Emmy findet ihr Glück

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Johanna konnte ihre Zweifel an dem, was sie soeben gehört hatte, nicht verbergen. Gleichwohl machte sie sich nach kurzem Zögern auf die Suche nach einem Diener, der die Koffer in Emmys Ankleidezimmer bringen sollte.

Philip sah erschrocken zu der Tür, durch die seine Schwester soeben gegangen war. Sein Blick wanderte zu Lady Northland, die ihm einen irritierten Blick zuwarf. Doch sie fing sich wieder.

»Ich bin froh, dass deine Schwester vernünftig wurde. Allerdings weiß ich nicht, wie ich diese Reise Lord Malkham beibringen soll. Er wollte morgen kommen und über die Verlobung und Hochzeit sprechen … Natürlich auch, um endlich Emmy näher kennenzulernen. Wie soll ich ihm das nur erklären …?«

Gänzlich in diesen Gedanken versunken, saß Lady Northland ihm gegenüber und schien ihren Sohn vergessen zu haben.

Philip wiederum betrachtete sie und ging seinen eigenen Gedanken nach. Er hatte seiner Mutter gegenüber noch nie Zuneigung empfunden. Bis jetzt auch noch nie über seine Gefühle ihr gegenüber nachgedacht. Doch in diesem Moment wurde ihm bewusst, wie gleichgültig sie ihm war. Diese Erkenntnis erschrak ihn. Philip empfand seine Gleichgültigkeit schlimmer als die Lieblosigkeit zwischen ihnen. Wie sehr wünschte er sich jetzt eine Mutter, die er fragen konnte, mit der er sich beraten konnte und die ihm beistand.

Schon als kleiner Junge war er lieber zu seinem Vater gegangen, wenn ihn etwas bedrückte. Bei ihm bekam er zwar keine väterliche Zuneigung in Form von Zärtlichkeiten. Aber sein Vater hörte ihm wenigstens zu und gab ihm einen Rat, wie er zum Beispiel seinen Lehrer wieder freundlich stimmen konnte, nachdem er ihm einfach weggelaufen war, um heimlich mit einem der Stallknechte zum Fischen zu gehen. Damals war sein Vater viel zugänglicher gewesen. Erst später war er immer strenger und unnachgiebiger geworden.

Was war nur geschehen? Was brachte es ihm, jetzt darüber nachzudenken? Er musste sich um die Zukunft der Familie kümmern.

Seinen Vater hatte er immer als einen besonnenen und tüchtigen Geschäftsmann eingeschätzt, weshalb er sich nicht vorstellen konnte, dass er sein Vermögen riskierte und sein Geld für gewagte Aktionen einsetzte. Vorerst wollte er nicht weiter mit seiner Mutter darüber reden. Er würde mit Jake reden. Mit ihm verband ihn eine lange, enge Freundschaft. Ihm konnte er sich anvertrauen, und vielleicht wusste sein Freund, wo er anfangen sollte, Licht in diese dubiose Angelegenheit zu bringen.

Emmy saß gedankenverloren vor ihrem Spiegel. Was würde die Zukunft bringen? Würde sie glücklich sein? Nun ja, vielleicht nicht glücklich, aber wenigstens zufrieden …? Wer war ihr Zukünftiger? Anscheinend schon ein älterer Herr, vielleicht hatte er sogar Kinder. War er nett oder einer von den Männern, die ihre Frauen schlugen? Das war nicht verboten. Ein Ehemann konnte seine Frau behandeln, wie er das für richtig hielt. Er musste niemandem Rechenschaft dafür abliefern. Manche Männer erlaubten ihren Frauen nicht einmal das Lesen! Und viele waren absolut dagegen, einer Frau Bildung zukommen zu lassen. Hoffentlich war Lord Malkham nicht so ein verknöcherter Mann … Und lebte er tatsächlich immerzu auf dem Land? Sie liebte das Leben auf dem Land, doch ihr gefiel auch das Stadtleben. Sie besuchte gerne die Oper oder Kunstausstellungen und verbrachte liebend gern viel Zeit in Buchhandlungen.

Ihr wurde das Herz schwer. Innerhalb eines Tages hatte sich ihr ganzes Leben verwandelt: vom glücklichen Tanzen und Träumen am Morgen bis zur Verzweiflung am Abend.

Emmy blickte in den Spiegel und erschrak. Ich sehe aus wie die Verzweiflung in Person.

Schluss jetzt! Ich habe mich für diesen Weg entschieden und werde ihn gehen. Ich bin stark und werde mich gegen meinen zukünftigen Mann schon durchsetzen. So, und jetzt suche ich meine Kleider aus!

Sie stand auf, öffnete ihren Schrank, der randvoll mit Abendkleidern, Tageskleidern und vielem mehr gefüllt war. Sie suchte sich verschiedene Tageskleider aus, nahm ihr Reitkleid und zwei Kleider für den Abend. Das musste reichen. Den Rest konnte Johanna für sie heraussuchen. Jetzt wollte sie einfach nur noch schlafen. Sie hatte heute so viele Entscheidungen getroffen, ihr schwirrte der Kopf. Ihre Gedanken schweiften ab zu Rafael. Traurig wurde ihr bewusst: Ich werde heiraten, aber nicht Rafael!

Wieder stiegen Tränen auf. Wie hatte sie sich so täuschen können? Sie hätte geschworen, dass Rafael sie heiraten wollte. Doch die harte Wahrheit sprach eine andere Sprache. Er hatte sich nur mit ihr amüsiert! Diese Erkenntnis verletzte sie so sehr, dass der Kummer dieses Tages sie überwältigte. Sie ließ sich auf das Bett fallen und begann ungebremst zu weinen. Sie hatte das Gefühl, dass der Tränenfluss nie mehr aufhörte, und sie es auch gar nicht wollte. Doch irgendwann versiegte er doch.

Leises Klopfen an der Tür ließ sie aufhorchen. Augenblicklich setzte sie sich auf und trocknete ihr tränennasses Gesicht. Vielleicht ist es Mutter, die sie trösten wollte. Erwartungsvoll bat Emmy den Besucher hereinzukommen. Die Tür wurde geöffnet und ihr Bruder sah zu ihr herein.

»Darf ich eintreten? Ich habe dich weinen hören und wollte dich daher fragen, ob ich helfen kann.«

»Ja, bitte komm herein«, erlaubte sie ihm mit rot verweinten Augen. »Verzeih, ich bin etwas durcheinander. Es war ein ereignisreicher Abend.«

Ihre Augen und Nase waren gerötet und vom Weinen verschwollen.

»Es tut mir leid.« Schuldbewusst erwiderte er ihren Blick.

»Sei mir bitte nicht böse. Es ist mir heute erst bewusst geworden, dass ich mich früher um alles hätte kümmern müssen. Ich wollte doch einfach nur das Leben genießen, keine Erwartungen mehr erfüllen, sondern ich selbst sein. Solange Vater lebte, war es mir kaum möglich. Nichts durfte ich tun, immer nur zu Hause sein. Nicht einmal in unseren Besitz einarbeiten durfte ich mich. Jetzt weiß ich natürlich auch, warum.«

Bitter setzte er nach einer Pause hinzu: »Er wollte nicht, dass ich sehe, wie viele Schulden er schon aufgebaut hatte. Warum hat er sich nicht helfen lassen? Ich verstehe es einfach nicht.« Ratlosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Vielleicht wollte er dich schützen. Er dachte vielleicht, dass er es noch schaffen könnte, ohne dich damit zu belasten.«

»Ja, das kann sein!« Philip lächelte erleichtert. »Ich möchte Vater nicht hassen. Hoffentlich siehst du das nicht als Schwäche von mir.« Vorsichtig sah er Emmy an und suchte nach Verständnis in ihrem Gesicht.

»Nein, ich verstehe dich. Trotz allem hast du Vater geliebt, das weiß ich.«

Dankbar und erleichtert nahm er sie kurz in die Arme.

»So, nun will ich dich nicht weiter stören. Du fährst also morgen zu Joan? Bestelle ihr meine besten Grüße. Du weißt, ich habe sie immer sehr gemocht.«

»Das werde ich. Es wird mir guttun, bei ihr zu sein. Das verstehst du doch?«

»Ja, ich verstehe dich. Versuche du, auch Mutter ein wenig zu verstehen. Sie ist halt so, wie sie ist.«

»Ja, sie ist halt so!«, wiederholte Emmy leise.

»Gute Nacht, wir sehen uns im Mai wieder.«

Philip öffnete die Tür und hätte fast Johanna, die davorstand, umgerannt.

»Also, Master Philip, was ist denn das für ein Benehmen!«, empörte sich Johanna.

Doch Philip lachte nur, nahm sie kurz in die Arme und verschwand leichten Schrittes.

»Hat er sich ein gutes Gewissen bei Ihnen abgeholt?« Noch immer aufgebracht, sah sie zur mittlerweile geschlossenen Tür, als ob er noch da draußen stünde.

»Ach Johanna, er hat wenigstens nach mir geschaut! Aber nun Schluss damit. Ich bin müde und gehe jetzt zu Bett. Meinst du, wir können gleich nach dem Frühstück aufbrechen?« Zutiefst erschöpft von dem Erlebten, suchte sie ihr Gähnen zu unterdrücken und sah Johanna fragend an.

»Kein Problem, die Koffer stehen im Umkleidezimmer nebenan. George weiß Bescheid, dass wir morgen verreisen, und hat die Kutsche schon kontrolliert. Packen werde ich, während Sie frühstücken. Und Sie kuscheln sich in Ihre Decken. Schlaf ist das, was Sie jetzt brauchen.«

Sie half ihr aus dem Kleid und zog ihr das Nachthemd über.

»Setzen Sie sich hier vor den Spiegel, dann nehmen wir noch die Nadeln aus Ihrem Haar, und schon sind Sie fertig für heute.«

Dankbar nahm Emmy Johannas Hilfe an. Nachdem das Haar gekämmt war und sie sich notdürftig Hände, Gesicht und Hals gewaschen hatte, ging sie zu Bett.

Während Johanna leise die Kleider sortierte und ein wenig aufräumte, war Emmy binnen Sekunden erschöpft eingeschlafen.

Die Kinderfrau sah sie bekümmert an. Heute Morgen noch ein glückliches Kind und jetzt eine unter massivem Druck gereifte junge Frau.

Leise ging sie aus dem Zimmer, verschloss sie die Tür hinter sich, um endlich auch in den wohlverdienten Schlaf zu finden.


Der Kammerdiener öffnete die Vorhänge. Vincent blinzelte ins helle Licht.

»Guten Morgen, Sir! Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?«

»Vielen Dank, Banks, sogar herrlich gut geschlafen!« Vincent streckte seine Arme und Beine. »Ich möchte mich gleich anziehen und frühstücken. Vorher schreibe ich eine kurze Nachricht für Lady Northland, die bitte sofort überbracht werden muss.«

»Selbstverständlich, Sir. Ich werde persönlich dafür sorgen.«

Nachdem Vincent aufgestanden war, schrieb er rasch ein paar Zeilen und übergab sie Banks zur Weiterleitung.

»Wenn Sie es bitte gleich veranlassen würden … Und der Laufbursche soll auf Antwort warten. Ich werde mich in dieser Zeit frisch machen.«

Den Kopf leicht neigend ging der Kammerdiener sogleich nach unten, um den Botenjungen auf den Weg zu schicken und ihn nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass dies eine sehr wichtige Nachricht sei und er auf keinen Fall ohne Antwort zurückkehren dürfe.

 

Kurze Zeit später lief der Junge im Bewusstsein, etwas von hoher Bedeutung zu tun, sofort los.

Banks eilte, so schnell Alter und Würde es zuließen, zu seinem Herrn zurück. Die Vorstellung, er könnte versuchen, sich selbst die Kleidung auszusuchen, ließ ihn fast in Panik ausbrechen. Seiner Meinung nach war kein Gentleman fähig, sich selbst anzukleiden, und obwohl er eine sehr hohe Meinung von seinem Herrn hatte, traute er ihm doch eine so schwierige Entscheidung nicht zu.

Vincent wollte sich gerade ein Hemd aus der Kommode nehmen, als Banks ins Zimmer stürzte und sich zwischen Kommode und Vincent zwängte. Vorsichtig nahm er seinem Herrn das Hemd aus der Hand. Liebevoll streichelte er es wieder glatt.

Vincent schaute belustigt zu. Er hatte schon seit Langem aufgegeben, Banks klarzumachen, dass er ohne Weiteres fähig war, sich selbst anzuziehen. Doch hatte er auch gemerkt, dass es den Stolz seines Kammerdieners verletzte, wenn er versuchte, ihm dies verständlich zu machen. Also ließ er ihn in dem Glauben, ohne seinen Butler absolut hilflos zu sein.

»Banks, ich habe heute einen wichtigen Besuch zu machen. Suchen Sie mir bitte etwas Passendes für eine formelle Aufwartung aus.«

Banks Gesicht verzog sich zu einem angedeuteten Lächeln, was er sich sofort verbat. Ein Kammerdiener lächelte nicht, er zeigte keine Gefühle. Es wäre ihm äußerst peinlich, sollte sein Dienstherr eine Gefühlsregung bei ihm feststellen. Er war stolz darauf, sich immer unter Kontrolle zu haben.

Daher fragte er in der ihm eigenen gestelzten Sprache: »Darf ich Ihnen etwa meine tief empfundene Gratulation aussprechen, Sir?«

»Noch nicht, Banks, die Dame weiß noch nichts von ihrem Glück.«

»Oh, dann wünsche ich Ihnen viel Glück bei Ihrem Vorhaben, Sir. Ich werde mir heute die größte Mühe geben bei der Auswahl der Kleider.«

Dieses Bestreben stellte die Geduld seines Herrn allerdings auf eine harte Probe, denn es dauerte eine beträchtliche Weile, bis Banks die in seinen Augen für den Anlass passende Garderobe ausgesucht hatte, und die Vincent nun mit der Hilfe seines Dieners anzog. Der Hausherr musste zugeben, dass sich sein Durchhaltevermögen letztendlich gelohnt hatte. Nach kritischem Blick in den Spiegel lächelte er zufrieden und belohnte seinen Kammerdiener für seine Mühe mit zustimmendem Kopfnicken.

Banks verstand die lobende Geste und dankte seinerseits mit einem Diener, als er die Zimmertür für seinen Herrn öffnete. Vincent nickte ihm freundlich zu und ging hinunter, um zu frühstücken.

Im Esszimmer duftete es herrlich nach frischem Kaffee, Toastbrot, gebratenen Eiern mit Schinken und köstlichem Fisch.

Vincent bediente sich reichlich. Schon vor Jahren hatte er darauf bestanden, dass er die Speisen beim Frühstück selbst auftrug. Er fand es so viel gemütlicher. Diese Angewohnheit vieler reicher Leute, sich ständig und überall aufwarten zu lassen, betrachtete er als unnötig.

Heute hatte er nicht wirklich die Ruhe, sein Frühstück zu genießen, da er mit Anspannung die Nachricht von Lady Northland erwartete.

Endlich hörte er ein leichtes Klopfen, und Simmons, der Butler, trat mit einem kleinen silbernen Tablett ein.

»Eine Nachricht, Sir!«

»Danke, Simmons, ich werde Sie wahrscheinlich gleich brauchen. Einen Moment, bitte.«

Umgehend öffnete Vincent das Couvert und überflog die Zeilen. Er hielt nicht die Nachricht in Händen, die er erwartet hatte.

»Lassen Sie meine Kutsche anspannen, und zwar schnell, bitte.«

Simmons sah ihn irritiert an. Gewöhnlich war sein Herr etwas freundlicher, da musste etwas Wichtiges passiert sein.

»Wie Sie wünschen, Sir!«

Mit steifem Rücken und vorgerecktem Kinn ging er gemessenen Schrittes hinaus.

Vincent lehnte sich zurück und musste grinsen, während er die kurze Nachricht ein zweites Mal las.

Also weggefahren ist sie! Da schau her, er hatte sich offensichtlich eine recht unternehmungslustige Verlobte ausgesucht. Nun ja, er würde sie schon finden. Es war wohl am besten, erst einmal zu Lady Northland zu fahren und zu sehen, was er aus ihr herausbringen konnte. Zwar mochte er diese Frau nicht, aber das spielte keine Rolle. Seit er wusste, wer seine Auserwählte war, wollte er sie unbedingt für sich gewinnen. Außerdem fing die Sache an, ihm Spaß zu machen. Was hatte sie wohl gestern in dem Haus von Rafael gewollt? Sie kam herausgerannt, als ob der Leibhaftige hinter ihr her wäre. Keine junge Dame durfte in das Haus eines Junggesellen gehen, erst recht nicht ohne Begleitung. Was war da los gewesen?

Noch vor Kurzem hatte er gemeint, sein Leben sei eintönig und langweilig. Nun schien es interessant zu werden. Vincent legte die Serviette auf den Tisch und erhob sich.

Wollen doch mal feststellen, was die Lady zu sagen hat.

Nach Beendigung seines kurzen Frühstücks ging er in die Halle, ließ sich Mantel, Hut und Stock geben und machte sich mit seiner Kutsche auf den Weg.

Das Haus der Northlands lag nicht weit entfernt und so erreichte er es innerhalb weniger Minuten. Normalerweise wäre er nie so unhöflich, zu dieser frühen Morgenstunde einer Dame einen Besuch abzustatten. Doch ungewöhnliche Begebenheiten erforderten eben ungewöhnliche Maßnahmen.

Nachdem er kurz an die große Eingangstür geklopft hatte, öffnete ihm der Butler und betrachtete ihn mit irritiertem Gesichtsausdruck.

»Sir, was kann ich für Sie tun?«

»Mich einlassen, zum Beispiel. Oder glauben Sie, ich beabsichtigte, hier draußen stehen zu bleiben und mich von Passanten begaffen zu lassen?«

Vincent sah ihn so stolz und herablassend an, dass selbst der altgediente Butler – und Bradley zählte sich zur Spezies bewährter Hausdiener – die Eingangspforte öffnete, um den Fremden einzulassen.

»Verzeihung Sir, Lady Northland ist noch nicht empfangsbereit. Das Frühstück ist noch nicht beendet, und ich möchte sie ungern stören. Das verstehen Sie doch?«

In dem Glauben, dass Vincent nun selbstverständlich wieder gehen werde, versuchte er, um Vincent herumgreifend die Türklinke zu erreichen und ihm auf diese Weise anzudeuten, dass er wieder auf die Straße entlassen sei.

Vincent unterdrückte ein Schmunzeln. Der Butler sprach mit ihm, als ob er nicht ganz richtig im Kopf wäre. Nun ja, wenn man bedachte, dass die meisten Herrschaften, die zum guten Ton gehörten, nicht vor zwölf Uhr aufstanden, musste es einem Butler höchst ungewöhnlich, wenn nicht sogar sehr unhöflich erscheinen, um diese Uhrzeit Einlass zu erbitten. Vincent verharrte zwischen Butler und Tür.

»Mein guter Mann, bringen Sie bitte unverzüglich der Dame des Hauses meine Karte. Allerdings, nachdem Sie mir endlich meinen Mantel und Hut abgenommen haben.«

Wie unter Hypnose gesetzt nahm Bradley das Dargebotene an sich.

»Nun dürfen Sie mich in die Bibliothek oder in den Salon führen. Dort gedenke ich auf Lady Northland zu warten. Doch ich vermute, dass sie kaum zögern wird, mich alsbald zu empfangen.«

So hatte man schon lange nicht mehr mit Bradley geredet. Noch zwischen Verärgerung und aufkeimender Bewunderung schwankend leitete er Vincent zur Bibliothek und bat ihn, dort Platz zu nehmen. Er werde Lady Northland fragen, ob sie ihn empfangen wolle. Stolz ging er aus dem Zimmer, um seine Herrin von dem Besuch zu unterrichten.

Lord Malkham hatte etwas an sich, das ihn an den alten Lord Northland erinnerte. Sein früherer Herr war auch stets streng gewesen, aber nie unhöflich. Ein Mann, für den man gerne arbeitete. Bradley hoffte, dass der Sohn eines Tages auch diese Ausstrahlung haben würde.

Leise öffnete Bradley die Tür. Lady Northland blickte kurz auf, wandte sich gedankenverloren jedoch sogleich wieder dem Fenster zu.

Der Butler räusperte sich kurz, um auf sich aufmerksam zu machen.

Lady Northland drehte sich ihm ungehalten zu: »Was ist denn? Ich habe doch gesagt, ich möchte nicht gestört werden!«

»Verzeihung, Mylady, Sie haben Besuch.«

Ehe Bradley ausführen konnte, um wen es sich handelte, empörte sich Lady Northland.

»Um diese Zeit! Sind Sie verrückt geworden, Bradley? Schicken Sie den Besucher weg, und wenn Ihnen Ihre Anstellung lieb ist, dann stören Sie mich nicht wieder.«

Der Butler war sprachlos. Er hatte im Laufe der Jahre schon viel ausgehalten von Mylady, aber das ging doch etwas zu weit. Mit empörter Miene ließ er die Dame wissen, dass der Besucher sich nicht abweisen lasse. Außerdem handele es sich um Lord Malkham.

»Warum sagen Sie das nicht gleich? Wo ist er? Haben Sie ihn etwa in der Halle stehen gelassen?«

»Nicht im Traum würde mir so etwas einfallen. Er erwartet Sie in der Bibliothek.«

Immer noch zutiefst gekränkt, drehte er sich um und ging, ohne auf eine weitere Instruktion seiner Herrin zu warten, mit hoch erhobenem Kopf zur Tür. Als er sie öffnete, rauschte Mylady heran und drängte ihn beiseite, sodass er sich gerade noch in Sicherheit bringen konnte. Bradley schüttelte den Kopf und war froh, dass wenigstens er sich zu benehmen wusste.

Vincent bewunderte indessen die Bibliothek, die er geschmackvoll eingerichtet fand. Ein Feuer im Kamin verbreitete eine angenehme Wärme. Entspannt lehnte er sich auf dem Sessel zurück und überlegte, wie lange ihn die Mutter seiner Zukünftigen wohl warten ließ. Er gab ihr fünf Minuten, nicht länger. Welche Lügen würde sie ihm wohl auftischen über den Verbleib ihrer Tochter?

Nach vier Minuten wurde die Tür aufgerissen und herein trat Lady Northland. Ihr Turban saß leicht schief auf ihrem Kopf, was sie fast sympathisch aussehen ließ. Ein gehetzter Gesichtsausdruck tat sein Übriges.

Diese Dame muss sehr nervös sein, schoss ihm durch den Kopf. Ach, das Leben offenbart auch seine schönen Seiten. Selbstverständlich ließ er sich nichts anmerken, erhob sich und zeigte sich ihr gegenüber respektvoll und höflich.

»Lo… Lord Malkham, wie geht es Ihnen? Schon so früh unterwegs?«, begrüßte sie ihn stotternd vor Aufregung.

»Ja, so früh. Ich habe Ihre Nachricht erhalten, dass meine zukünftige Frau vor der Hochzeit nicht erreichbar ist, und wollte gern mit Ihnen darüber reden. Wie stellen Sie sich denn das vor? Keine Verlobungsfeier? Kein Kennenlernen der Verlobten?«

Erwartungsvoll erwiderte er ihren Blick und glaubte, ihr ansehen zu können, wie es in ihrem Kopf arbeitete.

Doch sie schien sich wieder gefangen zu haben, denn sie erwiderte, nun scheinbar vollkommen gelassen: »Aber mein lieber Lord Malkham, nach der Hochzeit haben Sie doch noch Zeit genug, sich kennenzulernen. Außerdem war es unumgänglich, dass meine Tochter aufs Land fuhr. Sie muss sich unbedingt noch vor der Hochzeit etwas erholen und besucht daher ihre Freundin, die sie gebeten hat, ihr behilflich zu sein. Diese erwartet Nachwuchs. Das verstehen Sie doch?«

Kühl lächelte sie ihn an. Damit zeigte sie deutlich, sich nicht vorstellen zu können, dass Vincent irgendetwas dagegen sagen würde. Es wäre äußerst unhöflich gewesen. Also hoffte sie, dass er ihre Entscheidung akzeptierte.

Vincent ließ sie in diesem Glauben und fragte nur fürsorglich: »Sie ist doch hoffentlich nicht kränklich, Madame?«

Seine künftige Schwiegermutter rutschte nach seiner Frage doch tatsächlich nicht gerade damenhaft auf ihrem Stuhl hin und her. Sie fühlte sich merklich unwohl. Vincent konnte sich nur mit viel Mühe ein Grinsen verkneifen.

»Wie bitte, kränklich? Wie kommen Sie denn darauf? Sie soll nur an ihrem Hochzeitstag wunderschön aussehen. Das wollen Sie doch sicher auch!«

Die Lady beobachtete ihn mit mütterlichem und Verständnis heischendem Blick.

Vincent setzte einen dümmlichen Gesichtsausdruck auf und fragte irritiert nach: »Dass ich schön aussehe?«

Seine Frage brachte Lady Northland leicht aus der Fassung. »Nein, ich, ehm, ich meine, Ihre Verlobte soll doch schön und erholt aussehen an Ihrem Hochzeitstag.«

Leichte Zweifel kamen ihr, ob mit Lord Vincent alles in Ordnung war. Sie versuchte sich zu erinnern, ob sie irgendetwas über Geistesgestörte in seiner Familie gehört hatte. Gott sei Dank fiel ihr niemand ein.

Vincent lächelte freundlich und verständnisvoll. »Ach so, ja, das sollte sie natürlich. Und wann, glauben Sie, sollten wir uns kennenlernen? Ich weiß, so etwas wird heutzutage leicht überbewertet, doch habe ich das Gefühl, es könnte ganz interessant sein, meine Verlobte vor der Hochzeit zu sehen. Oder verschweigen Sie mir etwas?«

 

Seine zukünftige Schwiegermutter schien entrüstet über diese Frage, die ihr nicht mal einer Antwort wert war. Stattdessen konterte sie mit einer Gegenfrage: »Was sollten wir denn verschweigen?«

»Nun ja«, erwiderte Vincent gedehnt, »vielleicht hat sie keine Zähne oder humpelt.«

Lady Northland war schockiert: »Also, ich bitte Sie! Meine Tochter hat noch alle ihre Zähne und humpelt gewiss nicht.«

»Ach, da bin ich erleichtert.« Vincent strahlte Lady Northland mit sonnigem Lächeln an. »In welchem Landesteil weilt meine Verlobte denn zurzeit? Nicht dass ich zu ihr fahren wollte, denn schließlich soll sie besonders schön aussehen, und wer weiß, was passiert, wenn sie mich sieht.« Nachdenklich sah Vincent auf seinen Siegelring an seiner rechten Hand.

Plötzlich kam ihm eine wunderbare Idee. Er blickte auf, lächelte Lady Northland freundlich an und sagte: »Ich würde ihr nur zu gern den Verlobungsring zusenden. Das wäre doch ganz in Ihrem Sinne, Lady Northland?«

»O ja, selbstverständlich.« Lady Northland lächelte glücklich. Schicken konnte er, was er wollte, nur nicht ihre Pläne durchkreuzen. Wer weiß, zu was ihre Tochter fähig wäre, wenn ihr Verlobter bei ihr vor der Türe stand.

»Sie ist in der Nähe von Oxford auf dem Landsitz von Lord Houston. Die Postadresse ist Oxford, von dort wird es weitergeleitet. Das ist wirklich eine wunderbare Idee von Ihnen, und Sie können sich nun auch in Ruhe auf die Hochzeit vorbereiten.«

Aufmunternd und erleichtert lächelte sie ihn an: »Ach, Lord Malkham, da Sie schon so liebenswürdig waren, mich heute Morgen zu besuchen«, – was einer ausgemachten Frechheit gleichkommt, dachte sie für sich –, »können wir auch über die Gästeliste sprechen. Was halten Sie davon, wenn ich Ihnen meine Gästeliste zukommen lasse? Auf diese Weise weiß Ihr Haushalt gleich Bescheid, mit wie vielen Gästen zu rechnen ist. Die Feier wird doch sicherlich bei Ihnen stattfinden. Schließlich haben Sie viel mehr Platz. Es wäre sicherlich auch nicht gut für Ihre Reputation, wenn die Feier hier in unserem bescheidenen Haus arrangiert werden würde. Ihr Einverständnis voraussetzend habe ich dies auch schon bei vielen meiner lieben Bekannten so angekündigt.«

Die künftige Schwiegermutter musterte ihn gespannt und herausfordernd. Ihr Schwiegersohn wusste indes genau, um was es ging: die Kosten. Er sollte die Kosten für die Hochzeit übernehmen, hieß ihre unmissverständliche Botschaft. Gut, dass er mit dieser Frau nicht unter einem Dach wohnen musste. Sie schien Menschen gern zu manipulieren.

Da für ihn schon länger feststand, dass er die Hochzeit bezahlte – schließlich tilgte er die Schulden Northlands –, lächelte er zustimmend und verabschiedete sich, um weiteren Diskussionen über die Hochzeit zu entgehen. Mochte sie ruhig im Glauben sein, sie könne ihn steuern. Sie würde bald merken, dass sie sich an ihm die Zähne ausbiss. Er ließ sich Mantel und Hut geben und machte sich auf den Weg nach Hause, um zu packen. Bei diesem Gedanken wurde er sogleich heiterer.

Als er seinen Pferden das Zeichen zur Weiterfahrt gab, stand ihm unversehens wieder die Situation vor Rafaels Haus vor Augen. Was hatte Emmy in diesem Haus zu suchen? Spontan fasste er den Entschluss, sofort Rafael zu sprechen. Wenn er ihn richtig einschätzte, lag er sicher noch im Bett und schlief seinen Rausch der letzten Nacht aus. Ihn jetzt so früh am Tag zu wecken, geschah ihm nur recht. Umgehend lenkte er den Schritt der Pferde auf das neue Ziel zu und hielt kurze Zeit später vor Rafaels Haus an. Er übergab dessen Groom die Zügel und ging die wenigen Schritte bis zum Hauseingang. Nachdem er den Klopfer zweimal kurz betätigt hatte, öffnete wieder ein streng blickender Hausdiener unwillig die Tür.

»Was kann ich für Sie tun?«

Das war heute schon der zweite Butler, der Vincent den Eintritt verwehren wollte. So langsam ging es ihm auf die Nerven.

»Eintreten lassen können Sie mich, und Sir Jersey informieren, dass Lord Malkham ihn zu sprechen wünscht, und zwar sofort.«

Da der Butler sich jedoch nicht rührte, setzte er mit Nachdruck hinzu: »Ich sagte sofort! Und machen Sie endlich die Tür richtig auf oder soll ich hier Wurzeln schlagen?«

Tief in seiner Ehre verletzt, öffnete der Butler die Tür. Dieser Gentleman schien nicht Herr seiner Sinne zu sein. Missbilligend schüttelte er den Kopf. Vielleicht hatte dieser Herr, wie leider so viele heutzutage, die ganze Nacht durchgezecht und war daher noch immer nicht ganz klar im Kopf. Früher wussten sich die Angehörigen der oberen Gesellschaftsschicht besser zu betragen, so viel stand fest.

»Würden Sie bitte in der Bibliothek so lange Platz nehmen? Ich werde versuchen, Sir Jersey Ihre Nachricht zukommen zu lassen.«

Würdevoll ließ er ihn in die Bibliothek eintreten.

»Darf ich Ihnen in der Zwischenzeit eine Erfrischung bringen lassen?«

»Nein danke, holen Sie lieber Ihren Herrn aus dem Bett!«

»Ich werde mein Möglichstes tun. Doch wird es wohl einige Zeit in Anspruch nehmen, da Sir Jersey erst sehr spät nach Hause kam und er Sie bestimmt nicht empfangen kann, bevor er nicht seine Toilette zu seiner vollsten Zufriedenheit beendet hat.«

Der würdevolle Abgang des Butlers wurde von Vincents Bemerkung erheblich gestört: »Meinetwegen kann er im Nachthemd herunterkommen. Hauptsache, es gibt ein anständiges Frühstück. Ich bemerke gerade, dass ich heute noch nicht viel gefrühstückt habe. Also sagen Sie ihm, er soll sich beeilen.«

Kopfschüttelnd ging der Butler nach oben, um den Kammerdiener zu informieren, dass zu dieser unmöglichen Tageszeit ein Besucher in der Bibliothek wartete, der zudem auch noch ein Frühstück verlangte.

Rafael blinzelte unterdessen vorsichtig in das viel zu helle Tageslicht. Er konnte es immer noch nicht glauben, er würde heiraten. Gestern war er bei den Eltern Antheas gewesen und hatte offiziell um sie angehalten, und sie hatten dem zugestimmt. Die Zusage hatte sicher viel mit der Aussicht zu tun, dass er irgendwann einmal Lord Hurst nachfolgen werde. Nicht dass sein Erbe besonders groß ausfiele, doch allein der Titel machte schon viel aus. Mit dem Geld seines Schwiegervaters konnte er sein späteres Erbe sichern und vielleicht sogar ausbauen. Kaum einer würde ihm zutrauen, mit Geld gut umgehen zu können. Doch er konnte es. Er wusste genau, was er verändern musste auf dem Landsitz seines Onkels. Er hatte viel über Landwirtschaft und Viehzucht gelesen und gelernt. Leider fehlte ihm bisher das Geld, um seine Pläne auch umsetzen zu können. Doch jetzt, durch die Hochzeit würde sein Onkel ihm gerne erlauben, bei der Verwaltung des Gutes zu helfen.

Verträumt ließ er seinen Blick durchs Zimmer wandern und bemerkte, dass sein Kammerdiener von ihm unbemerkt eingetreten war und nun unschlüssig neben seinem Bett stand.

»Was ist los? Wie viel Uhr ist es?«

»Es ist kurz nach 11 Uhr, Sir.«

Rafael herrschte seinen Kammerdiener entgeistert an: »Sind Sie betrunken? Ist meine Mutter gestorben?«

»Nein, Sir, nicht dass ich wüsste. Soweit ich das beurteilen kann, geht es Ihrer Frau Mutter sehr gut, Sir!«

»Wieso um Himmelswillen stehen Sie hier wie ein Racheengel neben meinem Bett?«

Rafael fühlte sich schlecht behandelt.

»Sir, Sie haben Besuch! Lord Malkham wünscht Sie sofort zu sprechen und mit Ihnen zu frühstücken.«

»Fragen Sie ihn, ob er auch so betrunken ist wie Sie. Ich will schlafen. Ich habe mich verlobt und muss mich erholen.«

»Dann möchte ich Ihnen meinen herzlichen Glückwunsch ausdrücken und sicherlich kann ich für die gesamte Dienerschaft sprechen, wenn ich sage, dass wir uns sehr für Sie freuen.«

»Blackbird? Ich dachte immer, Sie mögen mich. Wenn Sie noch so einen langen Satz von sich geben, sind Sie entlassen.«

»Ganz wie Sie wünschen, Sir. Soll ich Lord Malkham sagen, dass Sie nicht zu sprechen sind?«

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