Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?

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Teil 1 Interdisziplinäre Grundlagen der Unternehmenskriminalität › C › III. Wirtschaftskriminologische Theoriebildung – der Bezugsrahmen

III. Wirtschaftskriminologische Theoriebildung – der Bezugsrahmen

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Mehrere erkenntnisleitende Hypothesen haben sich auf Grundlage der empirischen Betrachtung herausgebildet: zum einen die Annahme, dass Wirtschaftskriminalität einen Oberbegriff zur Unternehmenskriminalität bildet, zum anderen die aus den Studien herausgearbeiteten[1] Charakteristika der Wirtschaftskriminalität. Um nun diese Hypothesen weiter zu überprüfen und einen tieferen Einblick in die Entstehungsbedingungen von Wirtschaftskriminalität zu gewinnen, soll im Folgenden überblicksartig auf die wirtschaftskriminologisch relevanten Theorien eingegangen werden. Dies verspricht zum einen ein tieferes Verständnis für die Entscheidung der Wirtschaftsstraftäter im Zeitpunkt der abweichenden Handlung und auch, eine Grundlage für weitere Überlegungen dahingehend, ob der Unternehmenskontext die Entstehungsbedingungen von Wirtschaftskriminalität verändern oder verstärken kann.

Anmerkungen

[1]

Siehe Rn. 89 ff.

1. Theorie der differentiellen Assoziation

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Sutherland erklärt die von ihm beobachteten Verhaltensweisen der Verbandsfunktionäre mit seiner Theorie der differenziellen Kontakte bzw. Assoziationen, die die white collar-Kriminalität v. a. damit erklärt, dass es sich um in der beruflichen Sozialisation erlerntes Verhalten handelt. Es handelt sich hierbei um eine der wenigen Theorien, die abweichendes kriminelles Verhalten versuchen generell zu erklären, denn sie geht davon aus, dass abweichendes Verhalten genau wie konformes Verhalten im Rahmen der Sozialisation – und hierbei insbesondere in kleineren Gruppen – erlernt wird. Der Lernprozess beziehe sich hierbei sowohl auf praktische Fähigkeiten als auch auf Normen, die im Verhältnis zu den herrschenden gesellschaftlichen Normen und Gesetzen als positiv oder negativ bewertet würden.[1]

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Nach Sutherlands Ansicht wird eine Person im Ergebnis delinquent infolge eines Überwiegens von Normverletzungen befürwortenden Einstellungen über jene, die Gesetzesverletzungen negativ beurteilen. Kriminelles Verhalten wird in Interaktion mit anderen Personen in einem Kommunikationsprozess gelernt. Die personenspezifische Richtung von persönlichen Motiven wird gelernt, indem Gesetze positiv oder negativ definiert werden. Ein Übergewicht an Kontakten mit abweichenden Verhaltensmustern führt in der Folge Gesetzesverletzungen herbei. Entscheidend sind demzufolge Einstellungen und Motive, die aufgrund bestimmter Kontakte (konform/non-konform) zu anderen entstehen. Überwiegend non-konforme Kontakte führen zu entsprechenden Einstellungen der Person, was wiederum ein konkretes Handeln (Gesetzesverletzungen) nach sich zieht. Dies allerdings sei kein Phänomen, das ausschließlich in den „unteren Gesellschaftsschichten“ zu finden sei. Wirtschaftsverbrechen würden erlernt, so wie andere Verbrechen auch. Sie würden in Interaktion mit denen gelernt, die in der Wirtschaft bereits kriminelles Handeln praktizierten.[2] Sutherland ist in diesem Punkt zuzustimmen, denn die damaligen Theorien über die Ursachen des Verbrechens sind für die Erklärung des Verbrechens im Allgemeinen und der Wirtschaftskriminalität im Besonderen ungeeignet.[3] Jedoch ist anzumerken, dass die These der differentiellen Kontakte keine Erklärung dafür bietet, warum unter gleichen Übertragungsverhältnissen der eine ein white collar-Delikt begeht und der andere nicht.[4] Zwar kam es Sutherland nur auf die Anzahl der positiven oder negativen Definitionen von Gesetzesverletzungen für das Auftreten kriminellen Verhaltens an. Daher konnte kaum von „gleichen Übertragungsverhältnissen“ ausgegangen werden, da Lernsituationen außerhalb des geschäftlichen Kontextes, z. B. in anderen Rollen als Vater, Ehemann oder Vereinsvorsitzender, ebenso relevant für das Überwiegen einer die Normverletzung gutheißenden Motivation in Erwägung gezogen wurden.[5] Dennoch konnte die Theorie der differentiellen Kontakte keine Erklärung dafür bieten, dass bei Überwiegen von die Normverletzung positiv bewertenden Einflüssen eine Entscheidung gegen den Rechtsbruch sich durchsetzen konnte. Desweiteren schloss die Theorie nicht aus, dass andere Faktoren als die positive bzw. negative Definition von Gesetzesverletzungen Wirtschaftskriminalität hervorbringen können. Sutherlands Arbeit ist also auch im Bereich der Ursachenforschung ein wichtiger Grundstein, der – wie mehrfach erwähnt – im Kontext seiner Zeit zu sehen ist und dennoch in bestimmten Punkten nicht an Aktualität verloren hat. Es wird insbesondere herauszufinden sein, ob der Unternehmenskontext einen bestimmten „Lernkontext“ darstellt, der letztlich eine entscheidende Rolle für die Ausbildung bestimmter krimineller Verhaltensweisen spielt.[6] Im Kontext der allgemeinen Wirtschaftskriminalität muss jedoch hier weiter überlegt werden, welche anderen Faktoren einzelne Akteure antreiben, wirtschaftskriminell zu handeln. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass der Kontext der Wirtschaft und der funktionale Zusammenhang der individuellen Handlung zu diesem System oben betont wurde, drängt sich die „Theorie der Nutzenmaximierung“ (rational choice) zur Erklärung dieses selbstbereichernden Verhaltens auf.

Anmerkungen

[1]

Sutherland/Cressey Criminology, S. 394 ff. Auch Clinard und Quinney kommen in der Auswertung empirischer Untersuchungen zur herausragenden Bedeutung des Merkmals „group support“ Vgl. Clinard/Quinney/Wildman Criminal Behavior Systems, S. 20, 213 ff.

[2]

Filser Einführung in die Kriminalsoziologie, S. 89.

[3]

Vgl. schon Rn. 104 ff.

[4]

Vgl. Middendorff Grundfragen der Wirtschaftskriminalität 1963, 59 (73) und Opp Soziologie der Wirtschaftskriminalität, S. 68 ff. m. w. N.

[5]

Vgl. hierzu Opp Soziologie der Wirtschaftskriminalität, S. 74 f.: „Gemäß dem Prinzip der differentiellen Kontakte lässt sich dies sehr wohl erklären, nämlich durch die unterschiedlich häufigen positiven und negativen Definitionen von Gesetzesverletzungen vor dem Beginn krimineller Betätigung. Es wäre also denkbar, dass ein Kaufmann, der keine Wirtschaftsdelikte während des zweiten Weltkrieges beging, insgesamt weitaus häufiger negativen Definitionen von Gesetzesverletzungen ausgesetzt war als ein anderer Kaufmann, der eine Vielzahl von Wirtschaftsdelikten beging. Allein der Tatbestand, dass in einer bestimmten Situation Personen, die mit denselben positiven und negativen Definitionen von Gesetzesverletzungen konfrontiert sind, nicht in gleichen Ausmaß kriminell werden, widerlegt nicht das Prinzip der differenziellen Kontakte.“

[6]

Vgl. hierzu Rn. 150 ff.

2. Rational Choice

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Der „Rational Choice Ansatz“[1] stellt den homo oeconomicus in seinen Mittelpunkt, also einen auf Nutzenmaximierung ausgerichteten Akteur, der sich grundsätzlich durch eine Modifikation von Anreizen beeinflussen lässt.[2] Unter Bedingungen von Knappheit strebten die Menschen – diese grundsätzlich allein an Bedürfnisbefriedigung orientiert – immer eine rationale Entscheidung zur Erlangung des größten subjektiven Nutzens an. Ausgehend von dieser Prämisse wird davon ausgegangen, dass der Mensch bei Verfolgung dieser Interessen unter Umständen gesetzeswidrig, wortbrüchig oder zum Nachteil anderer handelt, wenn er sich hiervon individuelle Vorteile verspricht. Hierbei kommt es nicht darauf an, um welche Ziele es sich handelt;[3] in diesen Situationen seien lediglich die Kosten bzw. Nutzen der Entscheidung ausschlaggebend und somit sei – im Fall der Entscheidung für die Straftat – der erwartete Nutzen einer Straftat unter Einbeziehung der „Bestrafungskosten“ größer als der Nutzen, der durch die Investition der Zeit und Ressourcen für andere Aktivitäten entstünde.[4]

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Dieser Ansatz wurde insbesondere in seiner Übertragung auf jedes menschliche Verhalten[5] kritisiert. Dabei wurde vorgebracht, dass zahlreiche Aspekte wie emotionale Präferenzen, aber auch sozialstrukturelle Besonderheiten nicht berücksichtigt würden; eine Differenzierung des Ansatzes dahingehend, dass auch diese Faktoren als „mentale“ oder „soziale“ Kosten in die Entscheidung einflössen, ließ den Ansatz schließlich tautologisch wirken, weil von vornherein kein Raum mehr für Überprüfbarkeit blieb. In Bezug auf wirtschaftskriminelles Verhalten greifen die Einwände anderweitiger Präferenzen bzw. soziostruktureller Besonderheiten weniger, weil die individuellen Entscheidungen in einem Kontext getroffen werden, der scheinbar von rationalen ökonomischen Entscheidungen geprägt wird. Doch auch hier ist kritisch zu betrachten, ob das Rationalitätspotenzial der organisierten Akteure – Unternehmen – nicht mit tatsächlicher Rationalität verwechselt wird und die Rationalitätskapazitäten der individuellen Akteure nicht überschätzt werden. Zwar könnte hier sogar die Informiertheit als Grundlage einer rationalen Entscheidung gegenüber anderen Kriminalitätsbereichen überwiegen, jedoch wird diese Annahme angesichts aktionistischer Entscheidungen mit hohem Aufdeckungsrisiko wie z. B. in den Bilanzfälschungen im Fall Enron wiederum relativiert. Die empirischen Befunde jedenfalls sprechen nur für einen „moderaten inhibierenden Effekt“[6] der Steuerung nach rational choice-Kriterien und konstatieren diesen auch vor allem im Bereich der Bagatelldelikte. Die Erklärung der Wirtschaftskriminalität bedarf jedoch einer differenzierteren Ursachenforschung, die nicht auf einer kaum überprüfbaren Rationalitätsfiktion beruht, sondern den Entscheidungskontext sowie voneinander abweichende Motivationslage und Präferenzen mit einbezieht. Im Folgenden soll nun ergänzend zu dieser „grundsätzlich [...] einfachst denkbaren Handlungstheorie“[7] auf Mertons Anomietheorie eingegangen werden, die fast 65 Jahre nach ihrer Veröffentlichung immer noch einen großen Einfluss auf die kriminologische Forschung und Theoriebildung hat.

 

Anmerkungen

[1]

Vgl. hierzu Becker The Economic Approach to Human Behavior (insbesondere part 3); Kirchgässner Homo Oeconomicus, S. 12 ff.

[2]

Die ökonomische Theorie der Kriminalität geht davon aus, dass der Straftäter ein homo oeconomicus ist, der seinen Nutzen maximieren will und rational handelt. Nach dieser Ansicht wird ein Mensch zum Straftäter, wenn der erwartete Nutzen aus der Straftat höher ist als der Nutzen aus einer legalen Tätigkeit. Der Staat müsse daher versuchen, durch Strafgesetzgebung und Strafverfolgung die Tat möglichst „teuer“ zu machen. Diese Theorie wurde maßgeblich von Gary Stanley Becker beeinflusst, der 1992 „für seine Ausdehnung der mikroökonomischen Theorie auf einen weiten Bereich menschlichen Verhaltens und menschlicher Zusammenarbeit“ den Nobelpreis erhielt. Kriminelles Handeln ist danach eine rationale, ökonomisch motivierte Entscheidung unter Unsicherheit. Notwendige Voraussetzung ist dabei ein erwartetes positives Einkommen, das vorliegt, wenn die erwarteten Erträge des Täters aus der Straftat die erwarteten anfallenden Kosten übersteigen (vgl. hierzu z. B. Borner/Schwyzer in: Korruption im internationalen Geschäftsverkehr, S. 17 (26)). Es handelt sich also um ein konsequentialistisches, auf situative Nutzenmaximierung ausgerichtetes Verhalten des Kriminellen, der als homo oeconomicus ein rationales Verhalten an den Tag legt. Er erkennt in der Situation, dass der erwartete Nutzen aus der kriminellen Handlung nicht durch ein alternatives, legales Verhalten erreicht werden kann und entscheidet sich daher für die Straftat. Ihm gegenüber steht der homo sociologicus, der nicht ausschließlich folgenorientiert handelt, sondern zusätzlich die Normbindung in seine Nutzenkalkulation integriert und sich für normgebundenes Verhalten entscheidet, wenn dies aufgrund der Nützlichkeit der Normbindung rational ist. Vgl. hierzu Prüfer Korruptionssanktionen gegen Unternehmen, S. 52 ff. m. w. N.; Schmidtchen in: Ökonomische Analyse des Unternehmensrechts, S. 31 (42); Lüderssen in: Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen, S. 25 (25).

[3]

Siehe auch Picot/Dietl in: Ökonomische Analyse des Unternehmensrechts, S. 306 (306).

[4]

Vgl. hierzu auch die Darstellung bei Boers MschrKrim 2001, 335 (347 ff.) m. w. N.

[5]

Die Konzeption von Becker The Economic Approach to Human Behavior wurde nicht nur zur Erklärung ökonomischen Handelns, sondern jeglichen menschlichen Verhaltens im Bereich Familie, Religion oder Gesundheit herangezogen.

[6]

Vgl. Boers MschrKrim 2001, 335 (348 ) m. w. N.

[7]

So Esser Soziologie, S. 135, der bezüglich des Rational Choice-Ansatzes ausführt, dass „jedem Soziologen [...] unmittelbar Argumente dafür einfallen, dass die nutzenmaximierende Selektion des Handelns eine wirklich heroische Simplifikation und Verfälschung der wirklichen Gesetze des Handelns wäre“.

3. Die Anomietheorie von Merton

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Mertons Anomietheorie[1] liefert einen Erklärungsansatz für abweichendes Verhalten im Allgemeinen. Im Mittelpunkt steht also das Handeln von Personen oder Gruppen, das nicht notwendigerweise als „gesetzeswidrig“ bezeichnet werden muss, jedoch nicht den für die Interaktionsbeziehungen in einer Gesellschaft gültigen Regeln oder Verhaltenserwartungen entspricht. Damit nähert er sich Durkheims Anomietheorie an, die auch einen Zustand der Normlosigkeit als Folge plötzlichen sozialen Wandels und dem daraus resultierenden Verlust von Verhaltenssicherheit beschrieb, der schließlich zu Orientierungslosigkeit führe.[2]Merton erweiterte den Begriff der Anomie und stellte zwei generelle Bedingungen in den Mittelpunkt seines Konzeptes, die für das Auftreten von normabweichendem Verhalten von Bedeutung sind: kulturell definierte Ziele, die der individuelle Akteur verfolgt, und legitime Normen, die die Vorstellungen der Gesellschaft zur Realisierung dieser Ziele darstellen. Besteht eine Diskrepanz zwischen kulturell definierten Zielen und den legitimen Mitteln zur Zielerreichung, wird dies als Anomie bezeichnet.[3]

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Zunächst ist hiernach also die Intensität des Zieles ein relevanter Faktor für die Entstehung von Wirtschaftskriminalität. Ein Akteur, dem viel daran gelegen ist, einen bestimmten Gewinn zu erwirtschaften, wird sich nach dieser Ansicht eher abweichend verhalten als ein Akteur, dem der wirtschaftliche Erfolg gleichgültig ist. Allerdings ist diese Zielorientierung nicht die einzige Komponente: Ebenso bedeutsam in Bezug auf das abweichende Verhalten ist die Intensität der legitimen Normen. Handelt es sich beispielsweise um den „ehrbaren Kaufmann“, dem es sehr wichtig ist, in Übereinstimmung mit Qualitätsanforderungen und den normativen Vorgaben zu leben, dann wird von einer geringeren Wahrscheinlichkeit für abweichendes Verhalten ausgegangen werden müssen. Ist allerdings die Intensität der legitimen Normen gering, hängt die Entscheidung für abweichendes Verhalten gemäß der Anomietheorie zudem davon ab, wie stark illegitime Mittel akzeptiert sind. Wird also beispielsweise die Verletzung oder Tötung eines Menschen abgelehnt, jedoch in der Schädigung des Staates durch Vorenthalten von Steuergeldern jedenfalls eine „moralische Vertretbarkeit“ gesehen, dann wird eine Steuerhinterziehung wahrscheinlicher sein. Auf den Wirtschaftskontext übertragen bedeutet dies, dass ein Akteur, der den intensiven Wunsch nach Profitsteigerung hat und die legitimen Normen in einem hohen Maße akzeptiert, jedoch illegitime Mittel auch nicht ablehnt, wirtschaftskriminell handeln wird, wenn er glaubt, seine Ziele mittels illegitimer Mittel eher erreichen zu können als auf legalem Weg.[4]

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Diese Thesen wurden erstmals von Opp empirisch überprüft und fanden sich auch in den genannten Studien bestätigt. Sie scheinen aber auch – deduktiv – aus folgender Überlegung heraus zu tragen: Im wirtschaftlichen Kontext ist die Gewinnerzielung und -maximierung eine notwendige Voraussetzung der Teilnahme und des Bestehens am Markt, sodass die Vermutung einer sehr hohen Intensität dieses Zieles naheliegt. Es wird von Akteur zu Akteur zwar unterschiedlich sein, ob daneben andere Ziele wie Mitarbeitermotivation, Produktqualität oder bestimmte Unternehmensphilosophien eine Rolle spielen, aber letztlich wird auch bei diesen Zielen unterstellt werden müssen, dass sie eine gegenüber der Gewinnerzielung untergeordnete Priorität haben, weil das „Überleben“ auf dem Markt wiederum die Voraussetzung für die Realisierung der anderen Ziele ist. Demgegenüber müsste eine Einschätzung der Intensität der legitimen Normen erfolgen können, doch dies erscheint mangels empirischer Daten unmöglich. Gleichwohl gibt es auch hier einige Eckpunkte: Bestimmte (Wirtschaftsstraf-)Tatbestände, wie die Bestechung, wurden lange als akzeptable Geschäftshandlungen gewertet; jedenfalls drängt sich dieser Eindruck angesichts der erst 1998 abgeschafften steuerlichen Absetzbarkeit von Bestechungsgeldern auf.[5] Es wird zudem in Langzeitstudien der modernen Werteforschung eine zunehmende Fragmentierung der Wertgeltung konstatiert.[6] Wertesysteme sind in der Folge nicht mehr widerspruchsfrei integriert, sodass sich der Akteur nicht mehr grundsätzlich gegen das geltende Werte- und Normensystem auflehnen muss. Werte verlieren dadurch ihre absolute Geltung und es wird lediglich ein „Wertekompromiss“ geschlossen. Hinzu kommt, dass die Perzeption der legitimen wie illegitimen Mittel im ökonomischen Kontext höher sein wird als in anderen Kriminalitätsbereichen, weil aus betriebswirtschaftlicher Sicht die Ausnutzung steuerlicher Vorteile, das Ausbauen von Wettbewerbsvorteilen und viele weitere ökonomisch sinnvolle Handlungen eine genaue Kenntnis der (noch) legalen Möglichkeiten erfordern. Und schließlich spielt die bereits erwähnte geringere Affektivität der Wirtschaftsstraftaten eine Rolle.

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Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass der Merton'scheInnovationstyp auch den in den empirischen Erhebungen beschriebenen Wirtschaftskriminellen charakterisiert, der die in der Gesellschaft verankerten kulturellen Ziele billigt und akzeptiert, sie jedoch infolge des Fehlens legitimer Mittel über illegitime Wege zu erreichen sucht. Dieses abweichende Verhalten ist nach Merton jedoch kein bloßes Ergebnis von Nützlichkeitserwägungen und rationalem Kalkül, sondern hier steht vielmehr der akute Druck im Mittelpunkt, der aus der Diskrepanz zwischen den kulturell bedingten Zielen und den sozial strukturierten Chancen entsteht. Diese Drucksituation ist insbesondere im Wirtschaftskontext leicht vorstellbar, der eine Betonung von ökonomischen Erfolgszielen bei gleichzeitiger Knappheit der Mittel aufweist. Da es sich bei den meisten Wirtschaftsdelikten zudem um „kaum sichtbare“ Rechtsgutsverletzungen handelt, ist die Wahrscheinlichkeit – unter Voraussetzung der Fixierung auf die genannten Ziele – einer Bereitschaft, entsprechende Risiken einzugehen, als hoch anzusehen. Weiterhin scheinen die legalen Mittel auf den ersten Blick weniger wirkungsvoll als illegale, wie sich am Beispiel illegaler Insider-Geschäfte leicht demonstrieren lässt. Die Anomietheorie erklärt schließlich aufgrund ihrer dynamischen Struktur auch das auf den ersten Blick nur bedingt zu erklärende strafbare Verhalten hoch dotierter Manager, die „alles haben“ und sich dennoch illegitimer Möglichkeiten bedienen. Merton stellt nämlich auf die Spannung bzw. Drucksituation zwischen beliebigen Zielen und den vorhandenen legalen Möglichkeiten ihrer Erreichung ab. Insofern kann auch auf einem Vorstandsvorsitzenden ein Anomiedruck lasten, wenn seine materiellen Ziele höher gesteckt sind.[7]