Unternehmenskriminalität ohne Strafrecht?

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Anmerkungen

[1]

Die Ausnahme bildet das Forschungsprojekt Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe; zur kritischen Würdigung dieser Ergebnisse vgl. unten Rn. 95.

[2]

Vgl. auch Bussmann/Nestler/Salvenmoser Wirtschaftskriminalität 2007 – Sicherheitslage der deutschen Wirtschaft, S. 12 ff.

[3]

Vgl. hierzu Boers MschrKrim 2001, 335 (336) m. w. N., der von großen Rücklaufquoten und auswertbaren Ergebnissen von unter 25% spricht.

[4]

KPMG Wirtschaftskriminalität in Deutschland 2010, S. 28; Bussmann/Nestler/Salvenmoser Wirtschaftskriminalität 2009, S. 61 ff.

[5]

2007 waren es in der PwC-Studie noch 4%; Bussmann/Nestler/Salvenmoser Wirtschaftskriminalität 2007 – Sicherheitslage der deutschen Wirtschaft, S. 58.

[6]

PwC gibt über die Auswahlkriterien der Befragten keine Auskunft.

[7]

Vgl. zu dieser empirischen Methode beispielsweise Klauer in: Pädagogische Psychologie. Ein Lehrbuch, S. 75 (75 ff.).

[8]

So auch Bock Kriminologie, S. 388.

[9]

So beispielsweise Heinz in: Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht in einem Europa auf dem Weg zu Demokratie und Privatisierung, S. 13 (23 ff.).

[10]

Siehe hierzu u. a. Bundeskriminalamt Das Bundeslagebild der Wirtschaftskriminalität, S. 18 ff.; Heinz in: Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht in einem Europa auf dem Weg zu Demokratie und Privatisierung, S. 13 (27).

[11]

Terstegen/Zirpins Wirtschaftskriminalität, S. 32 ff.; Opp Soziologie der Wirtschaftskriminalität, S. 96 ff.; Dannecker in: Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 10 (Rn. 17).

[12]

Terstegen jedenfalls ging davon aus und führte hierzu aus: „Wenn A den B ermordet, wird dieser Umstand nicht bewirken, dass auch die übrigen Rechtsgenossen sich gegenseitig umbringen. Ebenso wie hier wird es bei den meisten klassischen Delikten an einer rechten Beispielwirkung fehlen; sie stecken nicht an. Aber die hier gemeinten wirtschaftlichen Straftaten stecken nicht nur an, sie entfalten vielmehr eine ausgesprochene „Sogwirkung“. Terstegen/Zirpins Wirtschaftskriminalität, S. 32.

[13]

So nämlich müsste der Begriff „Sogwirkung“ verstanden werden; siehe hierzu Opp Soziologie der Wirtschaftskriminalität, S. 96 ff.

[14]

Der „Innovationstyp“ Mertons (vgl. Merton in: Kriminalsoziologie, S. 283 (289)) könnte den Wirtschaftskriminellen mitunter treffend charakterisieren. Ihm sind kulturelle Ziele wie z. B. Erfolg, Wohlstand, Prestige sehr bedeutsam und gleichzeitig lehnt er aber legitime Mittel zur Erreichung der Ziele ab, entweder weil er keinen Zugang zu den legitimen Mitteln hat oder weil er die institutionalisierten Mittel grundsätzlich ablehnt.

[15]

Opp führt beispielsweise aus, dass ein Metzger, der seinem Fleisch Nitrit beimischt, nur dann eine Sogwirkung auslösen wird, wenn er diese Tatsache und die davon ausgehenden gesundheitlichen Gefahren nicht „gut leserlich in seinem Schaufenster“ bekannt machen müsse. Vor allem die Eliminierung legitimer Möglichkeiten zur Realisierung der Ziele der Konkurrenten sei der entscheidende Faktor und nicht die wenig negativ bewertete Entscheidung für die illegalen Mittel. Opp Soziologie der Wirtschaftskriminalität, S. 99 f.

[16]

Auf dieser Methode basiert die Studie von KPMG. Vgl. auch Rn. 87. Die PwC-Studie hingegen ging diesbezüglich bisher nur auf Investitionshemmnisse von Unternehmen ein, die im Zusammenhang mit Wirtschaftskriminalität entstehen können. Bussmann/Nestler/Salvenmoser Wirtschaftskriminalität 2007 – Sicherheitslage der deutschen Wirtschaft, S. 27 ff.

[17]

Vgl. Dannecker in: Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 10 (Rn. 20) sowie schon früher BMI/BMJ 1. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 135.

[18]

Es handelt sich also um den Staat, Unternehmen oder soziale Einrichtungen; siehe hierzu schon oben Rn. 65.

[19]

Siehe zu diesem Begriff Kaiser Kriminologie, S. 840 m. w. N.

[20]

Siehe hierzu schon Terstegen, der auf die Gleichgültigkeit dem Bankier gegenüber, der hunderte kleiner Sparer schädigt, hinwies; Terstegen Strafrechtspflege und Strafrechtsreform (BKA Vortragsreihe, Arbeitstagung im BKA Wiesbaden) 1961, 81 (104).

[21]

Zu denken wäre hier insbesondere an die Kausalitätsprobleme im Zusammenhang mit der Produktsicherheit. Vor dem Hintergrund der aktuellen Gammelfleischskandale musste festgestellt werden, dass gesundheitliche Symptome, wie Durchfälle oder Allergien, die aus dem Konsum dieses Fleisches resultieren konnten, gerade deshalb nicht zur Anzeige führten, weil sie auf eine Vielzahl anderer Ursachen rückführbar sein konnten. Die Opfer, die also bei ihren Beschwerden nicht unbedingt an das mit Dioxinen belastete Schnitzel denken, werden folglich nicht als Opfer sichtbar werden.

[22]

Siehe insbesondere zu der Frage der Opfereigenschaft von Unternehmen KPMG Studie 2006 zur Wirtschaftskriminalität in Deutschland; AKUS Kriminalitätsbarometer Berlin-Brandenburg; Nestler/Salvenmoser/Bussman Wirtschaftskriminalität 2005 – Internationale und deutsche Ergebnisse.

[23]

Nämlich, dass es sich um überwiegend erwachsene Männer in der Altersgruppe um 40 Jahre handelt, verheiratet, mit guter Ausbildung, selbstständig oder Inhaber von Repräsentations- und Führungspositionen in Unternehmen.

[24]

2009 erschien die Studie Schneider/John/Hoffmann Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, welche Idealtypen der Wirtschaftsstraftäter herausarbeitet. Auf Grundlage des sogenannten Leipziger Verlaufsmodells werden die Tätertypen in ihren sozialen Bezügen dargestellt und Rückschlüsse auf die Tatmotivation formuliert. Dieser, an die Tätertypenlehre erinnernde, Ansatz basiert auf 21 Verfahren mit 37 Angeklagten vor den Berliner Wirtschaftskammern sowie auf 9 Fällen aus forensischen Ermittlungen in von Wirtschaftskriminalität betroffenen Unternehmen mit 13 ermittelten Tätern; vgl. Schneider/John/Hoffmann Der Wirtschaftsstraftäter in seinen sozialen Bezügen, S. 6 f. Insofern kann kaum von einer repräsentativen Studie gesprochen werden. Die gleichwohl interessanten Forschungsergebnisse werden jedoch in der folgenden kriminologischen Analyse berücksichtigt.

[25]

Siehe hierzu Bock Kriminologie, S. 385; Schlegel u. a. Wirtschaftskriminalität und Werte, S. 31 ff.

[26]

Bock Kriminologie, S. 386.

[27]

Vgl. hierzu Rn. 675 ff.

[28]

Aus diesem Grunde werden Wirtschaftsstraftaten auch als „special opprtunity crimes“ bezeichnet; siehe hierzu Heinz in: Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht in einem Europa auf dem Weg zu Demokratie und Privatisierung, S. 13 (27); Schwind Kriminologie, § 21 Rn. 22.

[29]

Vgl. hierzu beispielsweise Die Zeit vom 19.6.2008: Geschmiert, gelocht, abgelegt, wo auch die Diskrepanz zwischen einem umfassenden gesellschaftlichen Diskurs über Bestechung als Mittel zur Auftragserlangung und der steuerlichen Absetzbarkeit ebenjener Geschäftshandlungen bis 1998 eingegangen wird.

 

[30]

Siehe hierzu Bussmann MschrKrim 2003, 89 (96) und Bottke, der sogar so weit geht, Wirtschaftskriminalität als delinquentes Handeln von Personen zu interpretieren, die in güterproduzierenden, güterverteilenden oder sonstigen Dienste leistenden Wirtschaftseinheiten leitende oder sonst kriminelle Devianz ermöglichende Positionen innehaben bzw. in Anlehnung an § 74c I Nr. 6 GVG solche Unrechtsakte begehen, zu deren Aufklärung „besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens“ erforderlich sind; Bottke in: Deutsche Wiedervereinigung, S. 73 (74).

[31]

So ist im Kontext der Korruptionsbekämpfung die berühmte „Einladung zu einem Essen“ als strafrechtlich relevant erwogen worden, gehörte sie doch früher selbstverständlich zur Pflege „guter Geschäftsbeziehungen“. Vgl. zu den Überlegungen, ein generelles Geschenkverbot zu statuieren bzw. genaue Wertgrenzen zu formulieren: Dölling Korruptionsprävention, Rn. 56 ff. sowie grundsätzlich zu der Korruptionsprävention Bannenberg Korruption, S. 446 ff.

[32]

So zu Recht Jung Die Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität als Prüfstein des Strafrechtssystems, S. 24.

[33]

So Poerting in: Wirtschaftskriminalität, S. 9 (25) oder Bock Kriminologie, S. 389.

[34]

Kaiser Kriminologie, S. 423.

[35]

Während der Unterweltverbrecher direkt oder mit Gewalt vorgeht, z. B. sein Opfer überfällt und ihm die Brieftasche wegnimmt, arbeiten die white collar-Täter indirekt am liebsten, also so, dass der Geschädigte ihnen den angestrebten Vorteil ohne Aufhebens in einer normalen Geschäftshandlung übergibt (Vgl. Schneider Handwörterbuch der Kriminologie, S. 659 ff.; Terstegen/Zirpins Wirtschaftskriminalität, S. 79).

[36]

Dannecker in: Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 10 (Rn. 23).

[37]

Boers/Nelles/Theile Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe, S. 17.

[38]

Auch bezüglich des Forschungsprojekts Wirtschaftskriminalität und die Privatisierung der DDR-Betriebe wird eingeräumt, dass die Betrachtung der Unternehmen nur „fragmentarisch“ blieb und nur unvollständige Schlüsse gezogen werden können. Vgl. Karliczek Strukturelle Bedingungen von Wirtschaftskriminalität, S. 165.

[39]

Der Eindruck, ein Unternehmen könne eine Art Enklave darstellen, in dem die individuelle Straftatbegehung aus irgendwelchen Gründen erleichtert wird bzw. in verstärktem Maße folgenlos bleibt, wird auch dadurch gefestigt, dass in der Regel lediglich zwei von drei Straftaten in deutschen Unternehmen zur Anzeige gebracht werden; in Korruptionsfällen sogar nur 50% der Straftaten. Diese Tendenz gilt – wie gesehen – in besonderem Maße für die Führungsebene, die in jedem fünften Fall sowohl von externen als auch von internen Sanktionen verschont blieb. Vgl. insofern die internationale PwC-Studie unter Berufung auf die Angaben von 23% der befragten Unternehmen. Es wird dort ausgeführt: „Kriminelle Handlungen des mittleren Managements und anderer Beschäftigter blieben demgegenüber nur in 5% bzw. 3% der Fälle für den Täter folgenlos.“ Bussmann/Nestler/Salvenmoser Wirtschaftskriminalität 2007 – Sicherheitslage der deutschen Wirtschaft, S. 4 f.

[40]

Vgl. hierzu die kriminologischen Überlegungen ab Rn. 98.

[41]

Zuletzt eindrucksvoll im „Fall Siemens“ mit der Entscheidung BGHSt 52, 323–348 zur Untreuestrafbarkeit bei Bildung schwarzer Kassen.

[42]

„Unabhängig von der Position des Täters im Unternehmen überwiegen individuelle Gründe bei der Erklärung von Wirtschaftskriminalität, unzureichende Kontrollen reihen sich in ihrer Bedeutung erst dahinter ein. Dies bedeutet, dass jedes noch so perfekte Kontrollsystem am Ende scheitern muss, wenn der Faktor „Mensch“ nicht einbezogen wird. Dies gilt insbesondere für das Management. Für diese Gruppe wurden am häufigsten menschliche Schwächen als Tatgrund genannt.“ Bussmann/Nestler/Salvenmoser Wirtschaftskriminalität 2007 – Sicherheitslage der deutschen Wirtschaft, S. 40.

[43]

So etwa Boers MschrKrim 2001, 335 (336) m. w. N.

[44]

Boers MschrKrim 2001, 335 (338) m. w. N.

[45]

Vgl. oben Rn. 55.

[46]

Hiernach ist eine Wirtschaftsstraftat zu bejahen, wenn sie zum einen in den Zuständigkeitsbereich der Wirtschaftsstrafkammer nach § 74c I Nr. 1–6 GVG fällt und zum anderen im Rahmen tatsächlicher oder vorgetäuschter wirtschaftlicher Betätigung begangen wird und über eine Schädigung des Einzelnen hinaus das Wirtschaftsleben beeinträchtigen oder die Allgemeinheit schädigen kann; als zusätzliches Kriterium dient, dass ihre Aufklärung – wahlweise oder kumulativ – besondere kaufmännische Kenntnisse erfordert.

[47]

BMI/BMJ 2. Periodischer Sicherheitsbericht, S. 218.

[48]

Vgl. Poerting in: Wirtschaftskriminalität, S. 9 (13 ff.).

[49]

Anhand welcher Kriterien, zum Beispiel, soll festgestellt werden, ob Delikte „über eine Schädigung des Einzelnen hinaus das Wirtschaftsleben beeinträchtigen oder die Allgemeinheit schädigen“ können? Ab wann handelt es sich um einen Betrug, der „besondere kaufmännische Kenntnisse erfordert“? Die subjektiven Wertungen, die in der Zuordnungsarbeit der Ermittelnden mit einfließen, führen also zwangsläufig zu verzerrten Ergebnissen, die wiederum die einzige empirische Basis eines an sich diffusen Kriminalitätsfeldes darstellen.

Teil 1 Interdisziplinäre Grundlagen der Unternehmenskriminalität › C › II. Begriffsbildung Wirtschaftskriminalität

II. Begriffsbildung Wirtschaftskriminalität

98

Eine allgemeingültige, auf alle Aspekte der „verwirrend bunten Palette Wirtschaftskriminalität“[1] übertragbare Definition, kann nicht Gegenstand vorliegender Arbeit sein, vielmehr geht es in diesem Abschnitt darum, einen Eindruck der unterschiedlichen Sichtweisen auf den Begriff „Wirtschaftskriminalität“ zu gewinnen und einen Einblick in die terminologischen Probleme zu geben.[2] Obgleich einige empirischen Befunde als gefestigt gelten können,[3] zeigen die in unterschiedlichste Richtungen tendierenden Ansätze, dass eine derart heterogene Deliktsgruppe kaum unter die richtige Definition zu subsumieren ist. Einigen Ansätzen liegt eine sozialkritische Motivation zugrunde,[4] anderen antikapitalistischen Ressentiments[5] und wieder anderen ging es darum, ein neues – einzigartig heterogenes – Feld an Kriminalität in die bereits existierenden kriminologischen und strafrechtlichen Kategorien einzuordnen.[6] Es sollen also im Folgenden diese tat- und täterorientierten Sichtweisen kurz erläutert und auf ihre Relevanz für die Unternehmenskriminalität hin überprüft werden, um sich vielleicht anschließend zu vergegenwärtigen, dass dem Begriff „Wirtschaftskriminalität“ möglicherweise nur die Bedeutung eines Arbeitstitels[7] zukommen kann, der immer wieder auf neue Gegebenheiten angepasst, mit neuen deliktischen Erscheinungsformen aufgefüllt werden muss und nur dem Zweck der Sozialkontrolle auf dem Gebiet des Wirtschaftslebens dienen kann.[8]

Anmerkungen

[1]

Kaiser Kriminologie, S. 856.

[2]

Einen Überblick über die Fülle der Definitionsansätze gibt Liebl Kriminologisches Bulletin 1982, 21.

[3]

Vgl. Rn. 41 ff.

[4]

Sutherland in: Kriminalsoziologie S. 187.

[5]

Darauf weisen Bock Kriminologie, S. 384 und Dannecker in: Handbuch des Wirtschafts- und Steuerstrafrecht, S. 10 (Rn. 3) hin.

[6]

So z. B. Maurach/Schröder/Maiwald Strafrecht BT 1, § 48; H. SchultzAllgemeine Aspekte der Wirtschaftskriminalität, Zürich 1970/1971, S. 12 ff., 23.

[7]

So der Vorschlag von Poerting in: Wirtschaftskriminalität, S. 9 (12).

[8]

So Berckhauer in: Fälle zum Wahlfach Kriminologie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug, S. 136 (136 ff.).

1. Aktuelle Definitionskonzepte

99

Auf der Suche nach dem „heutigen“ oder „herrschenden“ Begriffsverständnis fällt auf, dass Beschreibungen bestimmter Wirtschaftsdelikte oder sehr an das Verständnis des Wirtschaftsstrafrechts angelehnte Definitionsvorschläge überwiegen.[1] Dies ist insofern problematisch, als das Wirtschaftsstrafrecht früher den Teil des Strafrechts darstellte, der den Schutz des Wirtschaftsverwaltungsrechts zum Gegenstand hatte. Heute jedoch sind auch der Schutz der Finanzwirtschaft, des Wettbewerbs, des Zahlungsverkehrs, der betrieblichen Leistungserstellung, der Arbeit und der Allgemeinheit bzw. des Verbrauchers mit erfasst.[2] Diese Ausweitung der Schutzgüter des Wirtschaftsstrafrechts führt entsprechend auch zu einem weitgefassten Begriff der Wirtschaftskriminalität, sodass die naheliegende – wenn auch rechtsgutsbezogene und daher materiell wenig geeignete[3] – Begriffsbestimmung des aktuellen Wirtschaftsstrafrechts die am umfassenden Katalog von Straftaten des § 74c GVG orientierte ist. Hiernach ist eine Wirtschaftsstraftat zu bejahen, wenn sie in den Zuständigkeitsbereich der Wirtschaftsstrafkammer nach § 74c Abs. 1 Nr. 1–6 GVG fällt. Bei einigen der aufgeführten Straftatbestände, wie z. B. Vergehen nach dem Bank-, Depot- oder Börsengesetz, wird die Qualität eines Wirtschaftsdelikts unwiderlegbar vermutet. Bei anderen wiederum (z. B. Betrug oder Untreue) wird sie nur angenommen, „soweit zur Beurteilung des Falles besondere Kenntnisse des Wirtschaftslebens erforderlich sind“ (§ 74c Abs. 1 Nr. 6 GVG). Diese auf die Bedürfnisse der Praxis zugeschnittene Regelung ist zwar keine Legaldefinition, stellt jedoch wenigstens eine organisatorische Zuweisung[4] dar, die den Vorteil einer ersten Abgrenzung zur übrigen Kriminalität bietet und dabei das breite Deliktsspektrum der Wirtschaftskriminalität mit Straftaten wie der Steuerhinterziehung, Insolvenzdelikten, Kartellabsprachen, Waffenschiebereien oder Zollstraftaten erfasst.[5] Positiv an dieser Konzeption ist auch, dass sie die Bildung von Schwerpunktstaatsanwaltschaften erlaubte und eine uferlose Ausdehnung der Wirtschaftsdelikte als „allen sozialschädlichen Verhaltensweisen, die das Vertrauen in die geltende Wirtschaftsordnung gefährden“,[6] verhinderte.

 

100

Kritisch anzumerken ist aber, dass nicht alle durch das 2. WiKG[7] eingeführten Straftatbestände erfasst sind. Eine Begrenzung des Begriffs nur auf diesen Deliktskatalog scheint also aufgrund dessen einerseits zu eng, wenn man bedenkt, dass neben dem Schutz des Wettbewerbs in § 298 StGB und dem Schutz des Weltfriedens durch das in § 74c Abs. 1 Nr. 3 GVG erfasste Außenwirtschaftsgesetz eindeutig wirtschaftskriminelle Tatbestände – ohne unmittelbaren Vermögensbezug – nicht erfasst wären.[8] Andererseits ist eine Definition in diesem Sinne auch insofern zu weit gefasst, als sie die sehr allgemeinen Tatbestände des Betruges, der Untreue, des Wuchers, der Vorteilsgewährung und der Bestechung mit einbezieht,[9] die freilich nicht auf den Bereich des Wirtschaftsstrafrechts beschränkt bleiben; die in § 74c Abs. 1 Nr. 6 GVG vorgenommene Eingrenzung auf die für die Beurteilung des Falles erforderlichen „besonderen Kenntnisse“ hilft für eine materielle Definition nicht wirklich weiter, denn wenn der ermittelnden Person solche Kenntnisse fehlen, wird sie regelmäßig nicht einmal die strafrechtliche Relevanz bestimmter Verhaltensweisen erkennen.[10] Dieses kriminaltaktische Begriffsverständnis, das sich auf einen Verweis auf die durch den Gesetzgeber pönalisierten Handlungsweisen begrenzt, ist als Grundlage der weiteren Überlegungen also wenig geeignet; aufgrund der schwammigen Konturen und zudem, weil dieser Ansatz von keinem spezifischen Erkenntnisinteresse geleitet ist, sondern nur eine, an den Bedürfnissen der Praxis orientierte, Kompetenzzuweisung darstellt.[11]

101

Der strafrechtswissenschaftliche[12] Begriff der Wirtschaftskriminalität knüpft an den zu schützenden Rechtsgütern an und geht dabei implizit von dem Abstraktum „Funktionsfähigkeit der Wirtschaft“ aus. Nach einer Auffassung[13] beschreibt der Begriff „Wirtschaftskriminalität“ Verhaltensweisen, die sozial-überindividuelle Rechtsgüter des Wirtschaftslebens verletzen oder Instrumente des heutigen Wirtschaftslebens missbrauchen. Es wird auf die staatliche Wirtschaftsordnung insgesamt, ihren Ablauf oder ihre Organisation abgestellt und auch Delikte einbezogen, die nur typischerweise die Interessen von Wirtschaftsbetrieben verletzen[14] und damit die ersten begrifflichen Unwägbarkeiten vorgezeichnet. Wer nämlich die Verletzung überindividueller Rechtsgüter als Abgrenzungskriterium in den Vordergrund stellt,[15] sieht sich der Bringschuld ausgesetzt, die in Frage kommenden Rechtsgüter zu benennen.[16] Dies führt zwangsläufig zu einer Suche nach überindividuellen Gütern, die in nur beschränktem Maße intuitiv erfassbar sind[17] und gleichzeitig zu der Gefahr der Ausweitung des restriktiv zu gestaltenden Katalogs von Gefährdungsstraftaten. Letztere deshalb, weil hinter jeder Verletzung individueller wirtschaftlicher Interessen, die zumindest abstrakte Gefahr der Verletzung überindividueller Interessen vermutet werden kann.

102

Nicht zuletzt dieser Ansatz führte zur Herausbildung des Rechtsguts „Vertrauen in die Wirtschaftsordnung“, das ebenfalls kritisch zu betrachten ist. Der Versuch, als Wirtschaftsdelikte all jene sozialschädlichen Verhaltensweisen zu „bestimmen, die das Vertrauen in die geltende Wirtschaftsordnung insgesamt oder in einzelne ihrer Institute und damit den Bestand und die Arbeitsweise dieser Wirtschaftsordnung“ gefährdeten,[18] würde den Begriff der Gefahr aussetzen, ins Uferlose zu münden. Dies würde bedeuten, dass zu Insolvenzen führende Häufungen wirtschaftlicher Fehlentscheidungen Kriminalisierungsvorgänge auslösen könnten. Dies wäre nicht nur in Bezug auf den ultima ratio-Aspekt des Strafrechts bedenklich, sondern auch im Hinblick auf Bewegung, Initiativenfreudigkeit und Innovationsfähigkeit in einer freien Wirtschaft nicht ratsam.[19]

103

Festzuhalten ist daher: Die Frage des Rechtsgüterschutzes kann höchstens für das Wirtschaftsstrafrecht, nicht jedoch für den Begriff Wirtschaftskriminalität erheblich sein, weil diesbezüglich zunächst die Eingrenzung des Phänomens geleistet werden muss. Erst wenn Klarheit darüber besteht, was pönalisiert werden soll, muss ein dem Rechtsgüterschutz verpflichtetes Tatstrafrecht aufzeigen, welche Interessen hiervon berührt sind. Erst dann kann die rechtsgutsbezogene Perspektive für die normativen Bezugsmaterie – das Wirtschaftsstrafrecht – fruchtbar sein und Differenzierungen zwischen kollektiven Rechtsgüterschutz einerseits und vorverlagerten Vermögensschutz andererseits vornehmen.[20] Insofern sind Überlegungen zu den tangierten Rechtsgütern notwendige Bedingungen einer Pönalisierung, jedoch stellen sie auf kriminologischer Ebene weder einen besonderen Erkenntnisgewinn dar noch sind sie zwingend notwendig.[21] Es gilt also weiter zu suchen und die schmale theoretische Basis aktueller Definitionsansätze von Wirtschaftskriminalität[22] mithilfe älterer kriminologischer Ansätze zu ergänzen, die sich von den rechtsgutsbezogenen, strafrechtsdogmatischen und kriminaltaktischen Überlegungen v. a. dadurch unterscheiden, dass sie ein umfangreiches theoretisches Konzept sowohl bezüglich des Täterprofils als auch bezüglich der strukturellen Besonderheiten der Wirtschaftskriminalität anbieten.