Dombey und Sohn

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Ehe der blödsichtige junge Mensch am nächsten Morgen die Metallplatte ertönen ließ, kam er zu Paul herauf und teilte ihm mit; daß er liegen bleiben dürfe, worüber Paul sehr froh war. Mrs. Pipchin besuchte ihn eine Weile vor dem Apotheker, und bald nachher kam die gute junge Frauensperson, die Paul an jenem ersten Morgen – wie lang schien ihm dies nicht her zu sein! – beim Reinigen des Ofens getroffen hatte. Sie brachte ihm sein Frühstück. Es fand wieder in weiter Entfernung eine abermalige Konsultation statt – wenn es nicht anders ein Traum unseres Paul war, und dann kam der Apotheker mit dem Doktor und Mrs. Blimber zurück.

»Ich denke, Doktor Blimber«, sagte er, »wir können diesen jungen Gentleman jetzt seiner Bücher entbinden, da ohnehin die Ferien nahe sind.«

»Ich habe durchaus nichts dagegen einzuwenden«, versetzte Doktor Blimber. »Meine Liebe, willst du die Güte haben, Cornelia davon zu unterrichten.«

»Soll geschehen«, entgegnete Mrs. Blimber.

Der Apotheker beugte sich nieder, betrachtete sorgfältig Pauls Augen, befühlte seinen Kopf, seinen Puls, sein Herz und tat alles dies mit so viel Teilnahme, daß Paul zu ihm sagte:

»Ich danke Euch, Sir.«

»Unser kleiner Freund hat nie über etwas geklagt.«

»Ich glaube es wohl«, versetzte der Apotheker. »Man durfte es auch nicht erwarten.«

»Ihr findet ihn viel besser?« fragte Doktor Blimber.

»O ja: er ist viel besser, Sir«, erwiderte der Apotheker.

Paul begann in der ihm eigentümlichen, seltsamen Weise sich Gedanken darüber zu machen, was wohl in jenem Augenblick den Sinn des Apothekers beschäftigen mochte; denn er sah so bedenklich aus, als er Doktor Blimbers beide Fragen beantwortete. Der Apotheker begegnete jedoch den Blicken seines kleinen Patienten, als sie eben diesen geistigen Spürgang antreten wollten, und ging aus seiner Zerstreutheit augenblicklich in ein heiteres Lächeln über, das Paul erwiderte, indem er seine früheren Gedanken darüber aufgab.

Den ganzen Tag lag er schlummernd und träumend in seinem Bett, während Mr. Toots nicht von seiner Seite wich: am nächsten aber stand Paul auf und ging die Treppe hinunter. Siehe da, es mußte etwas mit der großen Wanduhr vorgegangen sein, denn ein Mechanikus, der auf einem Trippel stand, hatte das Zifferblatt heruntergenommen und tastete bei dem Licht einer Kerze mit seinen Instrumenten in dem Werk herum. Dies war ein großes Ereignis für Paul, der sich auf der untersten Treppe niedergesetzt hatte und der Operation aufmerksam zusah. Hin und wieder schaute er nach dem Zifferblatt hin, das schräg an der Wand lehnte, und es wurde ihm ganz angst dabei, denn es kam ihm vor, als ob es ihn mit großen Augen angucke. Der Mechanikus auf dem Trippel war sehr höflich und fragte, als er Pauls ansichtig wurde: »Wie geht's dir?« Paul ließ sich in eine Unterhaltung mit ihm ein und erzählte ihm, daß er in letzter Zeit nicht ganz wohl gewesen sei. Nachdem das Eis in dieser Weise gebrochen war, stellte Paul eine Menge Fragen über Glockentöne und Uhren: ob wohl des Nachts Leute in den einsamen Kirchtürmen wachten und schlagen ließen, wie die Glocken läuteten, wenn Leute sterben, und ob es andere Glocken für Hochzeiten gebe, oder ob die ersteren nur in der Einbildung der Lebenden so unheimlich tönten. Als er fand, daß sein neuer Bekannter in betreff der Feuerlöschglocke alter Zeiten nicht sehr gut unterrichtet war, erteilte er ihm Auskunft darüber und fragte ihn auch als einen Praktiker über seine Gedanken von der Idee des Königs Alfred, der die Zeit durch Verbrennen von Kerzen messen wollte. Der Mechaniker meinte, wenn etwas der Art wieder aufkäme, so glaube er, daß das ganze Uhren-Handwerk darüber zugrunde gehen müßte. Und so sah Paul zu, bis die Uhr endlich wieder ihr gewöhnliches Aussehen gewonnen hatte und abermals ihre ruhige Frage aufnehmen konnte. Dann legte der Mechanikus sein Werkzeug in einen großen Korb, wünschte ihm guten Tag und entfernte sich – aber nicht eher, bis er auf der Türmatte dem Bedienten einige Worte zugeflüstert hatte, in denen der Ausdruck »altmodisch« vorkam. Paul hatte denselben ausdrücklich verstanden.

Was mochte wohl das »altmodisch« sein, das die Leute so zu bekümmern schien? Worin konnte es liegen?

Da er jetzt nicht mehr zu lernen hatte, machte er sich häufig Gedanken darüber, obschon nicht so oft, als vielleicht der Fall gewesen wäre, wenn er weniger zu denken gehabt hätte. Stoff dazu gab es übrigens in reicher Menge, und er sann stets den ganzen Tag vor sich hin.

Einmal sollte Florence zu der Abendgesellschaft kommen. Seine Schwester sah dann, wie die Knaben ihn liebten, und dies mußte sie glücklich machen. Hierin fand er ein ergiebiges Thema. Hatte Florence einmal die Überzeugung gewonnen, daß sie sich sanft und gütig gegen ihn benahmen, ja, daß er bei allen so beliebt war, so konnte sie stete an die Zeit denken, die er hier zugebracht hatte, ohne sich sehr darüber zu grämen. Florence war vielleicht dann glücklicher, wenn er wieder zurückkam.

Wenn er wieder zurückkam! Wohl fünfzigmal des Tages glitt sein lautloser kleiner Fuß die Treppe hinauf nach seinem kleinen Stübchen, wo er jedes Buch, jeden Streifen Papier, jede Kleinigkeit, die ihm zugehörte, sammelte, um alles mit nach Haus nehmen zu können. An dem kleinen Paul bemerkte man keinen Schatten, daß er ans Zurückkommen denke; keine Vorbereitungen, keine andere Beziehung darauf war aus allem, was er dachte oder tat, zu entnehmen, als die einzige kleine, die mit seiner Schwester in Verbindung stand. Im Gegenteil, wenn er in seiner beschaulichen Stimmung im Hause umherwandelte, gab ihm alles, was ihm bekannt war, so viel Stoff zum Nachdenken, als schiede er davon für immer – und der Gegenstände waren in der Tat so viele, daß sie ihn den ganzen Tag über in Anspruch nahmen.

Er mußte in die Stübchen droben hineinsehen und dachte sich dabei, wie einsam sie sein würden, wenn er fort sei; auch hätte er wohl wissen mögen, wie viele stumme Tage, Wochen, Monate und Jahre sie fortfahren würden, ebenso ernst und ruhig auszusehen. Er stellte Betrachtungen darüber an, ob wohl je ein anderes Kind, altmodisch, wie er selbst, zu irgendeiner Zeit darin herumgehen würde – ein Kind, dem sich dieselben wilden Verzerrungen der Tapeten und des Möbelwerks vergegenwärtigten: und ob wohl jemand diesem Knaben vom kleinen Dombey erzählen werde, der einmal hier gewesen.

Ferner trugen sich seine Gedanken mit einem Porträt im obern Stock, das ihm, wenn er wegging und über seine Schultern zurücksah, immer ernst nachblickte und stets nur ihn, nicht aber irgendeinen seiner Kameraden anzuschauen schien, wenn er in Gesellschaft mit andern daran vorbeikam. Dann nahm ihn auch ein Kupferstich sehr in Anspruch, der an einem andern Platze hing: im Mittelpunkt einer verwunderten Gruppe stand eine Figur, die er kannte – eine Figur mit einem Schein um den Kopf, wohlwollend, mild und barmherzig – sie stand da und deutete mit der Hand aufwärts.

An dem Fenster seines Schlafgemachs mischten sich mit diesen noch viele andere Gedanken: sie kamen einer um den andern, wie die rollenden Wellen. Wo lebten wohl die wilden Vögel, die stets auf der See draußen ob den aufgeregten Wogen schwebten; wo stiegen die Wolken auf und wo fingen sie an: woher kam der Wind in seinem rauschenden Flug und wo machte er halt: konnte wohl die Stelle, wo er und Florence so oft gesessen, diesen Dingen zugesehen und darüber gesprochen hatten, in ihrer Abwesenheit gerade so sein, wie sie stets war; konnte sie Florence so vorkommen, wenn er sich an einem andern Orte befand und sie allein dort saß?

Dann kamen ihm Gedanken an Mr. Toots, an Mr. Feeder, B. A., an alle die Knaben, an Doktor Blimber und an Miß Blimber, an die Heimat, an seine Tante und Miß Tox, an seinen Vater Dombey und Sohn, an Walter mit dem armen, alten Onkel, der das Geld erhalten hatte, das er brauchte, und an den Kapitän mit der eisernen Hand und der rauhen Stimme. Außerdem hatte er im Laufe des Tages eine Menge kleiner Visiten zu machen – im Schulzimmer, in dem Studierstübchen des Doktors Blimber, in dem Privatgemach der Mrs. Blimber, bei Miß Blimber und bei dem Hund. Denn er hatte jetzt das ganze Haus frei für sich und konnte darin umherstreifen, wie er wollte. Da er nun wünschte, von jedermann in Liebe zu scheiden, so schenkte er allem in der ihm eigentümlichen Art seine Aufmerksamkeit. Bisweilen suchte er klassische Stellen auf für Briggs, der sie nie finden konnte, zu andern Zeiten schlug er für die jungen Gentlemen, die sich nicht zu helfen wußten, Wörter in den Diktionären nach: ein andermal verrichtete er für Mrs. Blimber das Amt eines Garnhaspels, wieder einmal ordnete er Cornelias Pult, und bisweilen schlich er sogar in das Studierzimmer des Doktors, wo er sich neben den gelehrten Füßen auf den Teppich setzte und sachte die Globusse drehte, so daß er auf der ganzen Erde herumkam oder einen Flug über die entlegensten Sterne hin machte.

In den Tagen unmittelbar vor den Ferien – mit einem Worte, als die andern jungen Gentlemen darauf losarbeiteten, als gälte es ihr Leben, um die Studien des ganzen halben Jahres zu repetieren, war Paul ein so privilegierter Zögling, wie sich nie zuvor einer im Hause aufgehalten hatte. Er konnte kaum seinen Sinnen glauben; aber seine Freiheit dauerte von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, und der kleine Dombey wurde von jedermann geliebkost, Doktor Blimber nahm so viel Rücksicht auf ihn, daß er eines Tages Johnson aufforderte, er solle sich von der Speisetafel entfernen, weil er ihn unbedachtsamerweise als den »armen kleinen Dombey« angeredet hatte. Dies schien nun freilich unserem Paul ziemlich hart und streng, obschon er für den Augenblick errötet war und sich wunderte, warum wohl John ihn bemitleiden mochte. Diese Handhabung der Gerechtigkeit kam ihm um so bedenklicher vor, weil er abends zuvor mit eigenen Ohren gehört hatte, daß derselbe Doktor in eine Behauptung der Miß Blimber, der arme, liebe, kleine Dombey werde altmodischer als je, eingestimmt hatte. Jetzt fing denn Paul auch an zu glauben, das Altmodische müsse darin bestehen, wenn man sehr schmächtig sei, leicht müde werde und bald Lust zeige, sich irgendwo niederzulegen und auszuruhen: denn daß diese Gewohnheiten mit jedem Tag mehr und mehr bei ihm überhand nahmen, mußte er sich selbst eingestehen.

 

Endlich kam der Tag heran, an dem die Abendpartie stattfinden sollte, und Doktor Blimber sagte beim Frühstück: »Gentlemen, am fünfundzwanzigsten des nächsten Monats wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen,« Mr. Toots warf nun augenblicklich seine Vasallenschaft ab, steckte seinen Ring an den Finger, und als er kurz nachher im Gespräch des Doktors Erwähnung tat, sprach er von ihm nur als von »Blimber«. Dieses freie Benehmen erfüllte die übrigen Zöglinge mit Bewunderung und Neid: die jugendlicheren Gemüter aber entsetzten sich darob und schienen sich nicht genug wundern zu können, daß kein Blitzstrahl niederfuhr und ihn zerschmetterte.

Weder beim Frühstück noch beim Mittagessen wurde die Abendfeierlichkeit auch nur im mindesten berührt: aber den ganzen Tag über herrschte durch das Haus ein unruhiges Getümmel, und im Lauf seiner Spaziergänge machte Paul Bekanntschaft mit unterschiedlichen fremden Bänken und Leuchtern: auch bemerkte er eine Harfe, die in einem grünen Überrock auf dem Flur neben der Tür des Salons lehnte. Bei dem Mittagessen zeigte der Kopf von Mrs. Blimber etwas Absonderliches, als sei das Haar allzu knapp zusammengedreht worden, und obgleich Miß Blimber auf jeder Seite der Schläfe eine zierliche Lage gescheitelten Haares zeigte, schien sie doch ihre kleinen Locken darunter in Papier und noch obendrein in einen Komödienzettel gewickelt zu haben; denn Paul las: »königliches Theater« über dem einen, und »Brighton« über dem andern ihrer funkelnden Brillengläser.

Als der Abend herannahte, sah man in den Schlafzimmern der jungen Gentlemen eine reiche Schaustellung von weißen Westen und Halsbinden: auch verbreitete sich ein so widerlicher Geruch von versengtem Haar, daß Doktor Blimber durch den Bedienten sein Kompliment vermelden und die Erkundigung anstellen ließ, ob etwa das Haus in Brand geraten sei. Es war übrigens nur der Haarkünstler, der die jungen Gentlemen bediente und in dem Eifer des Geschäfts die Zange allzu heiß gemacht hatte.

Nachdem Paul angekleidet war – hierzu hatte man nicht lange gebraucht, denn er fühlte sich unwohl und schläfrig, so daß er außerstande war, viel an sich machen zu lassen – ging er nach dem Salon hinunter, wo er Doktor Blimber in voller Gala, aber in würdevoller und ungezwungener Haltung, als halte er es für rein unmöglich, daß nachgerade eine oder die andere Person hereintreten könnte, auf und ab spazierte. Bald nachher erschien Mrs. Blimber, die, wie es Paul vorkam, sehr lieblich aussah; sie hatte eine solche Unzahl von Röcken an, daß es eigentlich zu einer Aufgabe wurde, um sie herum zu gehen. Nach der Mama erschien Miß Blimber, zwar etwas zerdrückt in ihrem Äußern, aber doch sehr bezaubernd.

Die nächsten waren Mr. Tools und Mr. Feeder, von denen jeder den Hut in der Hand hatte, wie wenn er nicht im Hause wohnte, und als sie von dem Aufwärter angemeldet wurden, sagte Doktor Blimber: »So, so – dies ist ja sehr schön!« und schien außerordentlich erfreut zu sein, sie zu sehen. Mr. Tools funkelte von Geschmeide und Knöpfen, auch schien er dies selbst in so hohem Grade zu fühlen, daß er, nachdem er dem Doktor die Hand gereicht und sich gegen Mrs. Blimber und Miß Blimber verbeugt hatte, Paul beiseite nahm und ihn fragte:

»Was sagst du zu alledem, Dombey?«

Aber trotz dieses bescheidenen Selbstvertrauens schien doch Mr. Tools sehr darüber im unklaren zu sein, ob es überhaupt vernünftig sei, den untersten Knopf seiner Weste zuzumachen, oder ob er nach ruhiger Erwägung aller Umstände seine Manschetten zurück- oder niedergeschlagen tragen solle. Als er bemerkte, daß Mr. Feeder die seinigen in der ersteren Weise behandelt hatte, so folgte er dessen Beispiel: der nächste Ankömmling aber hatte die seinigen hängend, und dies war Grund genug für Mr. Toots, sich danach zu richten. Die Unterschiede im Punkte des Zuknöpfens der Weste nicht nur unten, sondern auch oben, wurden, je nachdem mehr und mehr Personen anlangten, so zahlreich und verwickelt, daß Mr. Toots unaufhörlich an diesem Anzugsartikel fingerte, als habe er ein Instrument zu spielen, und man sah ihm deutlich an, daß ihn die fortwährende Abänderung ganz aus der Fassung brachte.

Nachdem die jungen Gentlemen in ihren steifen Krawatten, gebrannten Locken, Tanzschuhen und ihren besten Hüten in den Händen zu verschiedenen Zeiten angekündigt und hineingeführt worden waren, erschien endlich auch Mr. Baps, der Tanzlehrer, in Begleitung von Mrs. Baps, gegen die sich Mrs. Blimber besonders wohlwollend und herablassend benahm. Mr. Baps war ein sehr ernster Gentleman von langsamer und abgemessener Redeweise; auch hatte er noch keine fünf Minuten unter der Lampe gestanden, als er sich an Mr. Toots, der stumm seine Tanzschuhe mit den eignen verglichen hatte, wendete und ihn fragte, was er wohl mit dem Rohmaterial anfange, wenn es für ausgelegtes gutes Gold in die Häfen komme. Mr. Toots, den die Frage zu verwirren schien, entgegnete, er würde es »kochen«; aber Mr. Baps machte darauf eine Miene, die andeutete, daß dies wohl nicht angehen würde.

Paul glitt nun von der gepolsterten Sofaecke, die bisher sein Beobachtungsposten gewesen, herunter und begab sich in das Teezimmer hinab, um gleich beim Eintritt Florence begrüßen zu können, die er fast vierzehn Tage nicht gesehen hatte. Doktor Blimber hatte ihn nämlich am letzten Sonnabend und Sonntag zu Hause behalten, damit er sich nicht erkälte. Sie ließ nicht lange auf sich warten und sah in ihrem einfachen Ballkleide mit den frischen Blumen in der Hand so schön aus, daß er es kaum über sich gewinnen konnte, sie wieder loszulassen und sich von ihren funkelnden liebevollen Augen abzuwenden, als sie vor dem Bruder niederkniete, seinen Hals umschlang und ihn küßte; denn es war niemand zugegen, als seine Freundin und ein anderes junges Mädchen, der man das Servieren des Tees übertragen hatte.

»Aber was ist dir, Floy?« fragte Paul, denn er glaubte, in ihren Augen eine Träne glänzen zu sehen.

»Nichts, mein Herz, nichts«, entgegnete Florence.

Paul berührte ihre Wangen sanft mit einem Finger, und es war wirklich eine Träne!

»Warum, Floy?« fragte er.

»Wir gehen jetzt miteinander nach Hause, und ich werde dich pflegen«, versetzte Florence.

»Mich pflegen?« wiederholte Paul.

Paul konnte nicht begreifen, was dies damit zu schaffen haben konnte, – ebensowenig, warum die beiden jungen Mädchen ihn mit so ernster Miene ansahen, oder warum Florence für einen Augenblick ihr Antlitz abwandte und es dann wieder, von einem Lächeln erhellt, ihm zukehrte.

»Floy«, sagte Paul, indem er eine Locke ihres dunkeln Haares in seiner Hand hielt, »sage mir aufrichtig, Liebe, bist auch du der Meinung, daß ich altmodisch geworden sei?«

Seine Schwester lachte, streichelte ihn und antwortete mit einem Nein.

»Ich weiß aber, daß die Leute so sagen«, entgegnete Paul, »und ich möchte wissen, was sie damit meinen, Floy.«

An der Tür ließ sich jetzt ein lauter Doppelschlag vernehmen, und Florence eilte nach dem Tisch, so daß dieser Gegenstand nicht weiter erörtert werden konnte. Paul verwunderte sich abermals, als er bemerkte, daß seine Freundin Florence zuflüsterte, wie wenn sie dieselbe trösten wollte; aber die nun anlangenden Gäste brachten ihn bald wieder auf andere Gedanken.

Sie bestanden aus Sir Barnet Skettles, Lady Skettles und Master Skettles. Master Skettles sollte nach den Ferien in die Anstalt eintreten, und in Mr. Feeders Zimmer war die Fama bereits in Beziehung auf dessen Vater tätig gewesen; denn Mr. Feeder hatte von letzterem gesagt, wenn er einmal den Sprecher ins Auge fasse – man erwartete schon drei oder vier Jahre lang, daß er dies tun werde – könne man im voraus darauf zählen, daß er die Radikalen schlimm mitnehme.

»Was ist z.B. dies für ein Zimmer?« fragte Lady Skettles Pauls Freundin Melia.

»Doktor Blimbers Studierzimmer, Ma'am«, lautete die Antwort.

Lady Skettles nahm durch ihr Glas eine panoramische Musterung vor und sagte mit beifälligem Nicken zu Sir Barnet Skettles:

»Sehr gut.«

Sir Barnet pflichtete bei, aber Master Skettles machte augenscheinlich eine bedenkliche, zweifelhafte Miene.

»Und dieses kleine Wesen da«, sagte Lady Skettles, sich zu Paul wendend – »ist er einer von den –«

»Jungen Gentlemen, Ma'am? Ja, Ma'am«, entgegnete Pauls Freundin.

»Und wie heißt du, blasses Kind?« fragte Lady Skettles. »Dombey«, antwortete Paul.

Nun ergriff Sir Barnet Skettles das Wort und sagte, er habe das Vergnügen gehabt, Pauls Vater bei einem öffentlichen Diner zu treffen – er hoffe, daß sich derselbe wohl befinde. Dann hörte ihn Paul zu Lady Skettles sagen: »City – sehr reich – höchst respektabel – der Doktor hat davon gesprochen.« Hierauf fuhr er gegen Paul fort:

»Willst du die Güte haben, deinem Papa zu sagen, daß Sir Barnet hocherfreut sei, von seinem Wohlbefinden Kunde erhalten zu haben, und daß er ihm seine besten Komplimente sende?«

»Ja, Sir«, antwortete Paul.

»Schön, mein wackerer Junge«, sagte Sir Barnet Skettles. »Barnet«, fügte er gegen Master Skettles gewendet hinzu, der sich für die künftigen Studien an dem Pflaumenkuchen rächte, »dies ist ein junger Gentleman, den du kennenlernen mußt. Dies ist ein junger Gentleman, Barnet, dessen Bekanntschaft du machen darfst«, schloß Sir Barnet Skettles, auf seine Erlaubnis einen großen Nachdruck legend.

»Welche Augen! Welches Haar! Welch ein liebliches Gesicht!« rief Lady Skettles in sanftem Tone, als sie Florence durch ihr Glas betrachtete.

»Meine Schwester«, sagte Paul, indem er sie vorstellte.

Die Freude der Skettlese war nun vollständig. Und da Lady Skettles sich dies beim eisten Augenblick gedacht hatte, weil sie Paul so gar ähnlich sehe, so gingen sie miteinander die Treppe hinauf. Sir Barnet Skettles nahm Florence unter seine Obhut, und der junge Skettles folgte.

Nachdem sie den Salon erreicht hatten, blieb der junge Barnet nicht länger im Hintergrund, denn Doktor Blimber hatte ihn sogleich veranlaßt, daß er mit Florence tanzte. Wie es Paul vorkam, schien er nicht besonders froh, sondern war im Gegenteil etwas störrisch und achtete nicht viel darauf, was er trieb; da aber der kleine Dombey Lady Skettles, während sie mit ihrem Fächer den Takt schlug, zu Mrs. Blimber sagen hörte, ihr lieber Knabe sei sichtlich in diesen Engel von einem Kind, in die Miß Dombey, sterblich verliebt, so mußte sich Skettles junior wohl in einem Glücksrausch befinden, ohne etwas davon merken zu lassen.

Dem kleinen Paul fiel es als merkwürdig auf, daß niemand seinen Sitz auf den Polstern eingenommen hatte, und daß, als er wieder ins Zimmer kam, alle ihm für den Rückweg Platz machten, sich daran erinnernd, daß es der seine sei. Auch trat niemand vor ihn hin, als man bemerkte, daß er Florence so gern tanzen sah, sondern der Raum vor ihm blieb ganz frei, so daß er ihr stets mit seinen Augen folgen konnte. Auch die Fremden, von denen bald viele eintrafen, benahmen sich sehr gütig gegen ihn, denn sie kamen häufig zu ihm, redeten ihn an und fragten ihn, wie er sich befinde, ob ihn der Kopf schmerze, und ob er müde sei. Für alle diese Aufmerksamkeiten fühlte er sich sehr verpflichtet, und er blieb, Mrs. Blimber und Lady Skettles auf dem gleichen Sofa neben sich, in seiner Ecke sitzen, während Florence, so oft sie einen Tanz beendigt hatte, eine Weile an seiner Seite Platz nahm. Bei solchen Gelegenheiten drückte sich das Gefühl des inneren Glücks auf seinem Gesichtchen aus.

Florence würde den ganzen Abend nicht von seiner Seite gewichen sein und aus eigenem Antrieb gar nicht getanzt haben; aber Paul bewog sie dazu, indem er ihr sagte, wie sehr es ihn freue, sie tanzen zu sehen. Auch hatte er hierin vollkommen die Wahrheit gesprochen, denn sein kleines Herz klopfte schneller, und sein Gesicht glühte, als er bemerkte, wie sie von allen bewundert wurde, und wie sie die einzige schöne Rosenknospe des Zimmers war.

Von seinem Nest in den Kissen aus konnte Paul fast alles, was vorging, sehen und hören, als ob das Ganze nur auf seine Unterhaltung berechnet sei. Unter andern kleinen Vorfällen bemerkte er, daß sich der Tanzmeister Mr. Baps mit Sir Barnet Skettles in ein Gespräch einließ und an denselben bald die gleiche Frage wie an Mr. Toots stellte, was er nämlich mit dem Rohmaterial anfinge, wenn es für gute Zahlung in Gold nach den Häfen gelange. Dies klang für Paul so geheimnisvoll, daß er gar zu gern gewußt hätte, was damit zu geschehen habe. Sir Barnet Skettles jedoch hatte auf diese Frage gar viel zu erwidern, wenngleich es nicht den Anschein hatte, als ob sie dadurch zur Lösung kommen sollte, denn Mr. Baps entgegnete:

 

»Ja, aber gesetzt der Fall, Rußland träte mit seinem Talg dazwischen?« Dies brachte Sir Barnet fast zum Verstummen, denn er konnte darauf bloß den Kopf schütteln und sagen: »Ja nun, dann müssen wir uns eben auf unsere Baumwolle werfen.«

Sir Barnet Skettles sah Mr. Baps nach, wie dieser sich entfernte, um Mrs. Baps aufzuheitern, die, ganz verlassen dastehend, tat, als mustere sie das Notenheft des Gentleman, der die Harfe spielte. Augenscheinlich hielt er ihn für einen merkwürdigen Menschen und erklärte dies bald nachher auch dem Doktor, zu dem er sagte, ob er sich wohl die Freiheit nehmen dürfe, zu fragen, wer dieser Herr sei und ob er wohl je in der Handelskammer gesessen habe. Der Doktor antwortete verneinend; er glaube nicht, daß dies der Fall sei, denn er kenne ihn bloß als einen Professor der –

»Einer mit der Statistik verwandten Wissenschaft – ich wollte darauf schwören!« bemerkte Sir Barnet Skettles.

»Dies gerade nicht, Sir Barnet«, versetzte Doktor Blimber, sich das Kinn reibend. »Nein, nicht ganz so.«

»Jedenfalls wollte ich eine Wette darauf eingehen, daß er sich auf Zahlen versteht«, sagte Sir Barnet Skettles.

»Das könnte sein, doch nicht in der Art, wie Ihr meint, Sir«, sagte Doktor Blimber. »Mr. Baps ist ein sehr würdiger Mann, Sir Barnet, und in der Tat nichts anderes, als unser Professor der Tanzkunst.«

Paul war nicht wenig erstaunt, wahrzunehmen, daß diese Mitteilung die Ansicht des Sir Barnet Skettles von Mr. Baps ganz und gar umwandelte, und daß Sir Barnet in eine richtige Wut geriet, und düstere Blicke zu Mr. Baps auf der andern Seite des Zimmers hinüberschoß. Ja, er ging sogar so weit, die Bitterkeit seines Herzens vor Lady Skettles auszuschütten, indem er ihr erzählte, was vorgefallen war, und sich über die unerhörte maßlose Unverschämtheit dieses Menschen ereiferte.

Noch etwas anderes fiel Paul auf. Nachdem nämlich Mr. Feeder etliche Kelche Glühwein zu sich genommen hatte, fing er an, warm zu werden. Der Tanz verlief im allgemeinen sehr formell, und die Musik erinnerte so ziemlich an die in der Kirche; aber nach besagten Kelchen bemerkte Mr. Feeder zu Mr. Toots, daß er nun ein bißchen Feuer in die Sache werfen wolle. Er fing nun nicht nur an zu tanzen, als sei er auf Tanzen erpicht, sondern suchte auch insgeheim die Musik anzuspornen, daß sie lustigere Weisen spiele. Auch wurde er sehr aufmerksam gegen die Damen, und als er mit Miß Blimber tanzte, flüsterte – ich sage flüsterte er ihr zu, obschon nicht so leise, daß nicht für Paul ein Stückchen merkwürdiger Poesie abgefallen wäre:

»Wär' treulos auch mein Herz erschaffen.

Euch könnt es kränken sicher nie!«

Dann hörte Paul ferner, wie er dieselben Worte der Reihe nach vor vier jungen Damen wiederholte. Wohl mochte der B.A. Grund haben, zu Mr. Toots zu sagen, er fürchte, er werde es morgen zu büßen haben.

Mrs. Blimber war ob diesem – beziehungsweise gesprochen – abscheulichen Benehmen etwas beunruhigt, namentlich aber ob der Änderung in dem Charakter der Musik, die jetzt Gassenhauer zu spielen begann, denn die Besorgnis lag nahe genug, es könnte dadurch bei Lady Skettles Anstoß erregt werden. Lady Skettles war jedoch so gütig, Mrs. Blimber zu bitten, sie möchte doch der Sache ja nicht erwähnen, und nahm die Erklärung, daß Mr. Feeders Temperament bei solchen Gelegenheiten gerne Sprünge mache, mit der größten Feinheit und Höflichkeit auf; er scheine ihr, sagte sie, für seine Stellung ein recht gebildeter Mensch zu sein, und namentlich gefalle ihr der anspruchslose Schnitt seines Haars, das, wie wir bereits angedeutet haben, ungefähr ein Viertel Zoll lang war.

Als einmal in dem Tanz eine Pause eintrat, bemerkte Lady Skettles zu Paul, er scheine ein großer Freund von Musik zu sein. Paul erwiderte, daß er Musik sehr liebe, und wenn es bei ihr auch der Fall sei, so sollte sie einmal seine Schwester Florence singen hören. Lady Skettles machte nun plötzlich die Wahrnehmung, daß sie vor Begierde fast sterbe, sich dieses Vergnügens zu erfreuen, und obgleich Florence anfangs sehr ängstlich war, als sie aufgefordert wurde, vor so vielen Leuten zu singen, und aufs dringendste um Entschuldigung bat, begab sie sich doch unverweilt an das Piano, als ihr Paul zurief:

»Ich bitte, tu es, Floy – um meinetwillen, Liebe!«

Alle traten nun ein wenig beiseite, um Paul die Aussicht nicht zu versperren, und als er das zarte Wesen allein dort sitzen sah – so jung, so wohlwollend, so schön und so liebevoll gegen ihn – als er hörte, wie ihre von Natur aus so süße Stimme, dieses goldene Kettenglied zwischen ihm und allem Glück, aller Liebe seines Lebens, das Schweigen brach, wandte er sein Gesicht ab, um seine Tränen zu verbergen. Nicht, wie er sagte, als man ihn darüber befragte, weil die Musik zu wehmütig und melancholisch war – nein, weil sie ihm so warm und lieb zu Herzen ging.

Sie alle liebten Florence. Wie hätten sie auch anders können? Paul hatte es voraus gewußt, daß es so kommen werde und müsse; und wie er so in seiner gepolsterten Ecke dasaß, die Hände ruhig gefaltet und das eine Bein leicht untergeschlagen, konnten sich nur wenige eine Vorstellung machen, welche süße Ruhe er empfand, oder welch einen Triumph, welches Entzücken seinen kindlichen Busen schwellte, während er zu ihr hinblickte. Von seiten sämtlicher Knaben klangen verschwenderische Lobpreisungen über »Dombeys Schwester« an sein Ohr, und auf jeder Lippe drückte sich Bewunderung der ruhigen, bescheidenen, kleinen Schönheit aus. Man sprach unaufhörlich von ihrem Verstand, von ihren Talenten, und wie von Sommernachtslüften getragen verbreitete sich ringsher eine Stimmung voll Sympathie für Florence und ihn – eine Stimmung, die beschwichtigend und rührend auf ihn einwirkte.

Er wußte nicht warum; denn alles, was der Knabe jenen Abend bemerkte, fühlte und dachte – Gegenwärtiges und Abwesendes – was er damals sah und was gewesen war, erschien ihm in dem bunten Farbenspiel des Regenbogens, in dem des Gefieders schöner Vögel, wenn sie von der Sonne beleuchtet werden, oder in dem weichen Lichte des Abendhimmels nach der untergegangenen Sonne. Die vielen Dinge, die in letzter Zeit seinen Geist beschäftigt hatten, schwebten in der Musik an ihm vorbei – nicht als ob sie abermals seine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen oder ihn je wieder beschäftigen wollten, sondern als Gegenstände, die friedlich vergangen und dahin sind. Ein einsames Fenster, durch das er vor Jahren geschaut hatte, wies hinaus auf einen Ozean, Meilen und Meilen weit; auf seinen Gewässern schlummerten die Phantasien, die ihn erst gestern noch so vielfach beschäftigt hatten, still und ruhig gleich abebbenden Wellen. Dasselbe geheimnisvolle Gemurmel, über das er sich so oft gewundert, wenn er am Gestade auf seinem Ruhebette lag, meinte er noch immer durch den Gesang seiner Schwester, durch das Gesumm der Stimmen und durch die Fußtritte zu hören: er schien teilzuhaben an den Gesichtern, die an ihm vorbeischwebten, und sogar an der schwerfälligen Gentilität des Mr. Toots, der häufig zu ihm kam, um ihm die Hand zu drücken. Er meinte, es zu hören durch das allgemeine Wohlwollen, das ihm zuteil wurde, und selbst der Ruf seines altmodischen Wesens schien damit in Verbindung zu stehen, obschon er nicht wußte, wie. So saß der kleine Paul sinnend, sinnend und horchend, zuschauend und träumend da; er fühlte sich sehr glücklich.

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