Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?

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Anmerkungen

[1]

So auch Kaiser Kriminologie, S. 841.

[2]

Heinz in: Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht in einem Europa auf dem Weg zu Demokratie und Privatisierung, S. 13 (16).

[3]

Kube in: FS f. Rolinski, S. 391 (391).

[4]

Kaiser Kriminologie, S. 859

[5]

So Dannecker in: Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 10 (8); zu den Erscheinungsformen Wirtschaftsstrafrecht-Richter 4. Aufl. § 7 m. w. N.

[6]

So der Vorschlag von Otto MschrKrim 1980, 397 (399).

[7]

Zweites Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität vom 15.5.1986, BGBl. I, S. 721.

[8]

Siehe hierzu u. a. Tiedemann Wirtschaftsstrafrecht, Rn. 40 ff.

[9]

So auch Heinz in: Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht in einem Europa auf dem Weg zu Demokratie und Privatisierung, S. 13 (19) m. w. N.

[10]

Geerds Wirtschaftsstrafrecht und Vermögensschutz, S. 12.

[11]

So auch Theile Wirtschaftskriminalität und Strafverfahren, S. 33.

[12]

Nicht explizit erläutert wird die ältere, prozessual-kriminalistische, Sichtweise, die Wirtschaftsdelikte als reine Vermögensdelikte bezeichnet, welche durch prozessuale Beweisschwierigkeiten gekennzeichnet sind. Hauptmerkmal der Wirtschaftskriminalität sei die Schwierigkeit ihrer Verfolgung und der Bezug zum Vermögen. Dies entspricht der generalklauselartigen Regelung des § 74c Abs. 1 Nr. 1–6 GVG konform und wird noch von Maurach/Schröder/Maiwald Strafrecht BT 1, § 48 vertreten.

[13]

Diese Definition lag jedenfalls dem Alternativentwurf zum Strafgesetzbuch von 1977 zugrunde, vgl. Lampe u. a. AE-StGB BT, S. 19.

[14]

Lampe u. a. AE-StGB BT, S. 19.

[15]

Vgl. hierzu noch die Arbeit von Lindemann Gibt es ein eigenes Wirtschaftsstrafrecht?

[16]

Lampe in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, S. 310 (310), der einen „inflationären Erfolg“ beklagt.

[17]

Insoweit werden intuitiv erfassbare Rechtsgüter wie „Boden, Luft und Gewässer“ genannt, die bspw. durch ökonomisch motivierte Umweltdelikte begangen werden können (vgl. z. B. Ehrhardt Unternehmensdelinquenz und Unternehmensstrafe, S. 143) bzw. an die „Freiheit des Wettbewerbs“ oder die „staatliche Finanzwirtschaft“ anknüpfen.

[18]

So nämlich Otto MschrKrim 1980, 397 (399f., 404).

[19]

Vgl. hierzu Kaiser Kriminologie, S. 856 m. w. N. Dennoch wird dem Aspekt des Vertrauensmissbrauchs aus kriminologischer Sicht Erhellendes abzugewinnen sein, weil letztlich darin der oben beschriebene Effekt der „Sog- und Spiralwirkung“ begründet liegt. Vertrauen ist das notwendige Element der meisten wirtschaftlichen Prozesse und könnte daher eine Beschreibung der Wirtschaftskriminalität als die Gesamtheit der Straftaten und Ordnungswidrigkeiten ermöglichen, die bei wirtschaftlicher Betätigung unter Missbrauch des im Wirtschaftsleben nötigen Vertrauens begangen werden und über eine individuelle Schädigung hinaus die Belange der Allgemeinheit berühren. Vgl. Dannecker in: Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 10 (Rn. 9); Heinz in Kaiser u. a. Kleines kriminologisches Wörterbuch, S. 589 f. m. w. N.

[20]

Hefendehl ZStW 2007, 816 (818).

[21]

Hinsichtlich des zweiten Aspekts der oben genannten Definition, dem Missbrauch der Instrumente des heutigen Wirtschaftslebens, ist lediglich darauf hinzuweisen, dass hiernach auch individuell nützliche („Alltags“-) Delikte, die in funktionellem Zusammenhang zum Wirtschaftssystem stehen, erfasst wären (insofern kritisch Boers MschrKrim 2001, 335 (340)). Dieser funktionelle Zusammenhang zur Wirtschaft mit individueller Tatmotivation könnte ein Unterscheidungskriterium zur Unternehmenskriminalität darstellen.

[22]

Die Schwierigkeit, eine Definition der Wirtschaftskriminalität zu formulieren, hängt letztlich fast zwangsläufig mit der lückenhaften empirischen Basis zusammen. In diesem Sinne auch der Beitrag von Boers MschrKrim 2001, 335 (335).

2. „White collar criminality“ – Die Erkenntnisse von Sutherland

104

Ihren Anfang nahm die wirtschaftskriminologische Forschung mit der Arbeit von Edwin H. Sutherland, der den Begriff „white collar crime“ 1939 in die Diskussion einführte[1] und damit den ersten Versuch unternahm, Wirtschaftskriminalität materiell zu definieren. Sutherland definierte den Begriff wie folgt: „White-collar-criminality is a crime committed by a person of respectability and high social status in the course of his occupation.“[2] Als „white collar crime“ bezeichnete er also die Straftaten, die von ehrbaren Personen mit hohem Ansehen und sozialem Status im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit begangen wurden.[3] Übereinstimmend als revolutionär für die damalige Zeit anerkannt und fast ebenso übereinstimmend für die gegenwärtige wirtschaftskriminologische Forschung als zu personenbezogen oder von Gesellschaftskritik durchdrungen abgeschrieben,[4] wird diesem Ansatz hier erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Zum einen gerade weil er täterbezogen ist und die Unternehmen nicht schon a priori auf die Seite der Opfer oder Geschädigten stellt, zum anderen weil er von erstaunlicher Aktualität ist: So wendet sich das Strafrecht des Ursprungsland der Corporate Liability mittlerweile zunehmend gegen herausragende Individuen, deren Bestrafung – wie in den Zusammenbrüchen Enrons oder Worldcoms – eine stärkere Außenwirkung verspricht als die Belangung von in der Auflösung begriffenen Unternehmen. Und schließlich weil er die Aspekte vertieft, die in den empirischen Untersuchungen beobachtet wurden: den Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen[5] und die Schnittstelle zwischen Unternehmen und Politik.[6]

Anmerkungen

[1]

Wabnitz/Janowsky Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 16.

[2]

Sutherland/Cressey Criminology, S. 40; Meier Kriminologie, S. 287; Kaiser Kriminologie, S. 839 ff. u. a.

[3]

Sutherland hatte den Begriff „white collar crime“ als Antithese zu der „Autobiographie of a white collar worker“ eines Managers gewählt, in welcher eine bewusste Angleichung des Generaldirektors mit dem „kleinen Mann“ und dessen guten Seiten beabsichtigt war; vgl. Sutherland White Collar Crime – The uncut version, S. 9. Sutherland übernahm dieses Bild, um zu demonstrieren, dass – wenn schon – dann auch eine Angleichung mit den Schattenseiten des „kleinen Mannes“ vollzogen werden müsse und eben jener „business manager and executive“ nicht nur ein „worker“, sondern ebenso wie der „kleine Mann“ ein „criminal“ sein kann; siehe hierzu ausführlich Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (81).

[4]

Vgl. Tappan American Sociological Review 1947, 96 (96 ff.); Clinard/Yeager Corporate Crime, S. 13 (die es jedoch auf die Zeit nachSutherland beschränken); Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (96); Boers/Nelles/Theile Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, S. 19 und Kunz in: FS f. Schmid, S. 87 (94 ff.) m. w. N.

[5]

Dieser Aspekt interessiert zunehmend die aktuelle Kriminologie. Vgl. jüngst die Studie Schneider/John/Hoffmann Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen.

 

[6]

Vgl. bezüglich der Relevanz für die UnternehmenskriminalitätBoers/Nelles/Theile Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, S. 651 ff.

a) Eine Straftat …

105

Zunächst nur um den Nachweis von Wirtschaftskriminalität bemüht, betrachtete Sutherland das Merkmal der „Straftat“ von Anfang an kritisch. Ob eine Verletzung von Strafgesetzen zu bejahen sei, könne jedenfalls nicht das ausschlaggebende Merkmal sein; das Kriterium einer Verurteilung durch ein Strafgericht als einzigem Kriterium zur Bejahung dieser Verletzung wies er jedenfalls entschieden mit dem Argument zurück, dass „eine große Zahl derjenigen, die Verbrechen begehen, nicht vom Gericht verurteilt werden“.[1] Er forderte die Einbeziehung der Informationen anderer Stellen (z. B. Verwaltungsstellen, öffentliche Stellen oder Kommissionen), welche die von ihm beispielhaft aufgezählten „Unehrenhaftigkeiten“ immer wieder feststellten, jedoch eine Anklage vor Gericht nicht erwirken konnten und somit von den Kriminologen nicht erfasst wurden.[2] Weiter wollte Sutherland auch Verurteilungen, die nicht durch den Strafrichter erfolgten, sondern – weil die Kläger (wie in Wirtschaftsprozessen durchaus üblich) mehr an Entschädigungen als an Verurteilungen interessiert waren – ebenfalls als in Frage kommende „Straf“taten in Betracht ziehen. Voraussetzung sollte bleiben, dass verlässliche Beweise vorliegen. Als dritte Ergänzung zu dem sonst alleinigen Kriterium der Verurteilung durch den Strafrichter wurde die Einbeziehung solcher Verurteilungen gefordert, die nur aufgrund äußeren Drucks verhindert wurden. Nach Sutherlands Auffassung waren die Gerichte aufgrund der „positiven Voreingenommenheit“ gegen die Klasse der white collar-Verbrecher und ihrer gesellschaftlichen Macht an der Einhaltung der Gesetze gehindert. Schließlich sei bei dieser Vorgehensweise der gesamte Täterkreis zu berücksichtigen, d. h. beispielsweise nicht nur derjenige, der Bestechungsgelder annahm, sondern auch all jene, die durch ihr „heimliches Einverständnis“[3] einen Verwirklichungsbeitrag leisteten, sollten ebenfalls in die Betrachtungen einbezogen werden. Damit wehrte sich Sutherland v. a. gegen ein starres juristisches Verständnis von Kriminalität und bezog soziologische und sogar alltagssprachliche Parameter mit ein.

106

Interessant an diesen sehr frühen Beobachtungen ist, dass Sutherland intuitiv auch den strukturellen Kontext des Wirtschaftssystems in seine Überlegungen einbezogen zu haben scheint, in dem er Wirtschaftsdevianz – Verhaltensweisen also, die schon als unethisch, jedoch noch nicht als illegal bezeichnet werden können in ihrer Kumulation bestimmte Straftaten hervorbringen oder unterstützen können – thematisierte. Seine Kritik an dem „starren juristischen Verständnis“ von Kriminalität bezog sich – hinsichtlich des Merkmals „Straftat“ – also einerseits auf die privilegierte Stellung der white collar-Kriminellen und andererseits auf das „Grau wirtschaftlicher Grenzmoral“[4], wobei er die Kriminalisierung von Verhaltensweisen an der Grenze zwischen Kriminalität und Geschäftstüchtigkeit erwog. Seine Denkanstöße wurden teilweise durch die Kriminalsoziologie[5] aufgenommen, deren Kriminalitätsbegriff umfassender ist und auch noch nicht strafbares, aber durchaus strafwürdiges Verhalten in den Gegenstandsbereich kriminalsoziologischer Forschung einbezieht.[6] Dieser Betrachtungsweise schloss sich auch Terstegen an, welcher die Erforschung der „white collar-Delikte“ in Deutschland als erster aufnahm. Anknüpfungspunkt für Terstegens Untersuchungen waren ebenfalls nur grob skizzierte Fälle wie z. B. aus der Wirtschaft (Normallese wird als Spätlese verkauft), aus der Rüstungsindustrie (Investitionen in Waffengeschäft werden als Entwicklungskosten deklariert) oder aus sonstigen Bereichen (Ärzte führen unnötige Operationen aus oder stellen nicht durchgeführte Operationen den Kassen in Rechnung; Lehrer geben ihren Schülern schlechte Noten und erschwindeln sich so Nachhilfestunden).[7]

107

Mit diesen „einfachen“ Fällen lenkte Terstegen den Blick der Strafrechtler auf den Mangel einer durchgängigen strafrechtlichen Zuordnung dieser Tatbestände und warf gleichzeitig die Frage auf, ob gerade im Bereich der Wirtschaftskriminalität eine Beschränkung auf bereits unter Strafe gestellte Sachverhalte sinnvoll ist.[8] Für letztere Ansicht konnte zwar sprechen, dass die Strafverfolgungsorgane nur tatbestandsmäßige Sachverhalte verfolgen dürfen und auch nur so die im GG verbürgten Rechte der Bürger respektiert werden konnten. Auch schien es ihm unvernünftig, sich in allgemeineren kriminologischen Betrachtungen von der Lebenswirklichkeit, dem Wortlaut der Gesetze und der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu entfernen. Allerdings konnte dies, laut Terstegen, nur gelten, wenn anzunehmen war, dass die Organe der Rechtspflege in Kenntnis der Sach- und Rechtslage handelten. Nach Terstegens Ansicht konnten diese Beschränkungen jedoch nicht für vorliegende Fälle gelten, in denen es um strafwürdige, aber noch nicht strafbare Sachverhalte geht.[9] Hier müsste auf die existierenden Lücken aufmerksam gemacht werden, die er zuvörderst in der damaligen Konzeption des Betrugstatbestands sah.[10] Die Ursache der Fehlerhaftigkeit lag für ihn darin, dass die „Wirklichkeit betrügerischen Verhaltens“ nicht genau genug untersucht wurde, also nicht alles strafwürdige Verhalten unter Strafe gestellt war, „und zwar in einer Weise, die es erlaubt, auch den Schlauen forensisch zu erfassen“.[11]Konsequenz für die Wirtschaftskriminalität im Allgemeinen, welche dogmatisch noch schwieriger zu erfassen ist, sei deshalb, die Grenze nicht zwischen „strafbar“ und „straflos“ verlaufen zu lassen, sondern vielmehr zwischen „sozialwidrig“ und „sozialadäquat“.[12]

Anmerkungen

[1]

Sutherland in: Kriminalsoziologie, S. 187 (192 ff.).

[2]

Sutherland führte hier das Beispiel die Publikation von „Hearst“ an, die der Öffentlichkeit vorspiegelte, alle mit einem Siegel versehen Produkte seien in ihren Laboratorien geprüft worden, was den Tatsachen nicht entsprach.

[3]

Sutherland in: Kriminalsoziologie, S. 187 (195).

[4]

Jung Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität als Prüfstein des Strafrechtssystems, S. 24.

[5]

Vgl. diesbezüglich Opp Abweichendes Verhalten und Gesellschaftsstruktur, S. 9 ff.; Jung Kriminalsoziologie, S. 13; Kaiser Kriminologie, S. 317 ff.

[6]

Die von Sutherland gegebenen Impulse, sich dem Phänomen der Delinquenz der „oberen Schichten“ zu nähern, wurden im deutschsprachigen Raum mit 30 Jahren Verspätung aufgenommen und unter anderem von Otto Terstegen weiterentwickelt. Eine Ursache für die erst späte Auseinandersetzung der deutschen Kriminologen mit dem Phänomen lag darin, dass einer der wichtigsten Fälle der white collar-Kriminalität, nämlich der Missbrauch des Aktienwesens, sich im Nachkriegsdeutschland kaum entwickeln konnte. Andere „white collar-Delikte“ wie beispielsweise die Steuerhinterziehung, Preisabsprachen bei öffentlichen Aufträgen und Beamtenbestechung wurden nicht mit gebührender Aufmerksamkeit untersucht, sodass die Untersuchungen Terstegens nach seiner eigenen Ansicht aufgrund der ungenauen Kenntnis der Lebenswirklichkeit „verurteilt waren im Normativen oder Doktrinären stecken zu bleiben“; vgl. Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (86).

[7]

Siehe zu den Fällen Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (88 ff.).

[8]

Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (87).

[9]

Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (88).

[10]

Siehe hierzu ausführlich Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (88 ff.) oder Terstegen/Zirpins Wirtschaftskriminalität, S. 27 ff.

[11]

Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (89).

[12]

Die Untersuchung der white collar-Kriminalität muss nach Ansicht Terstegens also alle Handlungen umfassen, die für eine Gesellschaft unerträglich sind. Diese Notwendigkeit, sich auch mit dem noch nicht strafbar gestellten Verhalten zu befassen, ergibt sich für die white collar-Kriminalität auch deshalb, weil es hier Hauptbestreben des Täters ist, bei der sozialwidrigen Bereicherung einen Konflikt mit dem Wortlaut des Gesetzes zu vermeiden, oder doch in dem grauen Bereich zu bleiben, in dem Grenzüberschreitungen nicht nachweisbar sind. Vgl. Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (89 f.).

b) … die von ehrbaren Personen mit hohem Ansehen und sozialem Status …

108

An dem in der Überschrift genannten Kriterium demonstrierte Sutherland die Unrichtigkeit der Kriminalitätstheorien seiner Zeit, die Kriminalität auf psychopathische Umstände zurückführten, die in der Armut wurzeln und somit Kriminalität den unteren sozio-kulturellen Schichten zuweisen. Die für die damalige Kriminologie neuartige Tatsache, dass auch Geschäftsmänner mit solidem, familiärem und intellektuellem Hintergrund in signifikantem Maße kriminell wurden, unterstützte Sutherlands „These der differentiellen Kontakte“ als Erklärung von Kriminalität im Allgemeinen. „Sie sind Männer von Bedeutung, Erfahrung, Bildung und Kultur, von gutem Ruf und Stand in der Wirtschaft und im öffentlichen Leben.“[1] Mit geringen Ausnahmen seien also die white collar-Täter „nicht arm, wurden nicht in Slums oder entwurzelten Familien geboren und seien nicht schwachsinnig oder psychopathisch“. Somit sei die bloße Behauptung der Kriminologen seiner Zeit, der „Kriminelle von heute sei das Problemkind von gestern“, selten zutreffend.[2] In diesem Zusammenhang ging er auch auf Unternehmen ein, die er damals selbstverständlich in seine Überlegungen bezüglich der Wirtschaftskriminalität miteinbezog und kritisierte an ihrem Beispiel freudistische Deutungsversuche: „Wir haben keinen Grund anzunehmen, dass General Motors einen Minderwertigkeitskomplex hat oder dass die Aluminium Company of America einen Frustrations-Aggressions-Komplex hat, dass US-Steel einen Ödipuskomplex hat oder dass die Armour Company einen Todestrieb besitzt oder dass DuPont in den Mutterschoß zurückzukehren wünscht.“[3] Nach Sutherlands Ansicht wurde eine Person vielmehr infolge eines Überwiegens von Normverletzungen befürwortenden Einstellungen über jene, die Gesetzesverletzungen negativ beurteilen, delinquent. Ein Übergewicht an Kontakten mit abweichenden Verhaltensmustern führt danach also Gesetzesverletzungen herbei. Entscheidend sind bestimmte Einstellungen/Motive, die aufgrund bestimmter Kontakte (konform/non-konform) entstehen. Überwiegend non-konforme Kontakte führen zu entsprechenden Einstellungen der Person, was wiederum ein konkretes Handeln (Gesetzesverletzungen) nach sich zieht. Dies allerdings sei kein Phänomen, das ausschließlich in den „unteren Gesellschaftsschichten“ zu finden ist. Wirtschaftsverbrechen würden erlernt, so wie andere Verbrechen auch. Und dies in Interaktion mit denen, die in der Wirtschaft bereits kriminelles Handeln praktizieren.[4]

 

Anmerkungen

[1]

So ein provokanter Ausspruch Sutherlands; Sack/König Kriminalsoziologie, S. 195 ff.

[2]

Sutherland führte Kriminalität in dieser These (zu dieser These siehe Filser Einführung in die Kriminalsoziologie, S. 88) auf einen „Kulturkonflikt“ zwischen Recht und Verbrechen zurück. Nach seiner Ansicht ist Kriminalität nicht nur auf eine in der Natur des Täters angelegten Fehlfunktion oder ein in der Vergangenheit erlittenes Trauma oder Komplex zurückzuführen, sondern kriminelles Verhalten ist erlerntes Verhalten, welches in Interaktion mit anderen Personen erfahren wird; Filser Einführung in die Kriminalsoziologie, S. 88.

[3]

Filser Einführung in die Kriminalsoziologie, S. 294.

[4]

Filser Einführung in die Kriminalsoziologie, S. 89.