaust dann ein Spiel vom AC Mailand…«

»Das Angeln hilft mir, mich zu entspannen, aber dabei trotzdem weiter zu arbeiten. Würde da etwas vom AC Mailand laufen«, fügt er an, »dann hätte ich für nichts anderes mehr Augen.«

»Ok, wir sollten mit der Arbeit loslegen. Ab jetzt sieze ich dich wieder, immerhin sprechen wir ja über ernste Dinge. Bereit für die erste Frage?«

»Prontissimo!«

HUNDERT FRAGEN

1. Beginnen wir mit Ihrer Kindheit. Herr Minister, was für ein Kind waren Sie?

Ich spielte natürlich nur mit Baggern!19 Das ist ein Scherz. All die Maschinen, die Bagger, die Soldaten, das Tischfußballspiel Subbuteo20, gehörten, wenn ich heute zurückdenke, noch in eine andere Welt. Diese Spiele waren wirklich, du konntest sie anfassen, sie meistern, mußtest auf sie aufpassen und, ganz wichtig, nach Ende des Spiels mußtest du sie an ihren Platz zurückstellen. Nehmen wir als Beispiel Subbuteo; meine Kinder haben nicht einmal eine Idee, was das sein könnte, und doch war es für mehrere Generationen das, was heute eine Playstation ist. Das Fußballfeld wurde auf dem Teppich ausgerollt, die Spieler aufgestellt, wobei das Feld so wabbelig war, daß es die Laufrichtung des Bällchens beeinflußte, je nachdem, wie man mit seinen Spielern dagegen schnipste. Dann kam die Phantasie hinzu. Und die konnte man nicht mitkaufen. Du selbst mußtest mit ihrer Hilfe erreichen, dein Kinderzimmer in das San SiroStadion in Mailand zu verwandeln, deinen Gegenspieler in Giovanni Trapattoni und den Spieltisch in deine eigene kleine Champions League. Nein, keine Nostalgie jetzt, um Gottes willen! Aber doch einige Gedanken dahingehend, inwiefern die digitale Revolution vielleicht allein für die Welt der Erwachsenen positive Entwicklungen mit sich gebracht hat. Denken wir an die sozialen Netzwerke und an den Raum der Freiheit, den uns das Internet bietet, während es für die Kleinsten vielleicht doch etwas von jener Magie ausgelöscht hat, die wir Analogen früher noch gekannt haben. Und doch gibt es glücklicherweise auch heute keine Technik, die einen schönen Frühlingstag, einen Fußball oder den einen oder anderen Freund, mit dem sich ausmalte, in der Kurve zu jubeln, ersetzen kann.

Was für ein Kind ich war? Normal. Lebhaft aber nicht ungezogen. Wach ohne aufdringlich zu sein. Es gab einen schlichten Rahmen: Meine Eltern hatten mich lieb, ab und an zankte ich mich mit meiner Schwester, ich spielte mit meinen Schulkameraden und dann war da freilich der leidenschaftliche Enthusiasmus für den AC Mailand. Ich war bei den Pfadfindern und ging mit meinem Großvater in Ligurien angeln, stellte mir den Wecker zum Sonnenaufgang, um mit der Oma in Trient Pilze suchen zu gehen. Es gab mein weiß-rotes Mountainbike mit der Gangschaltung, die Sommerferien, die ich im kirchlichen Umfeld verbrachte und wo wir die ganze Zeit Fußball und Billard spielten. All das genügte mir, weil in meiner Welt eigentlich alles in Ordnung zu sein schien.

2. Was waren Ihre Erwartungen als Jugendlicher? Was hätten Sie als Erwachsener machen wollen?

Der große unerreichte Traum war der, Fußballspieler zu werden, auch wenn ich ihn nie mit Ernst angegangen bin. Es war eine dieser Phantastereien, die mich seit meiner Kindheit begleiteten, wenn ich mit meinen Eltern ins Stadion ging oder mit Freunden kickte. Etwas ernster nahm ich dagegen die Leidenschaft für den Journalismus, der ja tatsächlich zu einem Beruf geworden ist. Schon als kleiner Junge hatte ich Spaß daran, mich bei Veranstaltungen zwischen die Scheinwerfer zu mogeln, besonders gern beim Calciomercato, einem großen Event am Ende der Transferperiode, bei dem die letzten Spielerwechsel über die Bühne gebracht werden. (Sie haben verstanden, daß mir Fußball gefällt, oder?). Die Politik kam erst auf dem Gymnasium hinzu, wobei ich mir nie hätte denken können, daß sie einmal so bedeutend für mein Leben werden würde.

3. Und nun, im heutigen Alter, würden Sie da sagen, daß Sie Ihre Träume verwirklicht haben?

Hier habe ich immer das Gefühl, die Handbremse ziehen zu müssen, denn es besteht das große Risiko, daß man, wenn man im Zentrum der gesamten medialen Aufmerksamkeit steht, alles als eine Art Show betrachtet. Doch ist die Politik eine ernste Sache und sie seriös zu betreiben bedeutet, sich immer bewußt zu sein, daß man in der Pflicht steht, andere Menschen zu repräsentieren: ihre Hoffnungen, ihre Nöte, ihre Schwierigkeiten, ihre Ängste. In diesem Sinne muß der sozusagen karrieristische Aspekt, der in anderen Berufen völlig legitim wäre, zurücktreten gegenüber der Treue zu sich selbst, gegenüber der Idee und den Personen, die dir ihr Vertrauen geschenkt haben. Wenn ich mich somit frage, ob ich zufrieden bin mit dem bis hierhin zurückgelegten Weg, so ist die Antwort absolut: ja. Ich verleugne nichts, nicht einmal die Fehler und die schwersten Niederlagen. Wäre die Frage aber: bist du zufrieden?, begnügst du dich nun?, hast du genug getan? Nun, dann muß die Antwort immer nein lauten, sonst sollte man aufhören.

4. Erzählen Sie mir eine Erinnerung, die für Sie wertvoll ist. Eine noch unbekannte Anekdote aus der Zeit vor dem Eintritt in die Politik.

Als sie mir mein Zorro-Püppchen klauten? Ich muß damals in den Kindergarten gegangen sein und trug immer dieses Zorro-Püppchen mit mir, bis die anderen mich eines Tages hereinlegten. Wenn ich das jetzt erzähle, klingt es wie eine Vorbestimmung, vielleicht provozieren wir damit, daß Massimo Recalcati21 eine Folge zu den Kindheitstraumata Salvinis bringt, auch wenn es ganz einfach nur meine erste Begegnung mit der Ungerechtigkeit war. Leider geschieht das früher oder später jedem Kind, ist unvermeidbar und in gewisser Hinsicht sogar notwendig. Was zählt, ist, wie die Eltern damit umgehen. Hier gilt, daß nur der Rat von denen etwas taugt, die selbst kein schlechtes Beispiel abgeben. Wenn ich das sagen darf, so glaube ich, daß der richtige Weg der meiner Eltern war. Und nun, da ich selbst Vater bin, versuche ich es ihnen nachzutun, das heißt, auf gute Weise zu erklären, daß, wenn man selbst ein Opfer geworden ist, es nichts zum Schämen gibt, denn vielmehr sollte der, der die Regeln gebrochen hat, sich schuldig fühlen. Und dann versuchen, die naheliegende Regung, sich zu rächen oder das erlittene Unrecht umgehend mit gleicher Münze zurückzahlen zu wollen, mit dem Glauben an die Gerechtigkeit zu kompensieren. Nun, es ist schwierig, das in Worte zu fassen, geschweige denn, es einem Kind in der Praxis vorzuleben. Ich weiß nicht, wo ich es las, aber es gab einen Philosophen, meine ich, der den Eltern immer sagte: »Tut euer Bestes, Fehler macht ihr sowieso.«

 

5. Welches waren und welches sind die fundamentalen Werte, auf denen Sie Ihre Existenz gründen?

Es ist schwierig über Werte zu sprechen ohne in Allgemeinheiten zu verfallen. Ich versuche es dennoch und sage: Loyalität und Treue. Wenn ich eine Verpflichtung eingehe, tue ich alles, um ihr zu entsprechen. Wenn ein Freund in Schwierigkeiten steckt, helfe ich ihm, soweit ich kann. Ich gebe und ich verlange Loyalität und Treue, was allerdings nicht Unterordnung bedeutet. Im Gegenteil fordert die Aufrichtigkeit, die mir Freunde oder Mitarbeiter darbringen, manchmal meinen sprichwörtlichen Stolz, um nicht zu sagen meine schon berüchtigte Überempfindlichkeit heraus, wenn sie mir ohne Zögern sagen, daß sie nicht mit mir einverstanden sind. Hier und da werde ich vielleicht sauer. Dann grüble ich und wäge ab. Und manchmal schenke ich ihnen dann Gehör. Manchmal …

6. Was denken Sie über Freundschaft?

Freundschaft ist der Zement des Lebens und auch der gesamten Gesellschaft. Freundschaft ist Anarchie, sie geschieht einfach, wie die Liebe, da kann man nichts machen. Sie überrascht, spiegelt dich in einem anderen wider, der vielleicht aus völlig anderen Zusammenhängen kommt als du. Manchmal ist sie ganz unmittelbar, instinktiv, in anderen Fällen braucht sie Tage, Monate, Jahre um im Stillen zu gedeihen. In keinem Fall kann sie allerdings auf dem Reißbrett entworfen werden, und das ist, glaube ich, was sie so kostbar macht.

7. Und über die Liebe?

»Liebe«, so sang Gaber,22 »ist ein eigenart’ges Wort, es flattert zu sehr, sollt’ ersetzt werden, besser, man nennte es ›die Sache‹. Dann könnte es greifbar werden. Du lebst in intensiven Augenblicken, die dir für den Moment so scheinen, als hinterließen sie tiefe, bedeutende Zeichen. Aber nicht das ist ›die Sache‹ oder besser, nicht nur dies. ›Die Sache‹ ist Verwandlung, Begegnung, Zusammenwachsen. Sie ist ein Blutsschwur, der zwischen zwei Menschen oder vielleicht zuvor noch mit dem Schicksal geschlossen wird.«

8. Ohne Namen zu nennen, erinnern Sie sich Ihrer ersten Freundin? Was ist aus ihr geworden?

Oh ja, ich erinnere mich! Der allererste Kuß in der Via Melchiorre Gioia. Genug, mehr sag ich nicht. Meine erste richtige Freundin habe ich allerdings in den Schulferien anläßlich der Feierlichkeiten des Heiligen Ambrosius [7. Dezember] im Val Rendena kennengelernt. Mit ihr verbrachte ich wunderbare Jahre. Ich erinnere mich der ersten Ferien auf Menorca und des Jahreswechsels in Salzburg mit einer Schneeballschlacht. Heute ist sie verheiratet, ist Ärztin und hat drei Kinder. Sollte sie dies lesen, so nehme ich die Gelegenheit wahr, sie zu grüßen. Es ist ja wirklich wahr, daß alles vergeht, aber alles hinterläßt auch eine Spur.

Wie hieß sie?

Sie hieß, naja, sie heißt noch Francesca.23

Wirklich? Francesca …

Ja, warum? Das ist ein sehr schöner Name.

Ja, ja, wirklich wie …

Wie der sehr vieler anderer Menschen …

Aber sind Sie wirklich so empfindlich, wenn es um Ihr Privatleben geht? (Lächelt)

Es ist nicht so, daß ich empfindlich bin, nur habe ich das Bedürfnis, mir einen Raum zu bewahren, der allein meiner ist. Wo nicht zuviel über alles gesprochen wird. Ich denke, das ist verständlich, oder? Und die Italiener, was sollte sie das obendrein kümmern …?

Meiner Meinung nach interessieren diese Dinge durchaus, denn Sie sind eine öffentliche Person, und der Klatsch gefällt den Leuten. Sehr viele lieben Sie sogar. Vielleicht würden sie Sie nur gerne an der Seite von jemandem sehen und träumen, daß ihr Idol glücklich verheiratet ist.

Aber nein. Schauen Sie, ich treffe Hunderte von Personen jeden Tag und versuche, jedem meine Aufmerksamkeit zu schenken, vom berühmtesten Unternehmer bis zum anonymsten Passanten, und noch nie hat mich einer danach gefragt, wer meine Freundin ist oder nicht ist. Die Leute sprechen über die Arbeit, über Sicherheit, über die Rente, die Jugendlichen, die gezwungen sind auszuwandern. Mein Privatleben interessiert zum Glück tatsächlich nur die Journalisten.

Ist das Ihre freundliche Art mich zu bitten, das Thema zu wechseln?

Scharfsinniges Mädchen …

9. Bedauern Sie irgendetwas?

Nein, glücklicherweise eigentlich nicht. Damit sage ich nicht, alles richtig gemacht zu haben, um Himmels willen! Absolut nicht. Nur jedes Mal, wenn ich an meine Vergangenheit denke, an die Entscheidungen, die sich hinterher vielleicht als falsch herausgestellt haben, gelingt es mir doch stets, mich in meine damalige Haut zurückzuversetzen und mir zu sagen, daß ich das getan habe, was mir richtig erschien. Punkt, neuer Absatz. Abgehakt.

10. Und unverwirklichte Wünsche?

Bisher nicht verwirklichte Wünsche? Vor allem würde ich eine strukturelle Veränderung des Regierungsmodells in der Europäischen Union erreichen wollen, das auf dem Fundament der Demokratie, der Arbeit und der Souveränität neu zu gründen wäre. Ein für allemal Schluß machen mit der bürokratischen Machtkonzentration, den Erpressungen durch die Hochfinanz und den Einmischungen durch bekloppte Regularien, die zahlreiche Bereiche unserer Wirtschaft ruinieren. In solch einem Rahmen wäre es weitaus einfacher, reale Vereinbarungen zwischen den Partnern der Union zu finden, Entwicklungsprojekte von längerer Dauer für Afrika aufzubauen, gemeinsam an einer Stabilisierung Libyens zu arbeiten, und damit die Ursachen für den Menschenhandel auszumerzen. Nicht zu vergessen, wie sehr ein solches Europa geopolitische Bedeutung gewinnen würde und diese dafür verwenden könnte, die friedlichen Verbindungen zwischen den anderen Mächten zu fördern, angefangen bei den Beziehungen zwischen Rußland und den USA. Ein Ziel, das zu Beginn des Jahrhunderts, nach dem Abkommen von Pratica di Mare24 zum Greifen nahe schien, aber das leider in den letzten Jahren wieder in die Ferne rückte, bis hin zu den jüngsten Episoden eines neuen Kalten Krieges.

11. Mit welchem Alter sind Sie in die Politik eingetreten?

Mit sechzehn, siebzehn Jahren, ich war auf dem Gymnasium.

12. Stimmt es, daß Sie mal im Umfeld der autonomen Szene aktiv waren?

Diese Geschichte, ich sei in der linksautonomen Szene aktiv gewesen, ist eine Legende. Sie rührt noch aus der Zeit um 1993, kurz nachdem ich Stadtrat in Mailand wurde. Damals sollte das berüchtigte Autonome Zentrum »Leoncavallo« geräumt werden und es gab eine große Demonstration gegen diese Räumung. Ich kommentierte das damals ungefähr mit den folgenden Worten: »Die randalierenden Chaoten gehören verhaftet und bestraft, aber nicht alle, die das Leoncavallo besuchen, sind straffällige Rumtreiber.« Sehen Sie, seitdem sind zwar etliche Jahre vergangen, aber diesen Satz würde ich sogar noch heute als Innenminister so unterschreiben. Damit wir uns verstehen: ich bin und bleibe der Überzeugung, daß diese autonomen Zentren geräumt gehören. Allein aus dem Grunde, daß ein Staat es nicht dulden kann, daß seine Gebäude illegal besetzt werden und sich dort Umtriebe breit machen, wie sie in solchen Zentren bekanntermaßen an der Tagesordnung sind, etwa der Verkauf und Konsum vielerlei Drogen. Um gar nicht erst von dem gewalttätigen politischen Extremismus zu sprechen, der für dieses Umfeld charakteristisch ist. Dennoch bleibe ich dabei, und daran ändern auch nicht die unzähligen Bedrohungen und Angriffe etwas, die ich seitens dieser Szene über die Jahre persönlich habe erdulden müssen. Wobei der Großteil der Leute dort Menschen sind, mit denen man reden und diskutieren kann. Zumal im direkten gegenüber, einzeln von Mann zu Mann. Es ist häufig der Herdentrieb, der ihnen die Sicherungen durchknallen läßt. Insbesondere dann, wenn sie rufen, man möge mir »aufs Maul hauen« und das den einen oder anderen Rädelsführer unter ihnen hoffen läßt, er könnte die »Bleiernen Jahre«25 wieder aufleben lassen.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?