Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?

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Anmerkungen

[1]

Vgl. z. B. Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 und im Zusammenhang mit den Werthaltungen, die durch das Wirtschaftssystem bedingt sind, Schlegel u. a. Wirtschaftskriminalität und Werte, S. 33 ff.

[2]

Vgl. Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (244), die jedoch die Unternehmen als „Keimzellen der Marktwirtschaft diesem Mechanismus besonders hilflos ausgeliefert“ sehen.

[3]

Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244

[4]

Die Bevölkerungsumfrage fand im Jahre 2002 statt und bezog sich auf 4344 Personen, die nicht speziell in einem wirtschaftlichen Kontext befragt wurden. Der Fragebogen konzentrierte sich auf folgende sechs Variablen: (1) Einstellung zur Wirtschaft, (2) Selbstinteresse, (3) moralische Bindung an das Recht und Religiösität, (4) Neutralisierungen, (5) Viktimisierungen, (6) kriminogene Netzwerke, sowie die üblichen demographischen Variablen Geschlecht, Bildungsgrad und monatliches Nettoeinkommen. Vgl. hierzu Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (249 ff.).

[5]

Allerdings beschränkte sich die Erhebung auf kleinere Schäden und Bagatellfälle, sodass hinsichtlich der krimininalitätshemmenden Aspekte in Anbetracht eines größeren drohenden Schadens, wie er im Wirtschaftskriminalitätskontext typisch ist, keine signifikanten Aussagen gemacht werden können.

[6]

Vgl. Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (252 ff.).

[7]

Abgefragt wurde beispielsweise: „Wie häufig sind Ihnen verpackte Lebensmittel verkauft worden, bei denen die guten Stücke oben und schlechte und unbrauchbare Stücke nicht sichtbar darunter lagen?“ oder „Wie häufig wurden bei einer Wartung oder Reparatur überflüssige Reparaturen durchgeführt, stellte man Ihnen nicht ausgeführte Reparaturen in Rechnung oder baute alte oder beschädigte Ersatzteile ein?“ Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (251 f.).

[8]

Siehe Rn. 111 ff.

[9]

Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (255)

[10]

In diesem Zusammenhang ist an den allgemeinen kriminologischen Ansatz zu denken, der zu den Überlegungen Sutherlands zur Wirtschaftskriminalität in Bezug gesetzt werden kann: die im Zusammenhang mit der Jugendkriminalität auftauchende Subkulturentheorie, die die Begehung von Straftaten auf die Geltung von abweichenden Normen und Werten in parallelen Kontexten und Gesellschaftsgruppen zurückführt. Trotz der sich schwer gestaltenden empirischen Nachprüfbarkeit dieser Theorie – gerade im wenig stabilen und geordneten „Wertesystem“ von Jugendlichen – kann sie aufgrund ihrer zentralen Beobachtung, den Neutralisierungstechniken als Rechtfertigungsstrategie, im vorliegenden Kontext von Interesse sein. In der „Subkultur Wirtschaft“ (bzw. Unternehmen) werden genau die in der Subkulturentheorie beschriebenen Mechanismen nachträglicher Rechtfertigung und Selbstentlastung beobachtet, die als „kriminogene Denkmuster“ dem kriminellen Verhalten vorausgehen, ihm „psychologisch den Weg bereiten“. Vgl. hierzu Cohen/Short in: Kriminalsoziologie, S. 372 (373 ff.); Hefendehl MschrKrim 2003, 27 (32). Vgl. auch Sykes/Matza in: Kriminalsoziologie, S. 360 (365) und Rotsch Individuelle Haftung in Großunternehmen, S. 33 ff. Dies deckt sich mit den Ausführungen von Sutherland bzw. Clinard und Quinney, die die höhere Instanz Unternehmen bzw. die darin ausgedrückte Kollektivität als Anknüpfungspunkt für das Erlernen von kriminellen Verhaltensweisen beschrieben; Sykes und Matza dagegen sehen das Unternehmen als höhere Instanz, die dem Individuum den Eindruck vermittelt, sein Handeln sei – obwohl gesetzeswidrig – legitim und normal.

[11]

Vgl. Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (255–258).

[12]

Vgl. Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (258), die zudem folgern, dass die Wirtschaft „insoweit ihrem systemspezifischen Programm folgen und konsequent dem Wettbewerb und der Gewinnmaximierung nachgehen kann“.

[13]

Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (256 ff.).

[14]

Vgl. zu MertonRn. 127 ff.

[15]

Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (253).

[16]

Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (258).

[17]

Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (258).

[18]

So explizit Bussman/England/Hienzsch MschrKrim 2004, 244 (257).

6. Fazit

143

Durch den wirtschaftskriminologischen Bezugsrahmen konnten die empirischen Befunde plausiblen theoretischen Erklärungen zugeführt werden; eine Basis für weitere Überlegungen. Zentrale Eckpunkte sind die Rolle des Zugangs zum illegalen Weg – mithin die Tatgelegenheit –, der „Lernkontext“ hinsichtlich der Rezeption illegaler Möglichkeiten und schließlich die Neutralisierungsmechanismen, um in der von Merton beschriebenen Drucksituation die Wahl für die kriminelle Verhaltensalternative zu treffen. Von einem pauschalen kriminogenen Einfluss der Wirtschaft ist nicht auszugehen, gleichwohl scheint die moralische Bindung bei Steigerung des Selbstinteresses der Akteure im Wirtschaftskontext mit gewissen Einschränkungen festgestellt.

144

Die empirischen und theoretischen Erkenntnisse zur Wirtschaftskriminalität legen nahe, dass der Unternehmenskontext bestimmte Charakteristika der Wirtschaftskriminalität verstärkt: Zum einen stellt er Kapazitäten an Macht und/oder Wissen zur Verfügung, die sowohl einen Rechtsbruch ermöglichen als auch seine Folgen verwischen können. Auch im Rahmen der Ermittlungen werden Schwierigkeiten aufgeworfen, denn selbst wenn ein Unternehmen zweifelsfrei als „Schädiger“ bestimmter Rechtsgüter identifiziert wurde, steht die Suche nach dem persönlich Verantwortlichen an ihrem Anfang. Agieren mehrere Mitarbeiter arbeitsteilig derart zusammen, dass jeder einzelne ein geringes Maß an Verantwortung innerhalb des gesamten kriminellen Vorgangs hat, kann er strafrechtlich nicht oder schwer zur Verantwortung gezogen werden. Die dahinter stehende Organisation kann so aufgebaut sein, dass allenfalls die tatsächlich handelnden, „unteren“[1] Ebenen strafrechtlich fassbar sind, deren Schuld wiederum überwiegend gering sein wird. Desweiteren liegt nahe, dass die Erschütterung „gesellschaftlich notwendigen Vertrauens“, wenn man sie als ein Merkmal der Wirtschaftskriminalität auffassen will,[2] in einem stärkeren Maße durch kriminelle Unternehmenstätigkeit erfolgen kann, als durch ein individuelles wirtschaftskriminelles Verhalten. Letztere kann man durchaus als Verhaltensweisen beschreiben, die – mittelbar oder unmittelbar – eine Verletzung gesellschaftlich notwendigen Vertrauens, welches Funktionsvoraussetzung für die sehr komplexen Wirtschaftsabläufe der heutigen Zeit ist, bedeuten. Des Weiteren scheinen Unternehmen als arbeitsteilig organisierte Einheiten ohne den individuell Verantwortlichen und grundverschiedenen internen Arbeitsabläufen von außen schwer einsehbar. Es handelt sich also um einen Wirtschaftsakteur, dem die Gesellschaft – mangels Einblick- und Kontrollmöglichkeit – Vertrauen entgegenbringen muss: Sowohl Verbraucher müssen sich hinsichtlich der Produktionstätigkeit auf Qualität und Fairness verlassen, als auch andere Marktteilnehmer müssen sich beispielsweise hinsichtlich der Einhaltung bestimmter Wettbewerbsregeln auf Unternehmen „einlassen“, ohne sie selbst betreffende Prozesse kontrollieren zu können. Insofern ist anzunehmen, dass ein möglicher Vertrauensbruch weitreichendere Konsequenzen hat, weil er in diesem Kontext weniger mit „individuellem Versagen“ gerechtfertigt werden kann und der Bezug zum „Systemvertrauen“[3] insofern deutlicher ist. Schließlich scheint das Unternehmen als „Lernkontext“ prädestiniert zu sein, weil hier Mitarbeiter miteinander auf Produktionsziele hinarbeiten und zudem Vorgaben durch höhere Hierarchieebenen eine Rolle spielen.

145

 

Die leicht zu vermutende Verstärkungswirkung der Unternehmen für Wirtschaftskriminalität entbindet gleichwohl nicht von einer genaueren Beschäftigung mit dem „Kriminalitätspotential Unternehmen“ und der Herausarbeitung von Differenzierungsmerkmalen. Unternehmenskriminalität könnte als Teilmenge der Wirtschaftskriminalität zwar einen Großteil ihrer Merkmale wie die fehlende Affektivität der Tathandlung, den vergleichsweise hohen Schaden in Bezug auf die Anzahl der Straftaten, das Täterprofil oder die typischen Aufklärungsprobleme aufweisen, allerdings charakteristische, eigene Merkmale wie die Bedingungen des „Begehungsortes[4] Unternehmen“ bzw. des „Tatmittels Unternehmen“ im Sinne einer strafwürdigen Nutzung der Unternehmensstruktur beinhalten. Ob es aus diesen Gründen als unmittelbarer krimineller Akteur in Betracht gezogen werden muss, es lediglich als „Umfeld“, das der Entwicklung individueller Kriminalität zuträglich ist, eingeordnet werden muss oder unmittelbar kriminogen auf Individuen wirkt, wird im Folgenden herauszufinden sein.

Anmerkungen

[1]

Also in der Hierarchie des Unternehmens unten angesiedelten Angestellten, die gleichzeitig am meisten Weisungen unterworfen sind.

[2]

Bejahend: Schwind Kriminologie, § 21 Rn. 17 m. w. N.; Boers/Nelles/Theile Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, S. 27; verneinend: Eisenberg Kriminologie, § 47 Rn. 5 m. w. N.

[3]

Vgl. zu diesem Begriff Otto MschrKrim 1980, 397 (399 ff.).

[4]

So der Fokus von Hefendehl MschrKrim 2003, 27 (27).

Teil 1 Interdisziplinäre Grundlagen der Unternehmenskriminalität › C › IV. Unternehmenskriminalität – ein „täter“orientierter Versuch der Begriffsbildung

IV. Unternehmenskriminalität – ein „täter“orientierter Versuch der Begriffsbildung

146

Das Credo der Chicago School, der Sutherland angehörte, war „get inside the actor's perspective“, womit in erster Linie zu konsequenter Empirie und Feldforschung – „Leave your textbook behind! [...] Go into the district and get your feet wet!“[1] – aufgerufen wurde. In Anbetracht der dürftigen empirischen Befunde ist die Aufforderung „get inside“ schwer zu realisieren, weil vor allem die Unternehmen kooperativ sind, aus denen keine oder wenig Wirtschaftsstraftaten hervorgegangen sind.

147

Die täterorientierte Herangehensweise Sutherlands war jedoch – wie gesehen – mehr als der Aufruf nach konsequenter, qualitativ-empirischer Forschung: Sie bestand in der Einbeziehung eines bisher tabuisierten Bereichs – der gesellschaftlichen Elite – in die kriminologische Forschung. Aufgrund seiner Fokussierung auf die „Herren im weißen Kragen“ tragen seine Thesen für den weiteren Verlauf der Untersuchung nur noch bedingt; er bleibt jedoch gewissermaßen Gewährsmann, denn seine grundsätzliche Herangehensweise wird zum Vorbild genommen. Statt prozessualtaktischen oder schadensbezogenen Definitionsvorschlägen den Vorzug zu geben und dabei entweder zu unterstellen, dass Unternehmen – weil sie die essentialia der Marktwirtschaft sind – die Hauptakteure der so definierten Wirtschaftskriminalität sind oder sie als Opfer schützen zu wollen, wird der Aktionsradius dieser vermeintlichen Akteure beleuchtet. Die täterorientierte Herangehensweise hat damit den großen Vorzug, zwei implizite Feststellungen in der dogmatischen Diskussion um die Unternehmensstrafe gründlich untersuchen zu wollen: Zum einen, dass Unternehmen Täter im herkömmlichen bzw. in einem neu zu definierenden Sinne sind. Zum zweiten, inwiefern diese kriminell agieren. Damit wird ein Forschungsansatz, der grundsätzlich auf der Einsicht beruht, dass Kriminalitätsentwicklung mit Persönlichkeitsfaktoren des Menschen zusammenhängt und dessen Verhalten beeinflussbar ist, auf ein neues Gebilde angewandt. Bisher war es nur der Mensch, dessen Handeln, Motivation und Schuldfähigkeit untersucht wurde; auch wenn es um Handlungen ging, die in Gemeinschaft mit anderen erfolgten.[2] Da jedoch die erste Hypothese – das Unternehmen als Opfer – in den empirischen Befunden nicht bestätigt wurde, wird im Folgenden die zweite Hypothese des Unternehmens als Kriminalitätsverursacher sui generis weiter verfolgt. Hierbei wird es in einigen Definitionsansätzen als Kriminalitätskontext nahegelegt[3] und in strafrechtsdogmatischen Überlegungen als Täter erwogen.

Anmerkungen

[1]

Vgl. zu dieser wissenschaftlichen Tradition mit zahlreichen Nachweisen: Meyer Qualitative Forschung in der Kriminologie, S. 31 ff., die diesen Ansatz für eine Biographiestudie zu Jugendgewalt fruchtbar macht.

[2]

Kaiser Kriminologie, S. 471.

[3]

Vgl. hierzu die Stellungnahme der Bundesregierung in BT-Drucks.: 13/11425 v. 9.9.1998 zur Großen Anfrage der SPD Fraktion, wonach Unternehmenskriminalität alle von Mitarbeitern für ihr Unternehmen bzw. im Interesse ihres Unternehmens begangenen Straftaten erfaßt. Als exemplarisch wichtige Bereiche der Unternehmenskriminalität werden genannt: Ausschreibungsbetrügereien und Korruptionsvorgänge; Vertrieb betrügerischer Kapitalanlagemodelle; Beihilfe zur Steuerhinterziehung mittels Kapitaltransfers durch Banken ins Ausland; Verstoß gegen Exportverbote und Embargobestimmungen; Herstellung und Vertrieb gesundheitsschädlicher Produkte; industrielle Umweltverschmutzung; Müllverschiebereien; Geldwäsche durch Anlage von Verbrechensgewinnen im Bereich der legalen Wirtschaft.

1. Wirtschaftsstraftäter im Unternehmen

148

Da die Kriminologie sich vornehmlich um menschliches Fehlverhalten dreht und das Individuum im Zentrum der Aufmerksamkeit (wirtschafts-)kriminologischer Forschung steht, stellt sich als erstes die Frage nach der Wirkung des Unternehmens auf den darin integrierten Menschen. Die kriminelle Verbandsattitüde[1] oder die organisierte Unverantwortlichkeit[2] – als die prominentesten kriminalpolitischen Argumente – implizieren zunächst einen kriminogenen Kontext, der dann dem Unternehmen aus verschiedenen Gründen zurechenbar sein könnte.

149

Diesen Wirkmechanismen des Unternehmens auf das Individuum und das Unternehmen als kriminogenen Kontext in Erwägung zu ziehen bedeutet eine Abwendung von der individuumzentrierten Herangehensweise hin zur Untersuchung makrokrimineller Zusammenhänge. Schon nach den bisherigen Betrachtungen ist die Beeinflussung des Individuums im Unternehmen plausibel. Es würde gleichwohl eine kaum überzeugende phänomenologische Reduktion der Unternehmenskriminalität darstellen, aus dem Umstand, dass Mitarbeiter von „ihrer Firma“ sprechen,[3] eine arbeitsvertragliche Unterordnungspflicht besteht und festgestellt wurde, dass Wirtschaftsstraftaten überwiegend im Zusammenhang mit der Unternehmenstätigkeit begangen werden, auf eine kriminogene Wirkung der Eingliederung in das Unternehmen zu schließen. Braithwaites Annahme, dass Unternehmenskriminalität nicht mit perversen Persönlichkeiten der handelnden Individuen erklärt werden könne, und seiner Forderung, den Faktoren Aufmerksamkeit zu widmen, die „gewöhnliche Menschen“ verleiteten „außergewöhnliche Dinge“ zu tun, werden im Folgenden besondere Aufmerksamkeit geschenkt.[4] Zur Ergänzung der frühen kriminologischen Untersuchungen Sutherlands, die zwar im Unternehmenskontext erfolgten, aber eine allgemeine Theorie zur Erklärung von individueller Kriminalität nach sich ziehen sollten, wird der Bogen zunächst sehr weit gespannt und theoretische Konzepte der Makrokriminalität betrachtet. Ineinandergreifende Lern- und Neutralisierungsmechanismen spielen im Zusammenhang mit Kriegen, Staats- und Gruppenterrorismus oder totalitärer Herrschaft eine Rolle; sie waren Gegenstand intensiver sozialpsychologischer Studien. Diese Erkenntnisse, die den Aktionszusammenhang, in dem die individuelle Tat gesehen werden muss, in den Mittelpunkt stellen, sollen auch hier fruchtbar gemacht werden,[5] denn in beiden Kriminalitätszusammenhängen steht ein Kollektiv – und nicht ausschließlich das Individuum – im Zentrum der Aufmerksamkeit und desweiteren nicht die Abweichung des Individuums, sondern die Konformität desselben als der wesentliche Kriminalitätsfaktor.

Anmerkungen

[1]

Dieser Begriff ist maßgeblich von Schünemann geprägt, vgl. beispielsweise Schünemann wistra 1982, 41 (43); Schünemann in: Bausteine des europäischen Wirtschaftsstrafrechts, S. 263 (271) m. w. N.

[2]

Vgl. zu diesem Begriff Schünemann Unternehmenskriminalität und Strafrecht, S. 18, 34, 149 ff.; Schünemann wistra 1982, 41 (42); Otto Die Strafbarkeit von Unternehmen und Verbänden, S. 25; Dannecker GA 2001, 101 (103 f.); Rotberg in: 100 Jahre Deutsches Rechtsleben, FS zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860–1960, S. 193 (207 f.); Kohlhoff Kartellstrafrecht und Kollektivstrafe, S. 196; Volk JZ 1993, 429 (433). Ablehnend Schmidt-Salzer Produkthaftung, Rn. 1101 ff., 1170 ff.; Schmidt-Salzer NJW 1988, 1937 (1937), der darin eine „Verantwortungsvervielfachung“ erblickt; ähnlich Mayer Strafrechtliche Produktverantwortung bei Arzneimittelschäden, S. 428. Vgl. zu seinem Ursprung Beck Gegengifte: Die organisierte Unverantwortlichkeit, der ihn auf den übergeordneten Topos der Risikogesellschaft bezieht.

[3]

So das Beispiel von Busch Grundfragen, S. 103 mit entsprechender Schlussfolgerung.

[4]

„[M]ost corporate crime cannot be explained by the perverse personalities of their perpetrators [...] We should pay attention to the factors that lead ordinary men to do extraordinary things“. Vgl. Braithwaite Corporate Crime in the pharmaceutical industry, S. 2, der das Wort Optons aufgreift.

[5]

Jäger beschreibt den Unterschied zur übrigen Kriminalität wie folgt: „das individuelle Handeln [ist] nicht als isolierte Tat und punktuelles Ereignis denkbar [...], sondern nur als Teil eines kollektiven Aktionszusammenhangs, der eine nicht wegzudenkende Rahmenbedingung der individuellen Handlung darstellt“. Jäger Makrokriminalität, S. 12. Vgl. zu dieser Annäherung in Bezug auf die Strafbarkeit innerhalb von Großunternehmen Rotsch Individuelle Haftung in Großunternehmen, S. 24 ff.

a) Unternehmen als Lern- und Neutralisierungskontext – sozialpsychologische Gesichtspunkte

150

Im Zusammenhang mit Schießbefehlen des Nationalen Verteidigungsrates der DDR und der vorsätzlichen Tötungen von Flüchtlingen durch Grenzsoldaten der DDR wurde die durch kollektive Neutralisationsmechanismen ausgelöste „Paralysierung oder Suspendierung sonst wirksamer Normvorstellungen, Kulturverbote, Hemmungen und Gewissensreaktionen“[1] diskutiert.[2] Diese vorsätzlichen Tötungen unbewaffneter Flüchtlinge wurden als „offensichtliche und unerträgliche Verstöße gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte“[3] bezeichnet, aus diesem Grunde nicht als diese Handlungen legitimierendes Recht betrachtet; und dennoch stellten sie für die Soldaten im damaligen Kontext kein derart hemmendes unerträgliches Unrecht, sondern lediglich „Pflichterfüllung“ dar.[4] Insbesondere zwei – gruppenbedingte – Neutralisierungsprozesse spielen hierbei eine Rolle, die auch auf Unternehmensebene beobachtbar sind: unmittelbare und mittelbare Prozesse.

 

151

Als unmittelbare Neutralisierungsprozesse werden solche bezeichnet, die primär von dem Kollektiv auf das Individuum einwirken, also unmittelbar auf die Struktur des Kollektivs zurückführbar sind.[5] So wirken z. B. Wertvorstellungen und gruppeninterne Verhaltensregeln, die der geltenden Rechtsordnung zuwider laufen, unmittelbar auf die Individuen ein und können zur Bildung einer eigenen, subjektiv überlegenen Werteordnung führen.[6] Durch die dauerhafte Verinnerlichung dieser „parallelen Werteordnung“, die zu einer Beherrschung durch diese moralischen oder funktionalen Prinzipien führt, kann eine Neutralisation gegenüber dem Normappell des Gesetzgebers entstehen. Da hier der entscheidende Normappell durch die Etablierung interner Verhaltensanforderungen überdeckt und durch Phänomene der Gewöhnung etabliert wird, kann die eigentliche Rechts(guts)verletzung nicht mehr als Unrecht wahrgenommen werden, sondern wird mitunter als Selbstverständlichkeit begriffen.[7] Besondere Relevanz hat dieser sozialpsychologische Aspekt in organisatorischen Machtapparaten, die von einer hierarchischen Befehlsgewalt geprägt sind. Diese Organisationen zeichnen sich dadurch aus, dass sie als Ganzes außerhalb des Rechts stehen und eine sehr autoritäre Struktur aufweisen, der sich das Individuums nicht entziehen kann – insbesondere weil eine Verweigerung durch das Recht nicht geschützt wird.[8]

152

Allerdings zeigte Milgram in seinem Experiment,[9] dass auch formell nicht-autoritäre Aktionszusammenhänge einen deutlich neutralisierenden Effekt auf Individuen haben können. Er konstatierte eine außerordentlich hohe Gehorsamsbereitschaft gegenüber evident unmoralischen und auf die Anwendung von Gewalt gerichteten Befehlen, auch wenn sie im Widerspruch zu ihren Wertvorstellungen standen. Milgram folgerte hieraus zwei Funktionszustände: zum einen der Zustand der Autonomie, in dem das Individuum sich als für seine Handlungen verantwortlich erlebt, und zum anderen der Agens-Zustand, in den es durch den Eintritt in ein Autoritätssystem versetzt wird und nicht mehr aufgrund eigener Zielsetzungen handelt, sondern zum Instrument der Wünsche anderer wird. Dieser Agens-Zustand wurde in Milgrams Experiment leichter erreicht, wenn die Probanden den vermeintlichen Schüler nicht sahen[10] und ihr Unrechtsbewußtsein nicht durch die Sichtbarkeit des moralischen Unrechts geweckt werden konnte.

153

Diese Beobachtungen stimmen nicht nur mit makrokriminologischen Forschungsergebnissen überein, die ebenfalls eine Deindividualisierung des Opfers festhalten,[11] sondern auch mit den Aussagen Sutherlands, die er im Zusammenhang mit der Theorie differentiellen Kontakte trifft.[12] Desweiteren enthalten sie insofern Parallelen zu den empirischen Erkenntnissen zur Wirtschaftskriminalität, als die Unsichtbarkeit des Rechtsbruchs, fehlenden Affektivität der Handlungen, die Anonymität der Opfer und Neutralisierungstechniken mehrfach Erwähnung fanden. Der „opferbezogene Abstrahierungsprozess“[13] lässt sich also leicht in Übereinstimmung mit dem erläuterten theoretischen Bezugsrahmen bringen; die aus sozialpsychologischer Sicht erklärte „Konformität abweichenden Verhaltens“ dagegen schwer. Laut Jäger existiert eine „Kriminalitätstheorie, die solche Einflüsse auf das individuelle Verhalten, wie überhaupt die komplexen Entstehungsbedingungen kollektiver Verbrechen zu erfassen sucht“ nur in fragmentarischen Ansätzen.[14] Grund ist, dass die Zuschreibung von strafrechtlicher Verantwortung im Allgemeinen bei der Abweichung von Normen erfolgt und hier nicht Abweichung, sondern Konformität einen Hauptbeweggrund im Handeln des Einzelnen darstellt. Ebenso wie Alwart auf semantischer Ebene mit Bedacht vorging und den Begriff Mesokriminalität statt Makrokriminalität in die Diskussion einführte, muss nun bei Erklärung dieser mesokriminellen Prozessen vorgegangen werden. Die Makrosoziologie bietet gedankliche Anknüpfungspunkte, wirft dabei jedoch auch zusätzliche Fragen auf: Zum einen wird grundsätzlich zu differenzieren sein, wo Überschneidungen und wo Unterschiede in der Frage des Einflusses des Kollektivs auf das Individuum bestehen. Zum zweiten muss dort, wo eine (un-)mittelbare (kriminogene) Beeinflussung plausibel erscheint, geprüft werden, ob die Taten, die im Zusammenhang mit diesen gruppendynamischen Einflüssen zu sehen sind, als „persönlichkeitsfremd“[15] und – wenn ja – als Kollektiv- oder Unternehmensgesteuert anzusehen sind.

154

Hinsichtlich des erstgenannten Aspekts, der „Konformität des abweichenden Verhaltens“ im Unternehmen im Vergleich zu der „klassischen“ Makrokriminalität, gilt es die aktive Rolle des Staates zu sehen. Im engeren Sinne ist Makrokriminalität nämlich „staatsverstärkte Kriminalität“,[16] die gegen den eigenen Bürger gerichtet ist[17] und nicht lediglich Kriminalität zur Verteidigung irgendeiner Machtposition.[18] Im Unternehmenskontext erscheint also zumindest nicht zwingend, dass die Herausbildung von Gruppenemotionen und die bedingungslose Unterordnung gegenüber einer Befehlsgewalt, wie sie im makrokriminellen Kontext konstatiert wurde, typisch ist. Die Verweigerung bestimmter Anweisungen ist durchaus möglich und wird von der Rechtsordnung unterstützt bzw. sogar gefordert.[19] Wenn auch stabile rechtliche Rahmenbedingungen um einen „whistleblower Status“ immer noch erst im Entstehen begriffen sind, greifen dennoch arbeitsrechtliche Mechanismen zum Schutz der Unternehmensmitglieder ein.[20] Es ist jedenfalls fernliegend von einem Automatismus der Anweisungsumsetzung auszugehen, wie sie organisatorischen Machtapparaten auch nur ähnlich sein könnte. Das Unternehmen steht nicht als Ganzes außerhalb des Rechts, sondern hat sich einer grundsätzlich legalen Gewinnerzielungsabsicht verschrieben.[21]

155

Gleichwohl – deviantes oder gar kriminelles Verhalten kann sich als normalisierte Organisationspraxis[22] etablieren, wie am Fall Siemens nochmals exemplifiziert[23] werden soll: Es wird inzwischen[24] davon ausgegangen, dass in den Jahren 2000–2006 Schmiergeldzahlungen von über 1,3 Milliarden Euro aus verschiedenen – international involvierten – Unternehmensbereichen[25] des Siemens Konzerns heraus über ein sogenanntes „Netz schwarzer Kassen“ gezahlt wurden. Dieses Netz geht zurück auf mehrere Schwarzgeldkonten, die Siemensmitarbeiter seit den 90er Jahren in Österreich unterhielten und die seit 2000 nicht mehr direkt durch die Konzernzentrale gespeist werden konnten. Es etablierte sich in der Folge ein mehrstufiges Geflecht von Scheinberatungsfirmen mit Sitz in den USA, Österreich und den Virgin Islands, über die große Summen aus dem Konzern auf schwarze Konten nach Liechtenstein und in die Schweiz transferiert werden konnten. Von diesen Konten wurden die Bestechungszahlungen in diverse Länder[26] gezahlt, um Aufträge zu erhalten.[27] Insbesondere unter dem Druck eines Verfahrens der US Securities and Exchange Commission (SEC) und der eingeleiteten Verfahren in Deutschland[28] erfolgten umfangreiche strukturelle und personelle Veränderungen. Den Auftakt deutscher Gerichtsverfahren bildeten die Verfahren gegen den Finanzvorstand Andreas Kley und den ehemaligen Mitarbeiter Horst Vigener (beide Siemens Power-Generation) vor dem Landgericht Darmstadt. Kley hatte die interne Autorisierung, Zahlungen in unbegrenzter Höhe anzuweisen; er setzte dies unter anderem in einem etablierten – dem Zentralvorstand nach eigenen Äußerungen nicht bekannten – System zur Zahlung von Bestechungsgeldern um. Vigener kümmerte sich um Verwaltung und Abwicklung der Zahlungen über diverse Nummernkonten bei liechtensteinischen Banken. Zudem existierte eine weitere verdeckte Kasse in der Schweiz, die noch von der durch die Siemens AG übernommenen früheren KWU AG stammte und von Kleys Vorgänger unmittelbar übernommen worden war. Konkreter Anknüpfungspunkt des Falles war die Auftragsvergabe des 1999 europaweit ausgeschriebenen Projekts „La Casella“ zur Lieferung von Gasturbinen durch die italienische Enelpower. Im Rahmen der Ausschreibung verlangte der Geschäftsführer einer Enel-Tochter einen Millionenbetrag als Gegenleistung für eine Einflussnahme auf die Vergabeentscheidung; Kley veranlasste in der Folge eine Zahlung in Höhe von 2,65 Millionen Euro an diesen Geschäftsführer und ein weiteres geschäftsführendes Mitglied des Verwaltungsrats der Enelpower, und zwar über das Kontengeflecht in Liechtenstein. Im Hinblick auf das Mitte 2000 durch Enelpower ausgeschriebene Projekt „Repowering“ erfolgte eine weitere Zahlung an die Genannten.[29] Kley wurde wegen Bestechung ausländischer Angestellter und Untreue zu zwei Jahren Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe in Höhe von 400 000 Euro verurteilt. Der mitangeklagte Horst Vigener wurde wegen Beihilfe zur Bestechung zu neun Monaten auf Bewährung verurteilt. Zusätzlich wurde ein Verfall und Wertersatz in Höhe von 38 Millionen Euro verhängt.[30] Das Gericht, das als Tatsacheninstanz für die kriminologische Betrachtung von besonderem Wert ist, stellte hierbei fest, dass strafschärfend gegenüber Kley die „besonders hervorgehobene Vertrauensstellung in der S. AG als für die Umsetzung der Compliance-Richtlinien zuständiger Finanzvorstand“ zu berücksichtigen war und ihn diesbezüglich nicht entlasten konnte, dass „in gewissem Maße noch ein korruptionsfreundliches Klima geherrscht hat“. Desweiteren wies das Gericht deutlich darauf hin, dass die Möglichkeit, über das liechtensteinische Kontensystem verdeckte Leistungen auf den Weg zu geben, zahlreichen Mitarbeitern bekannt gewesen sein musste, denn trotz Bestehens einer Compliance-Richtlinie bedurfte es nur eines gegenüber Kley signalisierten Zuwendungsbedarfs, um für „nützliche Aufwendungen“ abbuchen zu lassen; dieser Bedarf wurde durch die Mitarbeiter offenbar ohne Furcht vor persönlichen Konsequenzen angesprochen.[31] Im Revisionsverfahren hob der BGH das Urteil teilweise auf und qualifizierte das Führen schwarzer Kassen als Untreue, weil bereits die Errichtung schwarzer Kassen dem Entzug der Vermögenswerte gleichkomme, sodass schon durch Bildung der schwarzen Kasse ein Vermögensnachteil begründet würde.[32] In dem Verfahren vor dem Landgericht München wegen Auslandsbestechung in der Telefonsparte wurde die Siemens AG im Oktober 2007 zur Zahlung einer Geldbuße von einer Million Euro und einer Gewinnabschöpfung von 200 Millionen Euro verurteilt sowie zu erheblichen Steuernachzahlungen. Der frühere Siemens COM-Mitarbeiter Reinhard Siekaczek wurde 2008 wegen Veruntreuung von Firmenvermögen zu zwei Jahren Freiheitsstrafe auf Bewährung und 108 000 Euro Geldstrafe verurteilt,[33] weil er in 49 Fällen insgesamt 49 Millionen Euro in schwarze Kassen abgezweigt haben soll, um sie anderen Siemens-Mitarbeitern für Bestechungshandlungen weltweit zur Verfügung stellen zu können. Obgleich er als Hauptverwalter des Netzes schwarzer Kassen galt, bezeichnete ihn der vorsitzende Richter als „Rädchen im System“, da die „gesamte Organisation“ bei Siemens und alle Kontrollinstanzen auf die Ermöglichung von schwarzen Kassen ausgerichtet gewesen sei.[34]