Oliver Twist

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Oliver Twist
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Oliver Twist
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Czyta Cora McDonald
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»Mach’ den Herrn Vor­stän­den dei­ne Ver­beu­gung«, be­fahl Mr. Bum­ble.

Oli­ver wisch­te sich die Trä­nen aus den Au­gen und, da er nicht recht be­griff, wer von den An­we­sen­den die Her­ren Vor­stän­de sein könn­ten, mach­te er in­stink­tiv und aufs Ge­ra­te­wohl einen Kratz­fuß.

»Wie heißt du, Jun­ge?« frag­te der Herr auf dem ho­hen Stuhl.

Oli­ver zit­ter­te am gan­zen Leib, denn der An­blick so vie­ler Gent­le­men brach­te ihn gänz­lich au­ßer Fas­sung. Mr. Bum­ble ver­such­te ihn durch eine kräf­ti­ge Berüh­rung mit sei­nem Kirch­spiel­diener­stab zu be­leh­ren, und das hat­te zur Fol­ge, dass er wie­der­um an­fing zu wei­nen. Er ant­wor­te­te da­her mit lei­ser und zag­haf­ter Stim­me, und das ver­an­lass­te einen Herrn in ei­ner wei­ßen Wes­te aus­zu­ru­fen, er wäre ein dum­mer Jun­ge – das bes­te Mit­tel, ihm Mut ein­zu­flö­ßen.

»Jun­ge«, be­gann der Herr in dem ho­hen Stuhl aber­mals, »höre jetzt, was ich dir zu sa­gen habe. Du weißt doch, dass du ein Wai­sen­kind bist?«

»Was ist das, Sir?« frag­te der un­glück­li­che Oli­ver.

»Er ist wirk­lich ein dum­mer Jun­ge, ich hab’ mir’s gleich ge­dacht«, sag­te der Herr mit der wei­ßen Wes­te.

»Du weißt doch«, nahm der ers­te Herr wie­der das Wort, »dass du we­der Va­ter noch Mut­ter hast und vom Kirch­spiel er­zo­gen wirst?«

»Ja«, ant­wor­te­te Oli­ver un­ter Trä­nen.

»Wa­rum heulst du?« frag­te der Herr mit der wei­ßen Wes­te, denn es war doch höchst auf­fal­lend, dass Oli­ver wein­te. Wel­chen Grund konn­te er nur ha­ben?

»Ich hof­fe, du be­test doch je­den Abend«, frag­te ein an­de­rer Gent­le­man in bar­schem Ton, »und be­test für die, die dir zu es­sen ge­ben und für dich sor­gen, so wie es ei­nem Chris­ten­menschen ge­ziemt.«

»Ja, Sir«, hauch­te Oli­ver. In Wirk­lich­keit hat­te er je­doch nie ge­be­tet, weil es ihn nie­mand ge­lehrt hat­te.

»Man hat dich hier­her­ge­ru­fen«, fuhr der Prä­si­dent fort, »um dich er­zie­hen zu las­sen, und da­mit du ein nütz­li­ches Hand­werk lernst.« – »Du wirst also mor­gen früh um sechs Uhr an­fan­gen Werg zu zup­fen«, setz­te der mür­ri­sche Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te hin­zu.

Zum Dank für die An­kün­di­gung die­ser bei­den Wohl­ta­ten mach­te Oli­ver un­ter Nach­hil­fe des Kirch­spiel­die­ners einen tie­fen Kratz­fuß vor den »Her­ren Vor­stän­den« und wur­de dann in einen großen Saal ge­steckt, wo er sich auf ei­nem har­ten rau­en Bett in den Schlaf wei­nen durf­te.

Der arme Oli­ver ahn­te nicht, wie er so dalag und schlief, dass die Her­ren Vor­stän­de noch am sel­ben Tage zu ei­nem Ent­schluss ge­lang­ten, der von größ­tem Ein­fluss auf sein künf­ti­ges Ge­schick sein soll­te.

Die Her­ren Vor­stands­mit­glie­der wa­ren äu­ßerst klu­ge Män­ner von tiefer phi­lo­so­phi­scher Ein­sicht, und kaum hat­ten sie ihre Tä­tig­keit dem Ar­beits­hau­se und was da­mit zu­sam­men­hing zu­ge­wen­det, so fan­den sie auch so­fort her­aus, was ein ge­wöhn­li­cher Sterb­li­cher kaum je­mals ent­deckt hät­te, näm­lich: dass es dar­in den Ar­men ganz über Ge­bühr gut gehe. Als wäre das Ar­beits­haus nichts als ein öf­fent­li­ches Ver­gnü­gungs­lo­kal für die är­me­ren Klas­sen, eine Knei­pe, in der man nichts zu be­zah­len brau­che, ein Ort, an dem man auf Kos­ten der Ge­mein­de Früh­stück, Mit­ta­ges­sen, Tee und Abend­brot ein­neh­men kön­ne – ein Ely­si­um aus Zie­gel­stei­nen und Mör­tel, in dem ge­scherzt und ge­spielt, in Wirk­lich­keit aber nicht ge­ar­bei­tet wür­de. Wir sind die rich­ti­gen Män­ner, um hier Ord­nung zu schaf­fen, sag­te sich die Vor­stand­schaft. Und so ord­ne­ten sie denn an, dass alle ar­men Leu­te die Wahl ha­ben soll­ten – von Zwang kön­ne na­tür­lich kei­ne Rede sein -, ent­we­der lang­sam und nach und nach im Ar­beits­haus zu ver­hun­gern, oder schnell und plötz­lich au­ßer­halb. Von die­sem Ge­sichts­punk­te aus schlos­sen sie mit den Was­ser­wer­ken einen Ver­trag über Lie­fe­rung ei­ner un­be­grenz­ten Men­ge Trink­was­sers und mit ei­nem Ge­trei­de­händ­ler einen eben­sol­chen, was die je­wei­li­ge Lie­fe­rung von klei­nen Quan­ti­tä­ten Ha­fer­mehl an­be­lang­te, und ga­ben täg­lich drei Por­tio­nen Ha­fer­schleim aus und au­ßer­dem zwei­mal wö­chent­lich eine Zwie­bel dazu pro Mahl­zeit und Sonn­tags eine hal­be Sem­mel.

Im ers­ten Halb­jahr nach Oli­vers An­kunft war das Sys­tem be­reits in vol­lem Gan­ge. Der Raum, in dem die Kna­ben ihr Es­sen be­ka­men, war eine Art Kü­che, und der Koch, von ein paar Frau­en­zim­mern un­ter­stützt, teil­te ih­nen aus ei­nem Kup­fer­kes­sel ihre drei Por­tio­nen Ha­fer zu – einen Napf voll und nicht mehr, aus­ge­nom­men, wie ge­sagt, die Sonn- und Fei­er­ta­ge, wo ein nicht all­zu großes Stück­chen Brot da­zu­kam. Die Näp­fe aus­zu­wa­schen war über­flüs­sig, da die Jun­gen mit ih­ren Löf­feln so­wie­so so lan­ge dar­in her­um­kratz­ten, bis al­les wie­der glän­zend war. Und wenn sie mit ih­rer Tä­tig­keit fer­tig wa­ren, was nie all­zu lan­ge Zeit in An­spruch nahm, da die Löf­fel bei­na­he so groß wa­ren wie die Näp­fe sel­ber, – sa­ßen sie da und starr­ten auf den Kup­fer­kes­sel mit so gie­ri­gen Au­gen, als ob sie am liebs­ten so­gar die Zie­gel­stei­ne, aus de­nen der Herd auf­ge­baut war, ver­schlun­gen hät­ten, und saug­ten da­bei an ih­ren Fin­gern in der Hoff­nung, dort viel­leicht noch ir­gend­wo ein ver­irr­tes Tröpf­chen Ha­fer­schleim auf­zu­le­cken. Kin­der pfle­gen näm­lich einen vor­treff­li­chen Ap­pe­tit zu ha­ben.

Drei Mo­na­te lang hat­ten Oli­ver und sei­ne Ka­me­ra­den die Qua­len lang­sa­men Hun­ger­to­des durch­ge­macht und wa­ren kaum mehr im­stan­de, die­sen Zu­stand län­ger zu er­tra­gen. Ein für sein Al­ter sehr großer Jun­ge, des­sen Va­ter Koch ge­we­sen war, gab ei­nes Ta­ges sei­nen Ge­fähr­ten zu ver­ste­hen, wenn er nicht bald eine Schüs­sel Ha­fer­schleim pro Tag mehr be­kom­me, so wür­de er sich nicht hel­fen kön­nen und müs­se höchst wahr­schein­lich ei­nes Nachts sei­nen Schlaf­nach­bar auf­fres­sen. Die­ser Viel­fraß hat­te ein wil­des hung­ri­ges Auge, und sei­ne Re­den rie­fen große Angst un­ter sei­nen Ka­me­ra­den her­vor. So be­rat­schlag­ten sie un­ter­ein­an­der, und es wur­de ge­lost, wer von ih­nen nach dem Abendes­sen zum Spei­se­meis­ter ge­hen und noch um einen Napf bit­ten sol­le. Das Los fiel auf Oli­ver.

Der Abend kam, und die Jun­gen nah­men ihre Plät­ze ein. Der Spei­se­meis­ter stell­te sich in sei­ner wei­ßen Koch­schür­ze an den Kes­sel, der Ha­fer­brei wur­de aus­ge­teilt und ein lan­ges Tisch­ge­bet ge­spro­chen. Als die Mahl­zeit vor­über war, flüs­ter­ten die Jun­gen un­ter­ein­an­der, ga­ben Oli­ver Win­ke, und die ihm Zu­nächst­sit­zen­den stie­ßen ihn mit den Ell­bo­gen an. Der Hun­ger mach­te ihn alle Rück­sich­ten ver­ges­sen. Er stand auf, trat mit Napf und Löf­fel vor den Koch hin und sag­te mit be­ben­der Stim­me:

»Ich bit­te um Ver­zei­hung, Sir, ich möch­te noch um ein we­nig bit­ten.«

Der Koch, ein feis­ter rot­ba­cki­ger Mann, wur­de blass wie der Kalk an der Wand. In maß­lo­sem Stau­nen starr­te er ei­ni­ge Se­kun­den den klei­nen Re­bel­len an und muss­te sich am Kes­sel fest­hal­ten, um nicht um­zu­fal­len. Die bei­den Frau­en­zim­mer wa­ren ge­ra­de­zu ge­lähmt vor Ent­set­zen, und auch die Jun­gen konn­ten vor Furcht kein Wort her­vor­brin­gen.

»Was?« frag­te der Koch end­lich mit schwa­cher Stim­me.

»Ich bit­te, Herr«, wie­der­hol­te Oli­ver, »ich möch­te noch et­was ha­ben.«


Der Koch gab ihm eins mit dem Löf­fel über den Kopf, fass­te ihn dann am Arm und schrie laut nach dem Kirch­spiel­die­ner.

Die Her­ren Vor­stän­de sa­ßen ge­ra­de zu­sam­men bei ei­ner Be­ra­tung, als Mr. Bum­ble in höchs­ter Er­re­gung ins Zim­mer stürz­te und dem Her­ren auf dem ho­hen Stuhl mel­de­te:

»Mr. Limbkins, ich bit­te um Ver­zei­hung, Sir, Oli­ver Twist hat mehr zu es­sen ver­langt.«

Al­les fuhr auf. Ent­set­zen mal­te sich auf al­len Ge­sich­tern.

»Mehr?« rief Mr. Limbkins. »Kom­men Sie zu sich, Bum­ble! Ant­wor­ten Sie mir klar und deut­lich. Ver­ste­he ich recht? Er hat mehr ge­for­dert als die ihm von der Vor­stand­schaft fest­ge­setz­te Ra­ti­on?«

»Ja­wohl, Sir.«

»Der Bur­sche kommt noch an den Gal­gen«, ächz­te der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te. »Den­ken Sie an mich, der Bur­sche kommt noch an den Gal­gen.«

Nie­mand wi­der­sprach, und es ent­spann sich eine leb­haf­te Dis­kus­si­on. Auf Be­fehl der Vor­stand­schaft wur­de Oli­ver au­gen­blick­lich ein­ge­sperrt, und am nächs­ten Mor­gen hing ein An­schlag­zet­tel an der Au­ßen­sei­te des To­res des Ar­beits­hau­ses, auf dem eine Be­loh­nung von fünf Pfund aus­ge­setzt war für je­den, der die Ge­mein­de der wei­te­ren Für­sor­ge für Oli­ver Twist ent­hö­be; mit an­de­ren Wor­ten: es wur­den fünf Pfund je­der­mann an­ge­bo­ten, der Oli­ver Twist als Lehr­ling oder Lauf­bur­schen zu sich näh­me.

»In mei­nem gan­zen Le­ben war ich noch von nichts so fest über­zeugt«, sag­te der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te, als er am nächs­ten Mor­gen an das Tor klopf­te und den Zet­tel las, »wie ich jetzt da­von über­zeugt bin, dass der Bur­sche noch ein­mal an den Gal­gen kom­men wird.«

3 – Berichtet, wie Oliver Twist beinahe eine Anstellung bekommen hätte, die nichts weniger als eine Sinekure1 gewesen wäre.

Eine Wo­che lang blieb Oli­ver nach sei­ner Mis­se­tat in dem fins­tern Raum, in den ihn die Her­ren Vor­stän­de hat­ten sper­ren las­sen, in Haft. Hät­te er den ge­hö­ri­gen Re­spekt vor der Pro­phe­zei­ung des Gent­le­mans mit der wei­ßen Wes­te ge­habt, wür­de er sich zwei­fel­los ver­mit­tels ei­nes Ta­schen­tu­ches an ei­nem Ha­ken in der Mau­er auf­ge­hängt ha­ben. Aber dazu fehl­te ihm vor al­lem ein Ta­schen­tuch – ein sol­cher Lu­xus war stren­ge ver­pönt -, und zwei­tens war er noch zu sehr Kind. Er wein­te da­her nur Tag und Nacht und be­deck­te sich mit sei­nen klei­nen Hän­den die Au­gen, um nicht in die Fins­ter­nis star­ren zu müs­sen, oder er kroch in einen Win­kel und ver­such­te zu schla­fen. Aber je­des Mal fuhr er wie­der vor Angst und Ent­set­zen aus sei­nem un­ru­hi­gen Schlum­mer auf und drück­te sich noch dich­ter an die Mau­er, als böte ihm selbst ihre har­te kal­te Flä­che noch ein we­nig Schutz ge­gen die Fins­ter­nis und Ein­sam­keit, die ihn rings um­gab.

 

Um ge­recht zu sein, dür­fen wir nicht ver­schwei­gen, dass es ihm an­de­rer­seits an Be­we­gung und geist­li­chem Zu­spruch nicht fehl­te. Was die Lei­bes­übun­gen be­traf, wur­de ihm an­ge­sichts des kal­ten Wet­ters, das ge­ra­de herrsch­te, die Ver­güns­ti­gung zu­teil, sich je­den Mor­gen un­ter der Pum­pe in ei­nem ge­pflas­ter­ten Hof wa­schen zu dür­fen, und zwar in Ge­gen­wart Mr. Bum­bles, der durch wie­der­hol­te An­wen­dung sei­nes Amt­sta­bes even­tu­el­len Er­käl­tun­gen vor­beug­te und be­wirk­te, dass von Zeit zu Zeit ein pri­ckeln­des Ge­fühl Oli­vers Kör­per durch­drang. Was die An­re­gung an­be­lang­te, wur­de er je­den zwei­ten Tag in den Saal ge­führt, wo die Zög­lin­ge ihr Mit­ta­ges­sen ver­zehr­ten, und vor ih­ren Au­gen als war­nen­des Bei­spiel öf­fent­lich aus­ge­peitscht. Hin­sicht­lich re­li­gi­ösen Zu­spruchs wur­de er Abend für Abend zur Ge­bet­stun­de mit Fuß­trit­ten in den­sel­ben Raum be­för­dert und durf­te dort zu­hö­ren, wie die an­de­ren be­te­ten, dass Gott sie be­wah­ren möge, so sünd­haft zu wer­den wie ein ge­wis­ser Oli­ver Twist. So stan­den die Sa­chen.

Da be­gab es sich ei­nes Mor­gens, dass der Schorn­stein­fe­ger­meis­ter Mr. Gam­field auf der Land­stra­ße lang­sam sei­nes We­ges zog. Tief in Ge­dan­ken, wo­her er sich sei­ne Haus­mie­te, de­rent­we­gen er be­reits wie­der­hol­te Male ge­mahnt wor­den, sich be­schaf­fen sol­le. So sehr sich Mr. Gam­field auch den Kopf zer­brach, im­mer wie­der war das Re­sul­tat, dass ihm fünf Pfund fehl­ten, um die drin­gen­de Schuld be­glei­chen zu kön­nen. In die­sem Au­gen­blick be­merk­te er den Zet­tel, der am Tor des Ar­beits­hau­ses hing.

»Höh­hh – brrr« – rief Mr. Gam­field sei­nem Esel zu.

Der Esel war je­doch eben­so wie sein Herr tief in Ge­dan­ken ver­sun­ken und wahr­schein­lich mit der Be­rech­nung be­schäf­tigt, ob er einen oder zwei Kohl­strün­ke be­kom­men wür­de, wenn er die bei­den Sä­cke Ruß, mit de­nen der Kar­ren be­la­den war, an Ort und Stel­le ge­bracht ha­ben wür­de, und so trot­te­te er da­her, den Zu­ruf sei­nes Herrn miss­ach­tend, wei­ter.

Mr. Gam­field wid­me­te ihm einen schwe­ren Fluch, rann­te hin­ter ihm her und gab ihm einen Schlag auf den Schä­del, wie ihn eben nur ein Esels­kopf aus­zu­hal­ten ver­mag, führ­te ihn dann durch einen hef­ti­gen Riss am Zü­gel, der ihm fast den Un­ter­kie­fer aus­renk­te, zu Ge­müt, dass hier nie­mand andres zu be­feh­len habe als Mr. Gam­field, und gab ihm schließ­lich einen zwei­ten Hieb auf den Kopf zum Zweck, um ihn bis zu sei­ner Rück­kehr in der nö­ti­gen Be­täu­bung zu er­hal­ten. Nach­dem er die­se Vor­sichts­maß­re­geln ge­trof­fen, schritt er auf das Tor zu, um den An­schlag­zet­tel zu le­sen. Der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te stand ge­ra­de, die Hän­de auf dem Rücken, vor dem Tor. Er hat­te das Zer­würf­nis und sei­ne Fol­gen zwi­schen Mr. Gam­field und dem Esel be­ob­ach­tet und lä­chel­te höchst ver­gnügt, als der Mann nä­her­trat, um den Zet­tel zu le­sen. Auf den ers­ten Blick er­kann­te er, dass Mr. Gam­field der rich­ti­ge Ge­bie­ter für Oli­ver Twist war. Auch Mr. Gam­field lä­chel­te, als er den An­schlag las, denn fünf Pfund wa­ren ge­ra­de die Sum­me, die er brauch­te. Was den Lehr­bur­schen an­be­traf, so war Mr. Gam­field hin­sicht­lich der Be­kö­s­ti­gung im Ar­beits­haus zu ge­nau un­ter­rich­tet, um nicht so­fort ein­zu­se­hen, dass ein Wai­sen­zög­ling die ent­spre­chend schmäch­ti­ge Sta­tur ha­ben müs­se, die ein Schorn­stein­fe­ger­jun­ge braucht. Er buch­sta­bier­te den Zet­tel noch ein­mal von A bis Z durch, be­rühr­te den Rand sei­ner Pelz­müt­ze und wand­te sich an den Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te.

»Ist da der Lehr­bub he­rin­nen, den wo das Ar­beits­haus ab­zu­ge­ben hat?« be­gann er.

»Wün­schen Sie et­was von ihm?« forsch­te der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te.

»Wenn’s der Ge­mein­de recht wär, dass er a leichts an­ge­nehms Hand­werk lernt, dös Schorn­stein­fe­ger­hand­werk näm­lich, so brau­chet i’ ge­rad an Lehr­ling und könnt ihn glei’ mit­neh­men.«

»Tre­ten Sie nä­her«, rief der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te.

Mr. Gam­field lief zu­vör­derst noch ein­mal zu­rück, um dem Esel einen drit­ten Schlag auf den Kopf zu ge­ben und ihn am Zü­gel zu rei­ßen, auf dass er es sich nicht bei­fal­len lie­ße, in der Ab­we­sen­heit sei­nes Herrn durch­zu­ge­hen. Dann folg­te er dem Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te in das Zim­mer, das Oli­ver zum ers­ten Mal be­tre­ten hat­te.

»Es ist ein et­was schmut­zi­ges Hand­werk«, sag­te Mr. Limbkins, als Mr. Gam­field sei­nen Wunsch noch ein­mal wie­der­holt hat­te.

»Es soll schon hie und da ein Jun­ge im Schorn­stein er­stickt sein«, wen­de­te ein an­de­rer Gent­le­man ein.

»Jetzt dös kummt bloß da­der­her«, er­klär­te Mr. Gam­field, »weil ’s a so üb­lich is, nas­ses Stroh im Ka­min an­zu­zün­den, da­mit die Bu­abn run­ter­kom­men. Dös gibt mehr Rauch als wie a Flamm. Aber i halt nix von der Method; der Rauch macht nur, dass die Bu­abn al­le­weil ein­schla­fen. I zünd lie­ber glei a frischs Feu­er an; dös is des bes­te Mit­tel, um ihna auf die Bein zu hel­fen. Da müas­sens ar­bei­ten aus Lei­bes­kräf­ten, sunst ver­bren­nens iah­na die Ha­xen.«

Dem Gent­le­man in der wei­ßen Wes­te schi­en die­se Schil­de­rung großes Ver­gnü­gen zu be­rei­ten, aber sei­ne Hei­ter­keit wur­de durch den stra­fen­den Blick, den ihm Mr. Limbkins zu­warf, im Keim er­stickt. Ein paar Mi­nu­ten be­rie­ten die Her­ren Vor­stän­de mit­ein­an­der, je­doch in so lei­sem Ton, dass nur hin und wie­der ein paar Wor­te wie: »Er­spar­nis« oder »gu­ter Ein­druck bei der Abrech­nung« hör­bar wur­den. End­lich stock­te die im Flüs­ter­ton ge­führ­te Un­ter­hal­tung und Mr. Limbkins be­gann, nach­dem die Her­ren mit fei­er­li­cher Mie­ne ihre Plät­ze wie­der ein­ge­nom­men hat­ten:

»Wir ha­ben Ihren Vor­schlag in Er­wä­gung ge­zo­gen, kön­nen aber nicht dar­auf ein­ge­hen.«

»Un­ter kei­nen Um­stän­den«, be­kräf­tig­te der Herr in der wei­ßen Wes­te.

»Nein, un­ter kei­nen Um­stän­den«, er­klär­ten die üb­ri­gen Her­ren Vor­stän­de.

Mr. Gam­field war sich be­wusst, dass er bei Ge­richt in Ver­dacht stand, drei oder vier Lehr­jun­gen im Ka­min fahr­läs­si­ger­wei­se ha­ben er­sti­cken las­sen, und kam da­her auf die Ver­mu­tung, das Vor­stands­kol­le­gi­um kön­ne mög­li­cher­wei­se in ganz un­be­greif­li­cher Lau­ne ein Haar in der Sup­pe ge­fun­den ha­ben. Da er das al­ber­ne Gerücht nicht wei­ter breit­ge­tre­ten zu se­hen wünsch­te, dreh­te er nur wort­los sei­ne Müt­ze in den Hän­den und ging lang­sam zur Türe.

»Sie wolln ihn also net bei mir ein­tre­ten las­sen?« frag­te er, die Hand auf der Klin­ke.

»Nein«, er­wi­der­te Mr. Limbkins fest. »Zum min­des­ten müss­ten Sie mit ei­ner ge­rin­ge­ren als der aus­ge­setz­ten Sum­me zu­frie­den sein, da das Schorn­stein­fe­ger­ge­wer­be denn doch ein biss­chen schmut­zig ist.«

Mr. Gam­fields Ge­sicht hell­te sich auf. Schnell trat er wie­der an den Tisch her­an und frag­te:

»Also, was wol­lens denn ge­ben, mei­ne Herrn? Seins doch net so hart ge­gen an ar­men Ge­werb­trei­ben­den.«

»Ich soll­te mei­nen, drei Pfund zehn Schil­ling wä­ren mehr als ge­nug«, gab Mr. Limbkins zur Ant­wort.

»Da sind noch zehn Schil­lin­ge zu viel«, warf der Gent­le­man in der wei­ßen Wes­te hin.

»Na also«, ver­setz­te Mr. Gam­field, »sa­gen mer also vier Pfund, mei­ne Her­ren, und Sie sin ihm los und die Sach is in Ord­nung.«

»Drei Pfund zehn Schil­lin­ge«, wie­der­hol­te Mr. Limbkins fest.

»Kom­men S’, teiln mer die Dif­fe­renz, mei­ne Herrn«, dräng­te Mr. Gam­field. »Drei Pfund fünf­zehn Schil­lin­ge.«

»Nicht einen Pen­ny mehr«, war die Ant­wort.

»Sie sin ver­dammt hart zu mir, mei­ne Herrn«, sag­te Gam­field nie­der­ge­schla­gen.

»Ach was, Un­sinn«, er­wi­der­te der Herr in der wei­ßen Wes­te. »Sie ma­chen noch ein gu­tes Ge­schäft, auch wenn Sie gar kein Geld für ihn be­kämen. Sei­en Sie nicht dumm und neh­men Sie ihn, er ist ge­ra­de der Jun­ge, den Sie brau­chen. Ge­ben Sie ihm hie und da den Stock zu kos­ten, das wird ihm nur gut tun; und die Er­hal­tung wird sich auch nicht sehr teu­er stel­len. Er ist hier nicht be­son­ders ver­wöhnt wor­den – ha­ha­ha!«

Mr. Gam­field warf einen schar­fen Blick auf die Her­ren rings­um, und da er sie alle lä­cheln sah, hell­ten sich lang­sam sei­ne Züge auf. Der Han­del wur­de ge­schlos­sen und Mr. Bum­ble so­gleich an­ge­wie­sen, noch am sel­ben Nach­mit­tag Oli­ver Twist be­hufs amt­li­cher Be­stä­ti­gung des Lehr­ver­trags vor­zu­füh­ren.

Dem­ge­mäß wur­de Oli­ver zu sei­nem größ­ten Er­stau­nen plötz­lich aus der Haft ent­las­sen und be­kam den Be­fehl, ein fri­sches Hemd an­zu­zie­hen. Kaum hat­te er die­se sel­te­ne gym­nas­ti­sche Übung hin­ter sich, als Mr. Bum­ble ihm ei­gen­hän­dig einen Napf Ha­fer­grüt­ze nebst dem sonn­täg­li­chen Stück Brot brach­te. Bei die­sem fürch­ter­li­chen An­blick brach Oli­ver so­fort in ein schreck­li­ches Ge­heul aus, denn er dach­te, die Her­ren Vor­stän­de hät­ten den Be­schluss ge­fasst, ihn zu ir­gend­ei­nem ge­mein­nüt­zi­gen Zweck schlach­ten zu las­sen. Denn wes­halb hät­ten sie sonst plötz­lich an­ge­fan­gen, ihm eine Mast­kur an­ge­dei­hen zu las­sen.

»Heul dir nicht die Au­gen rot, Oli­ver, son­dern iss dei­ne Sup­pe und sei dank­bar«, er­mahn­te Mr. Bum­ble in wür­de­vol­lem Ton. »Du kommst jetzt in die Leh­re.«

»In die Leh­re?« frag­te der Klei­ne zit­ternd.

»Ja­wohl, Oli­ver. Die gü­ti­gen Herrn, von de­nen dir je­der ein­zel­ne dei­ne El­tern er­setzt, da du kei­ne hast, wol­len dich in die Leh­re ge­ben, da­mit du einst im Le­ben auf ei­ge­nen Fü­ßen ste­hen kannst; und sie wol­len einen Mann aus dir ma­chen, ob­gleich es der Ge­mein­de drei Pfund und zehn Schil­lin­ge kos­tet. – Oli­ver! Drei Pfund und zehn Schil­lin­ge! – Sieb­zig Schil­lin­ge hun­dert­vier­zig Six­pence! Und das al­les für einen nichts­nut­zi­gen Wai­sen­bu­ben, den kein Mensch lei­den kann.«

Mr. Bum­ble hielt einen Au­gen­blick in sei­ner Rede inne, um Atem zu ho­len. Dem ar­mem Oli­ver roll­ten die Trä­nen über die Wan­gen, und er schluchz­te bit­ter­lich.

»Ist schon gut, lass nur«, sag­te Mr. Bum­ble, ein biss­chen we­ni­ger wür­de­voll, denn die Wir­kung, die sei­ne Rede her­vor­ge­bracht, be­frie­dig­te ihn. »Komm, Oli­ver, wisch dir die Trä­ne mit dem Är­mel ab und heul dir nicht in die Sup­pe; das ist eine große Dumm­heit.« Und das stimm­te, denn Was­ser war so­wie­so ge­nug in der Ha­fer­grüt­ze.

Auf dem Weg zum Frie­dens­rich­ter schärf­te Mr. Bum­ble Oli­ver aufs dring­lichs­te ein, er müs­se sich vor al­len Din­gen be­mü­hen, recht glück­lich aus­zu­se­hen, und wenn der alte Herr ihn fra­ge, ob er in die Leh­re ge­hen wol­le, habe er zu ant­wor­ten, er freue sich un­ge­mein dar­auf. Oli­ver ver­sprach sein Bes­tes zu tun, umso mehr, als Bum­ble ihm an­droh­te, dass es ihm sonst schlecht er­ge­hen wür­de.

Auf dem Amt an­ge­langt, wur­de Oli­ver in ein klei­nes Zim­mer ein­ge­sperrt, und Mr. Bum­ble sag­te ihm, er sol­le hier blei­ben, bis er wie­der­käme und ihn ab­hol­te. Eine gan­ze hal­be Stun­de blieb das arme Wai­sen­kind mit klop­fen­dem Her­zen al­lein. Dann steck­te Mr. Bum­ble sei­nen Kopf her­ein und sag­te laut: »Nun, Oli­ver, mein Kind, komm jetzt zu dem Herrn.«

Da­bei warf er Oli­ver einen dro­hen­den Blick zu und füg­te lei­se hin­zu: »Ver­giss nicht, was ich dir ge­sagt hab, in­fa­mer Laus­bub.«

Oli­ver mach­te bei die­ser wi­der­spruchs­vol­len An­re­de ein ziem­lich dum­mes Ge­sicht. Aber Mr. Bum­ble kam je­der Fra­ge zu­vor und schlepp­te ihn ohne wei­te­re Um­stän­de ins Amts­zim­mer. Es war ein ziem­lich ge­räu­mi­ges Zim­mer mit ei­nem großen Fens­ter. Hin­ter ei­nem Pult sa­ßen zwei alte Her­ren mit ge­pu­der­ten Perücken, und der eine von ih­nen las in der Zei­tung, wäh­rend der an­de­re mit Hil­fe ei­ner Schild­patt­bril­le ein klei­nes Per­ga­ment­schrift­stück durch­stu­dier­te. Mr. Limbkins stand ne­ben dem Pult und Mr. Gam­field, des­sen Ge­sicht stel­len­wei­se rein­ge­wa­schen war, in ei­ni­ger Ent­fer­nung ne­ben ihm, wäh­rend zwei bis drei roh aus­se­hen­de Män­ner in Stul­pens­tie­feln im Hin­ter­grund war­te­ten.

 

Der alte Herr mit der Bril­le nick­te lang­sam über dem Schrift­stück ein, und es ver­strich eine ziem­li­che Wei­le, nach­dem Oli­ver von Mr. Bum­ble vor das Pult ge­führt wor­den war.

»Dies ist der Jun­ge, Euer Gna­den«, sag­te Mr. Bum­ble.

Der alte Herr, der die Zei­tung las, hob eine Se­kun­de den Kopf und zupf­te den an­de­ren al­ten Herrn am Rock­är­mel, wor­auf die­ser er­wach­te.

»So, so, das ist der Jun­ge«, mur­mel­te der alte Herr.

»Ja­wohl, zu die­nen, Euer Gna­den«, er­wi­der­te Mr. Bum­ble. »Mach dem Herrn Frie­dens­rich­ter eine Ver­beu­gung, mein Kind.«

Oli­ver ge­horch­te und mach­te sei­nen schöns­ten Kratz­fuß, da ihm die Her­ren mit den ge­pu­der­ten Perücken mäch­tig im­po­nier­ten.

»Der Jun­ge wünscht also Schorn­stein­fe­ger zu wer­den«, frag­te der alte Herr.

»Ja, es ist sein Her­zens­wunsch«, er­klär­te Mr. Bum­ble. »Er wür­de be­stimmt mor­gen wie­der da­von­lau­fen, wenn wir ihn heu­te in ein andres Ge­schäft gä­ben.«

Der Frie­dens­rich­ter wen­de­te sich an den Schorn­stein­fe­ger­meis­ter: »Und Sie ver­spre­chen, ihn gut zu be­han­deln, or­dent­lich zu näh­ren und zu klei­den usw. usw.«

»Was i amal sag, dös halt i a«, er­wi­der­te Gam­field mür­risch.

»Sie ha­ben eine et­was un­ge­schlif­fe­ne Re­de­wei­se, lie­ber Freund, schei­nen aber sonst ein ehr­li­cher gut­her­zi­ger Mann zu sein«, sag­te der alte Herr und rich­te­te sei­ne Bril­le auf den Schorn­stein­fe­ger­meis­ter, auf des­sen schur­ki­schem Ge­sicht die Bru­ta­li­tät deut­lich zu le­sen war. Der alte Herr war halb blind und schon ganz kin­disch, und man konn­te von ihm da­her nicht er­war­ten, dass er er­ken­ne, was an­de­ren auf den ers­ten Blick auf­fal­len muss­te.

»Dös will i hof­fen, Herr von Vor­stand«, sag­te Gam­field grin­send.

»Ich set­ze nicht den min­des­ten Zwei­fel in Ihre Wor­te, mein Freund«, er­wi­der­te der alte Herr, drück­te sich die Bril­le fes­ter auf die Nase und fahn­de­te nach dem Tin­ten­fass.

Es war ein kri­ti­scher Au­gen­blick in Oli­vers Schick­sal: hät­te das Tin­ten­fass dort ge­stan­den, wo es der alte Herr ver­mu­te­te, so wür­de die­ser sei­ne Fe­der ein­ge­taucht und den Ver­trag un­ter­fer­tigt ha­ben, und Oli­ver wäre ein für al­le­mal »ver­sorgt« ge­we­sen. Da sich das Tin­ten­fass je­doch dicht vor der Nase des al­ten Herrn be­fand, über­sah es die­ser na­tür­lich, such­te über­all auf dem Pult her­um, ohne es zu fin­den, und da­bei fiel sein Blick auf das blei­che ver­stör­te Ge­sicht Oli­ver Twist’s, der trotz al­ler Er­mah­nun­gen und Püf­fe Mr. Bum­bles das Äu­ße­re sei­nes zu­künf­ti­gen Lehr­her­ren mit ei­nem aus Grau­en und Furcht ge­misch­ten Aus­druck be­trach­te­te.

Der alte Herr hielt so­fort inne, leg­te die Fe­der aus der Hand und blick­te von Oli­ver zu Mr. Limbkins, der mit un­be­fan­ge­ner hei­te­rer Mie­ne eine Prie­se Schnupf­ta­bak zu neh­men ver­such­te.

»Lie­bes Kind!« sag­te der alte Herr und lehn­te sich über das Pult. Oli­ver fuhr beim Klang sei­ner Stim­me zu­sam­men, denn die Wor­te wa­ren in so freund­li­chem Tone ge­spro­chen, dass sie ihn be­frem­den muss­ten. Er zit­ter­te hef­tig und brach in Trä­nen aus.

»Aber Kind«, rief der alte Herr. »Du siehst ja ganz bleich und ver­stört aus? Was ist dir denn?«

»Tre­ten Sie ein we­nig von ihm weg«, sag­te der an­de­re alte Herr, leg­te sein Schrift­stück aus der Hand und beug­te sich mit ei­nem Aus­druck tiefer Teil­nah­me vor.

»Also, mein Kind, sag uns, was dir fehlt. Hab kei­ne Furcht.«

Oli­ver fiel auf die Knie, er­hob sei­ne ge­fal­te­ten Hän­de und fleh­te schluch­zend, man möge ihn lie­ber wie­der in das dunkle Zim­mer zu­rück­brin­gen und ihn ver­hun­gern las­sen, ihn schla­gen, ihn tot­schla­gen, al­les, nur ihn nicht je­nem schreck­li­chen Mann über­ge­ben.


»Ha«, rief Mr. Bum­ble, hob fei­er­lich die Hän­de em­por und blick­te zur De­cke auf. »Von al­len ver­stock­ten nie­der­träch­ti­gen Wai­sen­jun­gen, die mir je un­ter­ge­kom­men sind, ist die­ser der ver­wor­fens­te von al­len.«

»Hal­ten Sie den Mund, Kirch­spiel­die­ner«, rief der zwei­te alte Herr, als Mr. Bum­ble in sei­ner Rede in­ne­hielt.

»Ich bit­te Euer Gna­den um Ent­schul­di­gung«, stot­ter­te Bum­ble, der sei­nen Ohren nicht trau­te. »Ha­ben Euer Gna­den zu mir ge­spro­chen?«

»Ja­wohl! Hal­ten Sie den Mund!«

Mr. Bum­ble war sprach­los vor Ent­set­zen. Ei­nem Kirch­spiel­die­ner zu be­feh­len, den Mund zu hal­ten! Das hieß ja al­ler mensch­li­chen Moral ins Ge­sicht schla­gen!

Der alte Herr mit der Schild­patt­bril­le blick­te sei­nen Kol­le­gen an und nick­te be­zeich­nend.

»Wir ver­wei­gern, die­sen Kon­trakt zu be­stä­ti­gen«, sag­te er dann und schob das Pa­pier zur Sei­te.

»Ich will doch nicht hof­fen«, stam­mel­te Mr. Limbkins, »ich will doch nicht hof­fen, dass der hohe Ge­richts­hof der Mei­nung ist, der löb­li­che Ar­beits­vor­stand kön­ne auf das Zeug­nis die­ses Kin­des hin ir­gend­ei­ner ta­delns­wer­ten Hand­lung be­zich­tigt wer­den?«

»Ich sehe mich als Frie­dens­rich­ter nicht be­ru­fen, dar­über ir­gend­ei­ne Mei­nung ab­zu­ge­ben«, er­wi­der­te der alte Herr. »Neh­men Sie den Kna­ben wie­der mit heim und be­han­deln Sie ihn gut. Er scheint es sehr nö­tig zu ha­ben.«

Am sel­ben Abend noch gab der Gent­le­man mit der wei­ßen Wes­te nicht nur die po­si­ti­ve Ver­si­che­rung ab, Oli­ver wür­de be­stimmt noch ein­mal an den Gal­gen kom­men, son­dern er füg­te so­gar die Pro­phe­zei­ung hin­zu, man wer­de ihn vor­her noch schin­den und vier­tei­len. Auch Mr. Bum­ble schüt­tel­te ge­heim­nis­voll den Kopf und äu­ßer­te den Wunsch, Oli­ver wer­de sich der­einst im Le­ben noch bes­sern, wäh­rend Mr. Gam­field be­dau­er­te, ihn nicht in sei­ne Klau­en be­kom­men zu ha­ben. Am nächs­ten Mor­gen wur­de aber­mals durch einen An­schlag­zet­tel kund­ge­ge­ben, dass Oli­ver Twist »zu ha­ben sei«, und dass je­der, der ihn neh­men wol­le, da­für fünf Pfund be­käme.

1 Si­ne­ku­re (ver­kürzt zu la­tei­nisch sine cura ani­ma­rum »ohne Sor­ge für die See­len«, d. h. ohne Ver­pflich­tung zur Seel­sor­ge) be­zeich­net ein Amt, mit dem Ein­künf­te, aber kei­ne Amts­pflich­ten ver­bun­den sind. <<<