Emmy findet ihr Glück

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»Wir werden die Verlobung von Emmy bekannt geben!«

Sprachlos saßen die Geschwister Lady Northland gegenüber. Einen kurzen Moment glaubte Emmy, ihr Traum ginge in Erfüllung und sie könne Rafael heiraten. Doch sofort kam ihr zu Bewusstsein, dass dies ein Trugschluss sein musste. Rafael hatte kein Geld. Mit klopfendem Herzen sah sie ihre Mutter fragend an.

»Du wirst Lord Malkham heiraten. Er hat vor zwei Tagen um deine Hand angehalten, und ich habe sie ihm gegeben.«

Lady Northland sah auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hielt. Ohne aufzuschauen, sprach sie weiter: »Er möchte heiraten, um seine Linie weiterführen zu können. Sein Vermögen ist immens groß, und er ist bereit, unsere Schulden zu zahlen.«

Keiner sagte etwas. Emmy hatte das Gefühl, als hörte ihr Herz auf zu schlagen. Sie wollte etwas sagen, konnte aber nicht.

Philip sah zuerst seine Mutter und dann seine Schwester entsetzt an. Lady Northland war aufgestanden und zum Fenster gegangen und blickte auf den Garten. Der Frühling ließ noch auf sich warten. Die Bäume schienen in ihrem Winterschlaf noch versunken. Nur die Blätter der Frühlingsblumen trauten sich ans Licht. Doch es würde noch lange dauern, bis die Sonne auch die Blüten hervorlockte.

So fühlt es sich an, das Leben, dachte sie, straffte aber sofort die Schultern, atmete tief durch und drehte sich ihren Kindern zu.

»Du willst sie doch nicht wirklich an den alten Kerl verschachern?« Philip sah sie ungläubig an. »Er ist mindestens 30 Jahre alt. Kein Mensch kennt ihn wirklich, da er nur auf dem Land lebt. Und die Eigenschaft Freundlichkeit kann man wahrlich nicht mit ihm in Verbindung bringen. Ich kenne niemanden, der mit ihm befreundet ist. Du kannst doch nicht Emmy einfach an einen völlig fremden Mann verkaufen!« Philip schüttelte ungläubig den Kopf. Auf so eine Idee konnte nur seine Mutter kommen.

»Es ist die einzige Möglichkeit, aus dieser schwierigen Lage herauszukommen«, verteidigte sich seine Mutter. »Glaubt nicht, dass mir diese Entscheidung leichtfiel. Ich habe auch an dich gedacht, Philip. Doch es ist nun einmal so, dass eine schöne Debütantin leichter zu verheiraten ist als ein verarmter Lord. Es gibt natürlich genug Frauen, die einen Mann aus den gehobenen Kreisen heiraten wollen, doch leider gibt es zurzeit keine reiche Erbin, die wir ins Auge fassen können. Oder weißt du eine?«

Vermutlich stimmte, was sie sagte. Sie kannte sich in den Kreisen besser aus als er. Wenn er darüber nachdachte, musste er sich eingestehen, froh zu sein, dass es keine gab, denn er fühlte sich noch nicht reif für eine Ehe.

Lady Northland musterte ihren Sohn kritisch mit einem Anflug von Spott um den Mundwinkel.

Er hielt ihrem leicht ironischen Blick stand. Sie wusste vermutlich genau, was in ihm vorging. Er stand dazu, zu jung für eine Ehe zu sein. Doch er tadelte sich, nicht früher die Verantwortung für seine Zukunft übernommen zu haben. Jetzt schämte er sich für seine Feigheit und Bequemlichkeit, jedwede Verantwortung seiner Mutter überlassen zu haben. Er hätte Entscheidungen treffen und wissen müssen, wie es um sein Erbe steht. Doch fühlte er sich einfach hilflos angesichts dieser riesigen Verantwortung. Wo sollte er anfangen? Wer stand ihm zur Seite? Seine Mutter bestimmt nicht. Außerdem wollte er sich verdammt noch mal doch nur eine Weile amüsieren, ohne dass ihm jemand immer wieder Vorschriften machte und ihn bei allem kontrollierte. Trotzdem hatte er seinen Vater geliebt, auch wenn der ihm kaum Freiheiten gelassen hatte. Seinen Vater, der ihn für zu jung hielt, um ihn bei Entscheidungen, das Vermögen betreffend, miteinzubeziehen. Sehr oft ärgerte es Philip, nicht für voll genommen zu werden. In solchen Momenten schlich er sich aus dem Haus und machte mit seinen Freunden London unsicher. Es hatte ihn gefreut, wenn sein Vater dann wütend wurde. Jetzt, im Nachhinein, fand er sein Verhalten kindisch.

Philip sah seine Schwester mit einem schiefen Lächeln an, als wollte er sie um Verzeihung bitten, dass er in dieser Angelegenheit nichts tun konnte.

Emmy saß immer noch wie erstarrt. Das ganze Glück, dass sie noch vor ein paar Minuten gefühlt hatte, war wie weggeblasen. Sie versuchte zu denken, spürte aber nur noch eine innere Leere.

Was sagte ihr Bruder? Er wird ihr doch bestimmt beistehen und Mutter von dieser furchtbaren Idee abbringen?!

»Wie viele Schulden hat uns Vater hinterlassen?«, fragte Philip. Gespannt warteten die Geschwister auf eine Antwort.

Lady Northland zeigte auf den Schreibtisch.

»Dort liegt eine Aufstellung der Verbindlichkeiten. Betrachte sie genau und urteile. Es ist vielleicht besser, du setzt dich dabei.«

Philip las die Liste durch und erbleichte!

»Wie ist das möglich? Ich verstehe das nicht! Wenn er so viel Geld investiert hat, muss er auch Gewinn daraus gezogen haben. Er war doch immer sehr vorsichtig bei Geldanlagen. Da ist doch etwas nicht mit rechten Dingen hergegangen!«

Seine Mutter machte einen verunsicherten Eindruck.

»Ich kann dir nur weiterleiten, was unser Anwalt Morrison mir sagte: Die Rücklagen sind verbraucht, die Einnahmen ausgeblieben, der Schuldenberg gestiegen. Wir sind mittellos. Dein Vater hat seine letzten Transaktionen über einen Franzosen getätigt. Dieser Herr hat anscheinend alles organisiert. Mehr weiß ich nicht. Jedenfalls ist kein Geld an uns zurückgeflossen. Leider hat euer Vater nicht die Hilfe unseres Anwalts in Anspruch genommen. Mr Morrison hätte ihn sicher davon abgehalten. Er findet diesen Herrn Dunet höchst zwielichtig. Niemals hätte er ihm Geld anvertraut.«

»Dunet? Wer ist das? Hast du diesen Namen schon einmal von Vater gehört?«

Seine Mutter sah ihn nicht an: »Nein, ich kenne ihn nicht!«

Philip beachtete sie nicht weiter. Er hatte auch nicht erwartet, dass seine Mutter etwas wusste.

»Morgen werde ich zu unserem Anwalt gehen und mit ihm reden. Vielleicht gibt es irgendeine Möglichkeit uns zu retten, ohne dass Emmy geopfert werden muss.«

Philip sah seine Mutter entschlossen an. »Ich weiß, ich hätte früher meine Verantwortung übernehmen sollen. Doch nun tue ich es! Emmy, ich werde alles tun, um eine andere Lösung zu finden, das verspreche ich dir.«

Emmy blickte mit großen Augen von einem zum anderen. Jetzt endlich fand sie die Kraft, um sich zu Wort zu melden.

»Ihr redet über das Thema, als ob ich nichts zu entscheiden hätte. Ihr wollt mich für Vaters Dummheiten verkaufen!« Ihr standen die Tränen in den Augen. »Habe ich überhaupt nichts dazu zu sagen? Ich liebe Rafael und werde nur ihn heiraten. Ich bin mir ganz sicher, dass er mich heute Abend gefragt hätte, ob ich seine Frau werden will, und ich hätte Ja gesagt!«

Ihre Augen sprühten vor Zorn und Verzweiflung.

»Meinst du Rafael, Rafael Jersey? Das kann nicht sein mit dem Heiratsantrag. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass er Geld heiraten muss. Erst gestern hat er mir selbst von seiner Suche nach einer reichen Frau berichtet und, soweit ich weiß, bereits eine gefunden. Sein Onkel, versicherte er mir, werde niemals einer Heirat mit einer unvermögenden Frau zustimmen. Dennoch bin ich mir sicher, dass Rafael selbst Geld heiraten will, damit er bei der Bewirtschaftung des Gutes mitreden kann. Nur so wird sein Onkel ihn ernst nehmen.« Philip betrachtete Emmy nachdenklich: »Er hat mir gesagt, er sei in eine andere verliebt, könne sie aber nicht heiraten. Damit meinte er dich also offenbar … Und du bist auf seine schönen Worte reingefallen! Emmy, jeder weiß doch, dass er ein Casanova ist!«

Emmy sprang aus ihrem Sessel auf.

»Das glaube ich nicht, ich weiß, er liebt mich wirklich!«

»Hat er dir das gesagt? Hat er dir gesagt, dass er dich heiraten wird?«, ihr Bruder schrie sie fast an und seine wütenden Augen blitzten. »Wenn er das gesagt hat, werde ich ihn fordern müssen. Das weißt du doch, nicht wahr?«

Lady Northland schien erschüttert und tief getroffen. »Emmy, ich bin entsetzt!« Sie hob ihre Stimme und herrschte sie missbilligend an: »Du hast dich heimlich mit einem mir fast fremden Mann verständigt?! Bis du verrückt geworden? Willst du dich ins Unglück stürzen? Wenn das jemand erfahren würde, wärest du ruiniert. Und wir auch! Ist dir das klar?«

Trotzig erwiderte Emmy: »Aber wir lieben uns doch.« Eine Träne rann ihr über das Gesicht. »Es ist doch nicht wahr, dass er einer anderen den Antrag macht, Philip?«, hoffnungsvoll schaute sie ihren Bruder an. Weitere Tränen kullerten, obwohl sie sie zurückzuhalten versuchte.

»Schwesterchen, ich wünschte, ich könnte etwas anderes sagen. Rafael war schon immer ein Charmeur. Du bist nicht die Erste, die er umgarnt hat. Und, ich glaube, auch nicht die Letzte.«

Philip ging zu seiner Schwester und nahm sie behutsam in die Arme. Der Wunsch, das Weinen zu unterdrücken, ließ sich nicht mehr unter Kontrolle halten. Seine Fürsorge, die sie nicht gewohnt war, ließ sie nun vollständig zusammenbrechen. Ihre stets strenge Mutter mochte keine übertriebenen Zärtlichkeiten und ihr Bruder lebte sein Leben für sich, ohne sich irgendwelche Gedanken zu machen.

Das war alles zu viel! Emmy riss sich los und lief aus dem Zimmer. Sie wollte nur noch allein sein und weinen. In ihrem Zimmer fiel sie erschöpft und fassungslos auf ihr Bett. Gedanken wirbelten durch ihren Kopf. Sollte sie sich wirklich so getäuscht haben? Hatte Rafael ihr nicht gesagt, dass er sie liebte …? Wenn sie genau nachdachte, wirklich gesagt hatte er es nicht. Aber seine Augen sagten es ihr doch? Was hatten seine Augen gesagt? Seine Blicke waren so voller Bewunderung und Fröhlichkeit gewesen … Aber sprachen sie auch von Heirat? Sie war sich nicht mehr sicher. Daran musste er doch gedacht haben! Hatten sie nicht über ihre Zukunft gesprochen oder war das nur ihre eigene Fantasie gewesen?

 

Plötzlich kam ihr ein furchtbarer Gedanke. Sie setzte sich abrupt auf. Hatte sie ihm gesagt, dass sie ihn liebe …? O Gott, vielleicht wusste er nicht, dass sie so für ihn empfand. Er glaubte bestimmt, sie wolle ihn nicht heiraten, und suchte deshalb nach einer anderen Frau. Sie musste zu ihm, sofort!

Im Handumdrehen zog sie sich einen Umhang über, öffnete vorsichtig die Tür und schaute auf den Gang. Alles war ruhig. Leise schlich sie sich aus dem Zimmer, die Tür behutsam hinter sich schließend. Sie rannte auf Zehenspitzen zur hinteren Treppe, die nur die Angestellten benutzten. Auch hier schien ihr alles ruhig zu sein. Jetzt musste sie nur noch die Treppe hinunter zum Hinterausgang. Gut, dass der Umhang eine große Kapuze hatte, so würde sie hoffentlich niemand erkennen und die Dunkelheit würde das Übrige tun. Die Wohnung von Rafael lag nur ein paar Straßen weiter entfernt. Wie würde er reagieren? Die momentan aufflammende Erkenntnis, dass sie ein großes Risiko einging, ließ sie kurz zögern. Eine junge Frau durfte nicht einfach einen Junggesellen besuchen. Wenn dies herauskommen würde, wäre ihr Ruf für immer zerstört. Doch hier ging es um ihre Zukunft!

Zum Glück waren nicht viele Leute auf Londons Straßen unterwegs, sodass sie unerkannt bis zu seinem Haus gelangte. Mit klopfendem Herzen ging sie zur Eingangstür. Kaum, dass sie den Türklopfer bewegt hatte, wurde die Tür schon geöffnet. Emmy empfand Erleichterung. Die Vorstellung, hier an der Tür eines Junggesellen womöglich auch noch von einem Bekannten entdeckt zu werden, bereitete ihr allergrößtes Unbehagen. Durch den geöffneten Türspalt erschien das Gesicht des Butlers, der sie äußerst misstrauisch betrachtete.

Er blickte auf Emmy hinunter und fragte sie mit einem Anflug von Hochmut, was sie wünsche und wieso sie nicht an der Hintertür anklopfe.

Emmy nahm ihren ganzen Mut zusammen, reckte stolz ihr Kinn nach vorn und sagte in einem möglichst ruhigen Ton: »Lassen Sie mich gefälligst sofort ins Haus und geben Sie Ihrem Herrn unverzüglich Bescheid, dass Lady Emmy ihn zu sprechen wünscht.«

Völlig überrascht von der Würde ihres Auftretens ließ er Emmy herein. Unfreundlich sagte er, sie solle hier im Flur warten, er werde seinen Herrn fragen, ob er sie empfangen wolle. Gemessenen Schrittes ging er zu einer großen Tür, klopfte und verschwand dahinter.

Sekunden später wurde diese Tür aufgerissen und Rafael stürzte heraus.

»Emmy, was machst du hier? Hat dich jemand gesehen? Wenn dich jemand gesehen hat, ist es aus mit meiner Zukunft!«

Das klang nicht sehr hoffnungsvoll, geschweige denn liebevoll.

»Du musst sofort hier weg. Wenn meine Verlobte davon erfährt, war alles umsonst.«

»Deine Verlobte?«, ungläubig starrte Emmy Rafael an. War es doch wahr, was Philip über ihn sagte? »Wie meinst du das? Ich dachte, wir …«

Rafaels Gesichtsfarbe wechselte von Weiß zu Rot.

»Aber, aber! Mein Liebling, du dachtest doch nicht, dass wir heiraten?« Mit einem schiefen Lächeln und zwinkernden Augen versuchte er sie zu beruhigen.

»Du hast doch …« Verwirrt brach Emmy ab.

»Weißt du, ich brauche Geld, und du …« Er sprach nicht weiter.

»Du hast mir also die ganze Zeit nur etwas vorgespielt?«

Rafael räusperte sich und zeigte sein verführerischstes Lächeln.

»Nun, wir hatten doch Spaß miteinander, und ich bete dich nach wie vor an. Aber du musst doch gewusst haben, dass es mit uns nichts werden kann. Weißt du, es geht das Gerücht um, dass ihr kurz vor dem Ruin steht, und ich brauche nun einmal Geld, meine kleine Emmy.« Seine Stimme schnurrte leise und sein Lächeln wurde immer breiter. Langsam schritt er mit geöffneten Armen auf sie zu.

Doch Emmy hob abwehrend beide Hände: »Bleib bloß weg! Wage es nicht, mich anzufassen! Oh, wie blind ich war!«

Kämpfend zwischen Zorn und Verzweiflung wollte sie abermals ihre Tränen zurückhalten. Sie würde auf keinen Fall hier vor ihm weinen. Diesen Triumph wollte sie ihm nicht gönnen.

»Heirate nur das Geld deiner Verlobten und werde glücklich. Ich bin froh, endlich erkannt zu haben, was für ein Mensch du bist. Du ekelst mich an!«

Geschockt blieb Rafael stehen, doch ehe er etwas zu seiner Verteidigung vorbringen konnte, drehte Emmy sich um und rannte aus der Tür auf die Straße.

Blind vor Tränen, die sie nun nicht mehr zurückhalten konnte, lief sie gegen eine harte, aber warme Wand. Fast wäre sie gefallen, wenn sie nicht zwei starke Arme aufgefangen hätten. Emmy versuchte sich loszureißen, wurde jedoch festgehalten. Zornig sah sie nach oben in das Gesicht eines fremden Herrn. Mit einem Lächeln blickte er auf sie hinunter.

»Kann ich Ihnen helfen, junge Dame?«

»Nein, bestimmt nicht! Lassen Sie mich sofort los. Sie belästigen mich.«

Der Herr hob belustigt eine Augenbraue.

»Ich glaube, Sie haben mich belästigt. Aber ich möchte natürlich nicht darüber streiten. Wenn Sie wollen, behaupte ich einfach, dass ich in Sie hineingelaufen bin und Sie mich festgehalten haben, damit ich nicht falle. Ist das besser?«

Irritiert blickte Emmy ihm in die Augen. Freundliche braune Augen! Lustige Augen! Sie musste lächeln.

»Na also, das sieht schon besser aus … Darf ich mich vorstellen? Vincent ist mein Name, und wie heißen Sie?«

»Emmy, ehm, Lady Emmy Northland, und ich rede eigentlich nicht mit fremden Herren. Daher entschuldigen Sie mich bitte, ich bin auf dem Weg nach Hause.«

»Northland ist Ihr Name!« Der gut aussehende Mann schien überrascht. »Und was machen Sie hier?«

Emmy fiel auf, wie gespannt er sie ansah, als wäre ihre Antwort für ihn wichtig. Überrascht bemerkte sie, dass er fast zornig wirkte. Seine langen braunen Haare, die ihm nun leicht ins Gesicht fielen, unterstrichen diesen Eindruck zusätzlich. Er war von großer Statur, hatte breite Schultern. Seine Kleidung fand sie elegant, man sah sofort, dass er ein Gentleman zu sein schien. Aber ganz offensichtlich war er auch recht eingebildet, wenn er glaubte, sie aushorchen zu können. Sie ärgerte sich nun, ihm ihren Namen gesagt zu haben.

»Das geht Sie gar nichts an, außerdem möchte ich nach Hause. Sie entschuldigen mich bitte.«

Emmy drehte sich um und wollte loslaufen. Denn das Einzige, was sie jetzt wollte, war, allein zu sein, und dieser Herr hinderte sie daran. Sie sehnte sich so sehr danach, sich in ihrem Zimmer zu verstecken und nur noch zu weinen.

Doch der Herr erwies sich als sehr hartnäckig.

»Nein, das geht nicht! Sie können auf keinen Fall allein gehen. Ich werde Sie begleiten.«

Emmy wollte ihn abermals wütend zurechtweisen, dass es ihn nichts angehe, als er seinen Zeigefinger auf ihre Lippen legte.

»Keine Widerrede! Entweder Sie lassen mich mit Ihnen gehen oder ich trage Sie. Sie können sich entscheiden. Ich lasse Sie gewiss nicht um diese Uhrzeit allein nach Hause gehen.«

Er blickte sie streng an, Emmy gab auf. Er hatte irgendetwas an sich, was es ihr schwer machte, sich ihm zu widersetzen. Außerdem hatte noch nie ein Gentleman sie auf diese Weise berührt. Sie spürte die Wärme seines Fingers noch auf ihren Lippen. Mit leicht geröteten Wangen drehte sie sich rasch zur Seite.

»Wenn Sie sich unbedingt aufdrängen müssen, kann ich Sie wohl nicht davon abhalten. Aber Sie gehen nicht mit hinein, ist das klar?«

»Aber natürlich, ganz klar!«

Seine Stimme klang jetzt wieder so freundlich wie am Anfang ihres Gesprächs. Er nahm ihre Hand, legte sie in seine Armbeuge, als ob es ganz selbstverständlich wäre. Auf dem kurzen Weg zu ihrem Haus sprachen sie kein Wort. Es wunderte sie, woher er wusste, wo sie wohnte, als sie die Gartentür schon erreicht hatten. Sofort zog sie ihre Hand von seinem Arm und trat einen Schritt von ihm weg.

»So, nun können Sie gehen. Bis zum Haus schaffe ich es allein. Wahrscheinlich sollte ich mich auch noch bedanken, dass Sie mich begleitet haben, aber das tue ich nicht! Auf Wiedersehen!«

Vincent lächelte.

»Nie würde ich so etwas erwarten. Auf Wiedersehen, ich freue mich schon, wenn wir uns wieder begegnen.«

Er zog seinen Hut mit einer galanten Bewegung und ging anscheinend recht vergnügt die Straße hinunter.

Emmy blickte ihm eine Zeit lang nach. Mr Vincent – oder war es sein Vorname? Ein seltsamer Mensch. Er hatte die schönsten und freundlichsten Augen, die sie jemals gesehen hatte… Sie schreckte zusammen, was war das denn für ein unmöglicher Gedanke? Frech war er gewesen und aufdringlich!

Sie schlich eilig zur Hintertür und hastete die Dienstbotentreppe hinauf.

O nein! Vor ihrer Zimmertür stand ihre Zofe Sarah und rief ihren Namen. Sarah war für die Dinge zuständig, die für Johanna zu schwer geworden waren.

»Sarah, ich bin hier. Schrei doch nicht so!«

Die Zofe drehte sich erschrocken um.

»Aber wo waren Sie denn? Ich rufe Sie schon die ganze Zeit. Ihre Mutter möchte Sie sprechen.«

Emmy bekam einen roten Kopf. Damit Sarah dies nicht merkte, sah sie zu Boden.

»Ich war im Garten. Ich brauchte dringend frische Luft.«

»Komisch, dass ich Sie da nicht gesehen habe, Miss. Denn im Garten habe ich auch gesucht«, ergänzte Sarah skeptisch.

»Ich wollte nicht gefunden werden. So ist das! Und nun hilf mir flink, meine Haare wieder in Ordnung zu bekommen, damit ich hinuntergehen kann.«

Aber zuerst muss ich zur Ruhe kommen, sagte sie zu sich selbst. Der Schock, von Rafael hintergangen worden zu sein, saß sehr tief. Doch wenn er glaubte, sie würde jetzt vor Liebeskummer dahinsiechen, da täuschte er sich. Sie drückte den Rücken durch und sah in ihr Spiegelbild.

Kein Mann wird mich jemals wieder so beherrschen. Nie wieder werde ich mich verlieben! Ja, ich werde jetzt mein Leben selbst in die Hand nehmen. Die Entscheidung ist gefallen!

Nachdem Sarah ihr geholfen hatte sich herzurichten, stand sie auf und verließ ihr Zimmer, um nach unten zu ihrer Mutter und ihrem Bruder zu gehen. Sie hörte schon die verärgerte Stimme ihrer Mutter und Philips beschwichtigende Worte. Da die Tür ein Stück geöffnet war, konnte sie beide sehen. Keiner bemerkte sie.

»Mutter, lass ihr Zeit. Sie muss sich erst einmal beruhigen. Diese Eröffnung war doch ein herber Schlag für uns. Vielleicht hättest du diesen Eheplan zuerst mit mir besprechen sollen, anstatt sie vor vollendete Tatsachen zu stellen.«

Emmy wartete im Verborgenen und horchte, was ihre Mutter darauf entgegnen würde.

»Mit dir besprechen! Das wäre ja noch schöner! Bis jetzt habe ich immer noch das Sagen. Es gibt keinen anderen Ausweg, sie muss heiraten. Unser Vermögen zu erhalten ist unsere oberste Pflicht – und steht über jedem persönlichen Gefühl.«

»Selbstverständlich kenne ich deine Haltung. Außerdem bist du natürlich unsere Mutter, aber es ist meine Aufgabe, für euch zu sorgen. Ich weiß, dass ich dies bis jetzt versäumt habe. Doch nun möchte ich meine ganze Kraft dafür verwenden, Standhurst nicht zu verlieren und hoffentlich wieder ertragreich zu machen. Und deshalb bitte ich dich, nichts mehr allein zu entscheiden, sondern nur noch mit mir zusammen.«

Aufrecht und entschlossen stand Philip vor dem großen Kamin. Diese Haltung hatte er noch nie gezeigt, dachte Lady Northland verwundert.

»Also gut, wir werden sehen, wie lange du für uns sorgst.«

Sie war anscheinend nicht überzeugt.

Verletzt wandte Philip sich ab. Sollte sie doch denken, was sie wollte. Er würde sich fortan auf diese Aufgabe konzentrieren. Fast freute er sich darauf. Bisher bestand sein Leben nur aus Trinken, Spielen und Balletttänzerinnen. Er hatte schon seit Längerem bemerkt, dass ihn dieses Leben nicht mehr ausfüllte, hatte es sich nur nicht eingestehen wollen. Nun wird er seiner Mutter eben beweisen, welche Kräfte in ihm schlummern und zu was er fähig ist.

Emmy atmete tief durch. Geräuschvoll öffnete sie die Tür ganz und betrat die Bibliothek. Sie wollte auf keinen Fall, dass ihr Lauschen bemerkt werden könnte.

»Kind, wo warst du nur? Wie kannst du einfach verschwinden, wenn wir hier wichtige Dinge zu besprechen haben?«

Emmy hob den Kopf und sah ihr geradewegs in die Augen.

»Verzeih, Mutter, du kannst mir wohl kaum verübeln, für kurze Zeit allein sein zu wollen. Die Zukunft der Familie hast du, wie du zugeben musst, fast allein auf meine Schultern gelegt.«

Lady Northland sah sie erstaunt an.

»Wie redest du denn mit mir?«

Emmy überging die Bemerkung.

 

»Ich musste erst meine Gedanken ordnen und begreifen. Und nun habe ich eine Entscheidung getroffen. Wohlgemerkt, ich habe entschieden und nicht du.«

Sie sah von ihrer Mutter zu Philip. Der hielt ihrem Blick gebannt stand. Auch er kannte seine Schwester so nicht. Bisher hatte er angenommen, sie würde das Leben genießen, ohne viel nachzudenken. Hier zeigte sich aber eine Emmy, die plötzlich gereift zu sein schien. Sie musste diese Reife schon in sich getragen haben, ohne dass er es bemerkt hatte. Wieder wurde ihm deutlich, wie gedankenlos er als Familienoberhaupt gelebt hatte. War seine Mutter deshalb so hart geworden? Hatte sich sein Vater ähnlich gedankenlos seiner Frau gegenüber verhalten?

Zu Emmy gewandt sagte er: »Dir steht alles Recht der Welt zu, deine eigenen Entscheidungen zu treffen und dir die dafür notwendige Zeit zu nehmen. Du sagst, du hast dich entschieden? Willst du es uns jetzt mitteilen oder brauchst du noch Zeit …?«

»Wir haben keine Zeit!«, unterbrach ihn seine Mutter verärgert.

»Wenn du uns früher informiert hättest, hätten wir mehr Zeit!«, fuhr Philip seine Mutter an. »Wieso denkst du immer, du musst alles allein entscheiden? Wir sind keine Kleinkinder mehr.«

»Und wer hat sein Leben bisher genossen, ohne nachzudenken?«

Lady Northland sah ihn herausfordernd an.

»Ich bin mir meiner Schuld voll bewusst, aber du nicht deiner«, entgegnete Philip scharf.

»Hört endlich auf!«, schrie Emmy beide an.

Erschrocken blickten sie zu ihr. Kreidebleich stand sie in der Tür und sah ihre Mutter wütend an.

»Emmy!« Lady Northland schnappte nach Luft. »Was ist das für eine Art, mit seiner Mutter zu sprechen! Ich glaube doch, ich habe dir ein besseres Benehmen beigebracht.«

Emmy glaubte Verachtung in ihrem Blick zu erkennen. Plötzlich überkam sie eine große Traurigkeit. Wie oft hatte sie sich gewünscht, ihre Mutter würde sie in den Arm nehmen oder einfach nur verständnisvoll anlächeln? Niemals hatte sie sich ihr anvertrauen oder sich mit ihr über etwas freuen können. Augenblicklich wusste sie, warum. Ihre Mutter liebte sie nicht. Diese Erkenntnis ließ etwas in ihr zersplittern. Sie sehnte sich so sehr nach Liebe. Doch die würde sie hier nicht bekommen. Auch nicht von ihrem Bruder. Aber Philip hatte sie wenigstens gern.

Was hatte sie ihrer Mutter getan, dass diese sie nicht lieben konnte?

»Also, was ist? Hast du uns etwas Wichtiges zu sagen?«, forderte Lady Northland. Ungeduldig wartete sie auf eine Antwort.

»Ich werde Lord Malkham heiraten, aber nicht für dich, Mutter, sondern für mich. Weniger geliebt als hier, in diesem Haus, kann ich von meinem zukünftigen Ehemann auch nicht werden.«

Ihre Mutter sah sie streng an. »Es geht nicht um Liebe oder sonstige Träumereien, sondern um den Erhalt des Erbes. Ich freue mich aber, dass du Vernunft angenommen hast und endlich begreifst, um was es hier geht.«

»Vielen Dank, Mutter, für deine Belehrung. Ich weiß sehr genau, um was es nicht geht, nämlich mein Glück. Da ich durch die Fehlinvestitionen meines Vaters über keine Mitgift verfüge, ist meine Chance, einen Mann zu finden gleich null. Daher habe ich entschieden, dass selbst eine arrangierte Ehe besser ist, als hierzubleiben. Ich werde also deinem Wunsch gemäß Lord Malkham heiraten. Eine Bedingung stelle ich allerdings: Bis zu unserer Hochzeit möchte ich ihn nicht sehen. Ich werde morgen abreisen und meine liebe Freundin Joan besuchen. Den Tag der Vermählung könnt ihr für den 20. Mai ansetzen, meinen Geburtstag. Ich werde pünktlich zum Termin erscheinen.«

Ehe Lady Northland oder Philip ihre Stimmen erheben konnten, hatte Emmy auf dem Absatz kehrtgemacht und war aus dem Zimmer verschwunden.

Nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, blieb Emmy kurz stehen. Jetzt gestattete sie sich, am ganzen Leib zu zittern. Tränen rannen ihr erneut über die Wangen. Kurzerhand schürzte sie ihre Abendgarderobe und eilte die Treppen hinauf zu ihrem Zimmer. Dort konnte sie endlich ihre Tränen fließen lassen und ihre tiefe Enttäuschung über Rafael und über ihre ungewisse Zukunft herausweinen.

Etwas später am Abend klopfte Johanna an die Tür, leise kam sie ins Zimmer und fragte Emmy, ob sie nicht hinuntergehen wolle, um etwas zu essen. Doch sie lehnte ab.

Allein die Vorstellung, eine Speise zu sich zu nehmen, gar im Beisein ihrer Mutter, bereitete Emmy Übelkeit. Sie bat Johanna, ihr beim Ausziehen des kostbaren, aber inzwischen zerknitterten Kleides zu helfen.

Dass irgendein Kummer ihren Schützling bedrückte, hatte die alte Zofe sogleich mit Betreten des Raumes bemerkt.

»Was ist los, meine Kleine?«

»Ich werde morgen verreisen und am 20. Mai heiraten.«

»Wie bitte? Was meinen Sie damit, Sie werden heiraten? Ich verstehe das nicht.«

»Liebe Johanna, mir ist klar geworden, dass du der einzige Mensch bist, der mich liebt. Vielleicht hat mich mein Bruder gern, doch meine Mutter liebt mich sicher nicht. Würde sie mich lieben, hätte sie versucht, einen anderen Ausweg zu finden. Sie denkt nur an Geld und Besitz, ich bin ihr völlig egal. Nicht einmal gefragt hat sie mich!«

»Was hat Ihre Mutter jetzt wieder angestellt?«, entrüstete sich Johanna, die nicht verstand.

»Sie hat mich an den Nächstbesten verschachert. Wir sind von heute auf morgen verschuldet, und mein zukünftiger Ehemann soll uns mit seinem Vermögen vor dem Ruin retten«, erklärte Emmy. »Morgen werde ich dieses Haus verlassen. Wirst du mich zu meiner Freundin Joan nach Oxford begleiten?«

Flehentlich blickte sie ihre Zofe an, der die Fülle an unerwarteten Informationen zusetzte und die sie für sich ordnen musste.

»Ich schaffe es nicht ohne dich. Bitte, Johanna, ich weiß, es fällt dir schwer, dich von deinem Zuhause, in dem du seit fünfzig Jahren lebst, zu trennen. Ich verspreche dir, wir kommen wieder.«

Leise setzte Emmy dazu: »Um zu heiraten. Ich werde Lord Malkham heiraten.« Mit traurigen Augen schaute sie Johanna fragend an.

Die nahm sie in die Arme und sagte in liebevollem Ton: »Ich werde immer für Sie da sein, das wissen Sie doch.« Sanft, aber bestimmt schob sie Emmy von sich, stemmte ihre Hände in die Taille und fragte mit strenger Stimme: »Das ist der Plan von Lady Northland? Hat sie vielleicht noch mehr solcher Ideen?«

»Wenn ich nicht reich heirate, sind wir ruiniert! Vater hat falsch investiert, und nun haben wir keinen Penny mehr. Jetzt soll ich die Familie retten und reich heiraten.« Emmy schnüffelte laut. »Einen Kandidaten hat sie auch schon gefunden, Lord Malkham. Keiner kennt ihn wirklich, da er zurückgezogen auf dem Land lebt.« Sie versuchte, ihrer Stimme einen hoffnungsvollen Klang zu geben. »Vielleicht habe ich Glück, und er ist nett und behandelt mich gut. Hier liebt mich ja doch keiner. Also kann es fast nicht schlimmer kommen.« Tränen rollten über Emmys Wangen.

»Von mir werden Sie geliebt, und ich glaube, ich muss mal ein ernstes Wort mit Lady Northland reden.«

Erbost wollte Johanna schon aus dem Zimmer stürzen, als Emmy sie aufhielt.

»Halt, Johanna, mach das nicht! Ich habe mich entschieden! Ich will hier weg, und die Heirat ist eine Möglichkeit. So arm, wie wir jetzt sind, wird mir nie wieder ein Antrag gemacht werden.«

Johanna wollte protestieren, doch Emmy hob die Hand, um ihr Einhalt zu gebieten.

»Nein, lass nur, es ist wirklich besser so. Sei so gut und sag einem Diener, er soll meine Koffer vom Speicher holen, und lass uns überlegen, welche Kleider wir mitnehmen.«

»Ja, aber Ihre Freundin weiß doch gar nichts von Ihrem Wunsch, sie zu besuchen. Was ist, wenn sie nicht da ist oder bereits ein Haus voller Gäste hat?«

»Keine Sorge, erst gestern habe ich einen Brief von ihr erhalten. Sie erwartet ihr erstes Kind und ist deshalb daheim. Sie schrieb mir, sie sei froh, wenn ich die Zeit fände und sie für eine Weile besuchte. Sie langweilt sich. Das Baby wird bald kommen, und sie kann schon einige Zeit nicht mehr in die Gesellschaft gehen. Ich werde ihr sofort eine Nachricht schicken, dass wir in zwei Tagen bei ihr sind. Also, du siehst, es ist alles in Ordnung.«