Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?

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bb) Aufklärungsquote, Sanktionierungspraxis und Präventionsaspekte

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Die Aufklärungsquote lag im Jahr 2009 bei 91,7% und damit deutlich höher als bei der Gesamtkriminalität (55,6%).[1] Der diesbezügliche Schluss des BKA ist, dass Wirtschaftsstraftaten überwiegend so angelegt sind, dass entweder der Geschädigte den Täter kennt oder – wie zum Beispiel bei den Insolvenzstraftaten – nur ein bestimmter Personenkreis für eine Täterschaft in Betracht kommt.[2]

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Hinsichtlich der Sanktionierungspraxis sind eindeutige Aussagen wiederum schwierig. Dies hat damit zu tun, dass lediglich Verurteilungen wegen Verstößen gegen wirtschaftsstrafrechtliche Nebengesetze und gegen die durch das 1. und 2. WiKG geschaffenen Sondertatbestände sowie gegen § 298 StGB als eindeutig wirtschaftskriminell erfasst werden.[3] Im Bereich der wirtschaftsstrafrechtlichen Nebengesetze überwiegt mit Anteilen zwischen 80–90% die Geldstrafe. Die Maßregeln zur Besserung und Sicherung – hier käme insbesondere das Berufsverbot nach § 70 StGB in Betracht – sind nach Aussagen des zweiten PSB nur theoretisch bedeutsam; von ihnen wird nur selten Gebrauch gemacht. Nur der „Verfall“ und die „Einziehung“ nach §§ 73 ff. StGB und die Verhängung der Verbandsgeldbuße nach § 30 OWiG sind in den letzten Jahren relevanter geworden.[4] Jedoch sollten laut zweiten PSB Verhinderungsbemühung und Prävention nicht auf strafrechtliche Mittel beschränkt werden. Außerstrafrechtlicher Prävention wird ein hoher Wirksamkeitsgrad attestiert, der neben dem zivilrechtlichen Schutz, insbesondere im Bereich des Handels- und Gesellschaftsrechts, auch den Einsatz des Verwaltungsrechts, von Selbstverwaltungsorganen und Selbstschutzeinrichtungen der Wirtschaft vorsehen sollte.[5] Besonders Erfolg versprechend sei hierbei beispielsweise die Änderung des ökonomischen Bezugsrahmens (z. B. durch Abschaffung von Subventionen, Einsatz von Prämien etc.[6]), Stärkung des Selbstschutzes durch Aufklärung und Beratung der Verbraucher und die Verringerung der Rentabilität von Delikten durch intensiveren Einsatz der Abschöpfung des aus der Straftat Erlangten.

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Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass Unternehmen als mögliche Betroffene – und nicht etwa als Täter oder zumindest Kausalfaktor – aufgefordert werden, sich dieser Art von Prävention stärker zu widmen.[7] Der zweite PSB sieht Handlungsbedarf für Unternehmen im Bereich unternehmensorganisatorischer Vorkehrungen in wirtschaftskriminalitätssensiblen Vorgängen sowie die Notwendigkeit der Ausrichtung betriebsinterner Abläufe an präventiven Gesichtspunkten wie dem „Vier Augen-Prinzip“, interner Revision und Personalrotation in sensiblen Bereichen.[8] Weiter werden die Einführung verbindlicher unternehmensethischer Verhaltensgrundsätze, beispielsweise dem deutschen „Corporate Governance Kodex“,[9] sowie Einführung, Ergänzung und Aufbau von Risikomanagement und die Bestellung unternehmensexterner Personen als Vertrauenspersonen zur Mitteilung von unternehmensinternen kriminalsensiblen Verhaltensweisen für sinnvoll gehalten.[10]

Anmerkungen

[1]

Diese Aufklärungsquote betrifft lediglich die erfassten Fälle. Das BKA räumt selbst ein, dass die registrierten Fallzahlen das tatsächliche Ausmaß nicht abbilden und von einem erheblichen Dunkelfeld auszugehen ist; Bundeskriminalamt Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2005, S. 3. Des Weiteren gibt es eine Reihe von Delikten, die von den Schwerpunktstaatsanwaltschaften ohne Beteiligung der Polizei bearbeitet werden (beispielsweise Arbeitsdelikte oder Subventionsbetrug), sodass sowohl die PKS als auch die Erkenntnisse aus dem Bundeslagebild nur begrenzt aussagekräftig sind.

[2]

Vgl. schon Bundeskriminalamt Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2005, S. 4 und Bundeskriminalamt Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2009, S. 8.

[3]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 238.

[4]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 238 f.

[5]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 240 ff.

[6]

Ausführlicher unter BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 239.

[7]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 240.

[8]

Siehe dazu weiter BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 240.

[9]

Vgl. hierzu unten Rn. 862.

[10]

Siehe hierzu insgesamt BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 240 f.

cc) Die Kernpunkte der Erkenntnisse

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Die Wirtschaftskriminalität ist laut zweiten PSB ein qualitatives und kein quantitatives Problem, weil sie mit ihrem relativ kleinen Anteil am Kriminalitätsaufkommen für die Hälfte des registrierten Schadens verantwortlich ist.[1] Im Unterschied zur „klassischen Vermögenskriminalität“ werden die Delikte zu einem großen Teil „unter dem Mantel einer Einzelfirma oder einer handelsrechtlichen Gesellschaft – vornehmlich einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH), einer offenen Handelsgesellschaft (OHG) oder einer Kommanditgesellschaft (KG) – begangen“.[2] Außerdem wurden rund 12% der zur „organisierten Kriminalität“ gezählten Taten im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben gesehen. Der Schwerpunkt lag hierbei im Bereich der Finanzierungsdelikte sowie der Anlage- und Wettbewerbsdelikte.[3]

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Die registrierten Delikte sind in den meisten Fällen nicht aufgrund der Anzeige eines betroffenen Opfers eingeleitet worden, sondern durch Strafverfolgungsorgane. Im Unterschied zur „klassischen Vermögenskriminalität“ handelt es sich hier also um so genannte Überwachungs- und Kontrolldelikte.[4] Es ist von einem großen Dunkelfeld aufgrund struktureller Besonderheiten auszugehen,[5] jedoch ist auch das Hellfeld nicht zuverlässig abbildbar, da eine gesicherte Datenbasis bezüglich Umfang, Struktur und Entwicklung der Wirtschaftskriminalität fehlt.[6] Potenzielle Informationsquellen – „Mitwisser“ – sind oftmals Mittäter (oder Beteiligte), sodass Täter- und Opferbefragungen kaum möglich sind. Die grundsätzliche Anzeigebereitschaft bei „Kollektivopfern“, z. B. in den Fällen, in denen der Staat, soziale Einrichtungen oder andere Unternehmen die Geschädigten sind, ist zudem deutlich geringer als bei persönlich Betroffenen. Dies wird verstärkt in den Fällen, in denen der Anzeigende sich der Gefahr einer Strafverfolgung ausgesetzt sieht. Das große Dunkelfeld wird zudem auf die „Unsichtbarkeit des Rechtsbruchs nach außen“ zurückgeführt. Hieraus resultiert auch eine Dominanz des Betrugs als dem Delikt, das eine Verfügung und einen Vermögensschaden voraussetzt und daher deutlich „sichtbarer“ ist. Die besondere Rolle des Betrugs hängt auch mit der abstrakten Formulierung des Tatbestands zusammen. Trotz der eingeführten Vorfeldtatbestände wird der „Betrug im wirtschaftskriminellen Kontext“[7] bisher kaum durch exakte Kriterien charakterisiert. Die polizeilichen Sachbearbeiter orientieren sich vor allem an den Fallgruppen „Kreditbetrug (§ 265b StGB)“, „Subventionsbetrug (§ 264 StGB)“ und der als „Beteiligungs- und Kapitalanlagebetrug“ zusammengefassten Fallgruppe.[8] Außerhalb dieser Kerngruppen sind relativ hohe Prozentsätze von Betrugskriminalität mit wirtschaftskriminellem Hintergrund im Bereich „Kreditvermittlungsbetrug“, „Abrechnungsbetrug“ (mit Anteilen von über 40%) und „Grundstücks- und Baubetrug“ (27,5%) zu verzeichnen.[9] Den Schwerpunkt innerhalb der Betrugsstraftaten bilden somit die so genannten Finanzierungsdelikte, d. h. die Deliktsformen, die im Zusammenhang mit der Gewährung, Vermittlung und Erlangung von Krediten im Zusammenhang stehen. Insbesondere sind damit Betrugshandlungen im Rahmen der Abwicklung von Waren-, Leistungs- oder auch Geldkreditgeschäften gemeint.[10]

Anmerkungen

[1]

Vgl. zu den Zahlen im Einzelnen Rn. 56.

[2]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 218.

[3]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 220; Bundeskriminalamt Bundeslagebild Wirtschaftskriminalität 2004, S. 110 f.

[4]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 218.

[5]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 221.

[6]

Siehe hierzu schon BMI/BMJ 1. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 136 ff.

 

[7]

In Abgrenzung zum Betrug im sonstigen Kontext.

[8]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 225.

[9]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 225.

[10]

So BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 227, der insbesondere auf die Bestellung oder Inanspruchnahme von Waren oder Leistungen ohne Zahlungsabsicht, auch bei Vorlage von ungedeckten oder gefälschten Schecks, Wechseln oder Akkreditiven, auf die so genannten Stoßbetrüge (Großbestellungen von Waren, deren Bezahlung dann ausbleibt), auf Grundstücks- und Baubetrügereien, auf das Vorlegen von Bankbürgschaften trotz Zahlungsunfähigkeit des Bürgschaftsgebers sowie auf sämtliche Formen des Kredit- und Kontoeröffnungsbetrugs hinweist.

b) Nicht-staatliche Studien

aa) Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg

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Diese von der Industrie- und Handelskammer (IHK) und dem Arbeitskreis für Unternehmenssicherheit (AKUS) herausgegebene Studie stellt ebenfalls Wirtschaftskriminalität in den Mittelpunkt ihrer empirischen Forschung, meint damit allerdings Kriminalität in der Wirtschaft, sprich Kriminalität, der Unternehmen zum Opfer fallen; nicht – oder nur periphär – Kriminalität, die Unternehmen auf die Täterseite stellt. Dennoch kann diese Studie zu einem Erkenntnisgewinn führen, weil sie eine der wenigen empirischen Studien zum Thema Wirtschaftskriminalität – wenn auch mit eben genanntem Fokus – darstellt und mit 1407 von den Unternehmen zurückgesandten Fragebögen[1] einen Einblick in die Selbsteinschätzung der Unternehmen in diesem Bereich gibt.[2] Hauptanliegen der Studie war, die tatsächliche Belastung und das diesbezügliche Anzeigeverhalten der Unternehmen festzustellen und – in einem zweiten Schritt – die Forderungen der Unternehmer mit Blick auf die Sicherheitspolitik des Staates nachzuvollziehen. Für den vorliegenden Kontext von Bedeutung erscheint, dass die Unternehmer bei der Frage nach ihrer Einschätzung, welche Problemlagen der Gesellschaft von ihnen – in Bezug auf die Kriminalität in der Wirtschaft – als bedrohlich einzustufen seien, neben Arbeitslosigkeit, Bürokratie und Zahlungsmoral den Werteverfall als „bedrohlich“ einstuften.[3]

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Die tatsächliche Belastung der Unternehmen mit Kriminalität ist seit 2004 konstant geblieben. Etwa zwei Drittel der Unternehmen mussten sich mit Kriminalität auseinandersetzen, welche sich aus ihrer Sicht v. a. in den Delikten Vandalismus/Sachbeschädigung (30,1%), Einbruchsdiebstahl (26,9%) und Betrug (18,2%) manifestierte.[4] Die Erkenntnisse hinsichtlich des Täterkreises sind nur wenig erhellend: zwar wird festgestellt, dass in etwa 15% der Fälle Täter aus dem unmittelbaren Unternehmensumfeld kamen, allerdings beziehen sich die 85% (unternehmensfremde) Täter auf Delikte wie Einbruchsdiebstahl und Sachbeschädigung sowie Produktpiraterie, die typischerweise aus dem Umfeld eines anderen Unternehmens heraus begangen wird. Insofern ist der Anteil von 85% unternehmensfremder Täter nicht repräsentativ für die Struktur der Wirtschaftskriminalität. Dies räumen auch die Autoren ein, die davon ausgehen, dass bei „Straftaten der typischen Wirtschaftskriminalität“ – wie Subventionsbetrug, Insolvenzdelikten oder Umweltstraftaten – die Täterstruktur anders aussieht und regelmäßig nur Täter infrage kommen, die aus den Unternehmen selbst kommen und leitende Positionen einnehmen.[5] Hinsichtlich des Anzeigeverhaltens wird lediglich festgestellt, dass eine Abhängigkeit zum jeweiligen Delikt und der Schadenshöhe,[6] Ermittlungsmöglichkeit und -wahrscheinlichkeit, Vertrauen in die Behörden und Angst vor möglichen Imageschäden besteht. Im Bereich der Wirtschaftskriminalität (Wettbewerbsdelikte, Produktpiraterie) werden lediglich ein Viertel der Fälle angezeigt, sodass von einem großen Dunkelfeld auszugehen ist.[7] Dies könnte zumindest ein Hinweis auf eine „parallele Werteordnung“[8] sein, denn auf der einen Seite wird für Einbruchsdiebstahl, Vandalismus und Sachbeschädigung auf die staatlichen Strafverfolgungsorgane zurückgegriffen,[9] geht es jedoch um Wirtschaftskriminalität im engeren Sinne, erinnern Unternehmen an eine gesellschaftliche Subkultur, der zu einem immer „undurchsichtigeren Fleck“ auf dem Strafverfolgungsfeld geworden ist.[10]

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass diese Studie keine signifikanten Erkenntnisse zum Thema Wirtschaftskriminalität im Allgemeinen oder Unternehmenskriminalität im Speziellen liefert, obwohl sie es in Einleitung und Schlussteil[11] propagiert. Dennoch macht sie einen Aspekt des Problems nochmals deutlich: die Schwierigkeit, die Rolle des Unternehmens innerhalb dieser Kriminalität zu definieren. Die Studie setzt sämtliche Ergebnisse, die sie zu den vermengten Bereichen Wirtschaftskriminalität und klassische Kriminalität gewinnt, in Beziehung zu dem „Unternehmen als Opfer“. Dies scheint schon aus viktimodogmatischen Gesichtspunkten fragwürdig und hilft erst recht bei der Erfassung der Wirtschaftskriminalität nicht weiter.

Anmerkungen

[1]

Insgesamt wurden etwa 4000 Unternehmen angeschrieben; die Antwortquote liegt also bei über 30%.

[2]

Ziel der Studie war es zu erfahren, welchen Stellenwert die Unternehmer dem Problem Kriminalität beimessen. Hierfür wurde ein traditionelles Befragungsschema verwendet, das allgemeine Problemlagen wie Arbeitslosigkeit, Umwelt und Infrastrukturentwicklung in ein Verhältnis zu Kriminalität zu setzen versuchte. AKUS Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg, S. 4.

[3]

Der Wert auf einer Skala von 1–4 – von „gar nicht bedrohlich“ (1) bis „sehr bedrohlich“(4) – betrug 3,04, wobei Korruption nachrangig mit 2,82 eingestuft wurde; siehe hierzu AKUS Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg, S. 29.

[4]

AKUS Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg, S. 12 ff.

[5]

AKUS Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg, S. 18.

[6]

Delikte mit geringen Schäden werden seltener angezeigt. Weiter hängt die Anzeigebereitschaft auch von einem eventuellen Ausgleich durch die Versicherung ab.

[7]

AKUS Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg, S. 19 ff.

[8]

Vgl. hierzu auch Rn. 158.

[9]

Siehe hierzu AKUS Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg, S. 14 ff., 23 ff., 25 f.

[10]

„Die Hilflosigkeit des Staates im Hinblick auf die Wirtschaftskriminalität“ wird auch in dieser – wie in fast jeder – Studie betont; AKUS Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg, S. 25.

[11]

Insbesondere in den 2005 und 2007 herausgegebenen Kriminalitätsbarometern.

bb) KPMG – Wirtschaftskriminalität in Deutschland

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Auf nicht-staatliche empirische Erkenntnisse zurückzugreifen heißt, sich im Hinblick auf Neutralität und Objektivität dem Vorwurf auszusetzen, die Studie könne tendenziell von den Interessen der Auftraggeber bestimmt sein. Und dennoch heißt die Entscheidung für diese Ergebnisse auch, ein Gesamtbild der kriminologischen Situation abbilden zu wollen. Die Studie von KPMG stellt eine große Feldstudie zum Thema Wirtschaftskriminalität dar, die ihre Erkenntnisse auf 300 branchenübergreifend – telefonisch – befragte Unternehmensmitarbeiteraussagen stützt.[1] Eines der Hauptergebnisse der Studie aus dem Jahr 2006 war der nachgewiesene und signifikante Zusammenhang zwischen der Größe des Umsatzvolumens und der Häufigkeit wirtschaftskrimineller Handlungen im Unternehmen. Dies könnte dem Umstand geschuldet sein, dass effektivere Überwachungs- und Kontrollmechanismen in großen Unternehmen zu einer höheren Aufdeckungsrate führen und daher eine höhere Zahl von wirtschaftskriminellen Handlungen hervorbringen.[2] 2010 stellen die Autoren fest, dass die Adressierung des Themas in den Unternehmen angekommen ist und die Unternehmen in den letzten drei Jahren massiv in ihre Kontroll- und Aufklärungssysteme investiert haben.[3] Dennoch seien insbesondere diese Systeme aufmerksam weiter zu beobachten, da sie sich nicht automatisch an ein neues Umfeld anpassten und insofern in falscher Sicherheit wiegen könnten.[4]

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Das Problem „Wirtschaftskriminalität“ wird von 80% der Unternehmen als „ernstes Problem“ bewertet und auf gesamtgesellschaftliche Trends, Einkommensgefälle, Internationalisierung der Märkte und das dortige Aufeinandertreffen unterschiedlicher Werteverständnisse zurückgeführt. Damit ist die Sensibilisierung der Unternehmen im Vergleich zu den letzten drei Jahren deutlich gestiegen.[5] 67% der befragten Unternehmen verfügen nach eigener Ansicht über „gute“ oder „sehr gute“ Kenntnisse bezüglich wirtschaftskrimineller Handlungsmuster, allerdings ist dieses Fachwissen deutlich häufiger bei betroffenen Unternehmen feststellbar, was auf einen reaktiven Umgang mit diesem Kriminalitätsphänomen hindeutet.[6] Zudem ist trotz der Eigenwahrnehmung, über Fachwissen im Umgang mit Wirtschaftskriminalität zu verfügen, ein signifikantes Defizit in der Funktionstrennung erkennbar, das die Autoren beispielsweise an fehlender konsequenter Durchführung des Vier-Augen-Prinzips – entscheidend zur Vermeidung von Wirtschaftskriminalität – festmachen.[7] Obwohl eine solche Kontrollstruktur von 69% der Befragten tatsächlich als Risiko[8] wahrgenommen wird, werden Schulungen und Personalauswahl vernachlässigt[9] und noch seltener auf Compliance über die Grenzen des Unternehmens hinaus, in der Lieferkette, geachtet.[10] Auch die bereits festgestellte Tendenz, eine Betroffenheit im Bereich Diebstahl, Unterschlagung, Betrug und Untreue zuzugeben, hingegen Fälschung von Finanzinformationen sowie Formen des sogenannten Corporate Misconducts, wie Bestechung und Kartellrechtsverstöße, kaum auftauchen, könnte ein Hinweis auf eine selektive Wahrnehmung oder die mangelnde Bereitschaft sein, diesbezügliche Einblicke zu gewähren. Die unter der Skala „Erfahrungen mit Wirtschaftskriminalität“ zusammengefassten Items sind also für die vorliegende Untersuchung zur Unternehmenskriminalität nur bedingt brauchbar, denn sie vermischen die Aspekte „Unternehmen als Opfer“ und „Unternehmen als Täter“.

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Schließlich wird, im Unterschied zu den früheren Ausgaben dieser Studie, besonders auf die „Bedrohung“ des Mittelstands hingewiesen. Hier spielten insbesondere flexible Strukturen, innerhalb derer Spielräume auf Vertrauensbasis entstünden, eine Rolle. Die dort eröffneten Möglichkeiten, einzelfallbezogen zu entscheiden, seien gleichzeitig eine Gelegenheit für Wirtschaftskriminalität. Trotz einer Wahrnehmung dieser Risiken – insbesondere der Bedrohung durch Betrug, Untreue, Korruption (57%), Verletzung von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (20%) sowie Verletzung von Schutz- und Urheberrechten (16%) – seien jedoch Präventions- und Schutzkonzepte, beispielsweise für vertrauliche Informationen, nicht etabliert. Im Bereich des Mittelstands spiele zudem der Zufall bei Aufdeckung einer Straftat eine erheblich größere Rolle als bei Großunternehmen.[11] Zusammenfassend und als Unterschied zum Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg lässt sich festhalten, dass die „Bedrohung“ durch unternehmensinterne Täter in den Vordergrund gestellt[12] und auch registriert wird, dass obere Hierarchieebenen involviert sein können. Die Umgehung von Kontrollen setzt nämlich meist eine gehobene Stellung und gutes Fachwissen voraus.[13] Zwar wird das Unternehmen auch hier ausschließlich als Geschädigter dargestellt, jedoch finden sich sowohl im Setting der Studie als auch in der Eigenwahrnehmung der befragten Unternehmen Delikte wie Betrug, Korruption, Untreue und Kartellrechtsverstöße und weniger Bagatellkriminalität abgebildet als im Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg.